Verfahrensgang

OLG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 02.02.2022; Aktenzeichen 3 U 68/21)

LG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 05.03.2021; Aktenzeichen 2-28 O 264/18)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 3. Zivilsenats (Einzelrichter) des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 2. Februar 2022 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Gerichtskosten für das Revisionsverfahren werden nicht erhoben.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Rz. 1

Der Kläger begehrt - auch aus abgetretenem Recht seiner Ehefrau - von der Beklagten, einer Wertpapierhandelsbank, Schadensersatz unter dem Vorwurf der Fehlerhaftigkeit eines Börsenprospekts und ihrer Beteiligung an einer Marktmanipulation im Zusammenhang mit dem Börsengang der schwedischen Aktiengesellschaft "Trig Social Media AB" (im Folgenden: TSM) an der Frankfurter Wertpapierbörse (im Folgenden: FWB).

Rz. 2

Die TSM verfügte über ein Grundkapital von 72.750 €, das auf rund 363 Millionen Stammaktien mit einem Nennwert von 0,0002 € aufgeteilt war. In den Jahren 2009 bis 2013 war das Unternehmen nicht kommerziell tätig. Ab 2014 war Gesellschaftszweck der Betrieb der Social-Media-Plattform "trig.com". In Ergänzung der Plattform sollte die TSM einen "Cashback-Scanner" für Rückvergütungen im Online-Shopping entwickeln und anbieten.

Rz. 3

Am 17. Juli 2014 beantragte die Beklagte die Zulassung der TSM-Aktien zum Handel im regulierten Markt der Frankfurter Wertpapierbörse (im Folgenden: FWB). Anfang August 2014 folgte ein überarbeiteter Antrag. Den von der schwedischen Finanzaufsicht gebilligten Verkaufsprospekt notifizierte die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (im Folgenden: BaFin) am 1. September 2014. Die Beklagte ist darin als "Listing Agent" und "Beraterin des Prospekts" aufgeführt, hatte ihn aber nicht unterzeichnet. Am 9. September 2014 ließ die FWB die TSM-Aktien zum Handel zu. Der erste Handel fand am 18. September 2014 statt. Ein erster, mit der TSM abgestimmter, Ausgabepreis ("indikativer Quote") lag zwischen 2,81 € und 3,15 €. Die erste Order erfolgte über 8.500 Aktien zum Preis von 3,00 €.

Rz. 4

Der Kläger und seine Ehefrau erwarben am 30. März 2015 1.500 Aktien der TSM für 4.848,71 €, am 17. Juni 2015 wiederum 1.500 Aktien für 3.530,66 € und am 24. Juni 2015 weitere 2.000 Aktien für 2.323,71 €.

Rz. 5

Am 15. Juni 2015 erstattete die BaFin Strafanzeige wegen des Verdachts der Marktmanipulation.

Rz. 6

Der Kläger macht geltend, die Beklagte sei als emissionsbegleitende Bank am Prozess des Listings der TSM beteiligt gewesen, habe diese bei der Erstellung des Prospekts beraten und im Rahmen einer Due Diligence bewertet. Sie sei verpflichtet gewesen, den Prospekt zu unterzeichnen. Der Vorstand der Beklagten habe von der Überhöhung des Ausgabepreises gewusst oder habe diese jedenfalls erkennen müssen. Die Beklagte habe sich ein eigenes Bild von der Vermögenssituation der TSM machen müssen und sich nicht auf die Angaben der TSM verlassen dürfen. Der Kläger verlangt Erstattung der von ihm gezahlten Kaufpreise abzüglich des Erlöses aus dem Verkauf seiner Aktien in Höhe von 6,79 €.

Rz. 7

Die Klage ist in den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Begehren in vollem Umfang weiter.

 

Entscheidungsgründe

Rz. 8

Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

I.

Rz. 9

Der Einzelrichter des Berufungsgerichts hat angenommen, der Kläger habe gegen die Beklagte keinen Anspruch wegen Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit des Prospekts aus § 21 Abs. 1 WpPG a.F. i.V.m. § 5 Abs. 2 und 4 WpPG a.F., weil diese nicht prospektverantwortlich sei. Der Kläger habe auch keine Ansprüche gegen die Beklagte wegen Beihilfe zur Preismanipulation aus § 823 Abs. 2, § 830 Abs. 2, §§ 31, 831 BGB i.V.m. §§ 263, 27 StGB bzw. §§ 826, 830 Abs. 2 BGB. Es könne dahinstehen, ob der Vorstand der TSM potentielle Anleger gemäß § 826 BGB vorsätzlich sittenwidrig geschädigt habe, indem er von ihm gehaltene Aktien zu einem manipulativ überhöhten Preis verkauft habe, der eine realistische Gewinnchance von vornherein ausgeschlossen hätte. Jedenfalls sei eine Beihilfe hierzu durch eine Person, deren Handeln der Beklagten zuzurechnen wäre, nicht festzustellen.

Rz. 10

Der Einzelrichter hat die Zulassung der Revision mit einer Divergenz zu der am 16. Dezember 2021 verkündeten Entscheidung des "hiesigen Senats (Einzelrichterin)" mit dem Aktenzeichen 3 U 90/20 (= Parallelsache III ZR 13/22) begründet. Hierzu hat er ausgeführt, es lägen unterschiedliche Rechtsaufassungen vor "im Hinblick auf die abstrakte Rechtsfrage, ob einer Spezialistin, welche die Forderung eines bestimmten Quotes ohne eigene Überprüfung übernimmt, eine leichtfertige Verletzung der Berufspflichten nach §§ 85 ff der Börsenordnung vorgeworfen werden kann und ob sich daraus eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung aus §§ 826, 830 BGB ergibt".

II.

Rz. 11

Das angefochtene Urteil unterliegt schon deswegen der Aufhebung, weil es unter Verletzung des verfassungsrechtlichen Gebots des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) ergangen ist. Der Einzelrichter hätte die Sache gemäß § 526 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO dem Berufungsgericht zur Entscheidung über eine Übernahme vorlegen und das Berufungsgericht hätte das Verfahren nach § 526 Abs. 2 Satz 2 übernehmen müssen, da sich aus einer wesentlichen Änderung der Prozesslage die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache ergeben hatte. Dieser Verstoß ist im vorliegenden Fall ungeachtet der Regelung des § 526 Abs. 3 ZPO sowie von Amts wegen zu berücksichtigen.

Rz. 12

1. a) Gemäß § 526 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO legt der Einzelrichter, dem die Sache gemäß § 526 Abs. 1 ZPO zur Entscheidung übertragen worden ist, den Rechtsstreit dem Berufungsgericht, das heißt dem vollbesetzten Spruchkörper, zur Entscheidung über eine Übernahme vor, wenn sich aus einer wesentlichen Änderung der Prozesslage besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten oder die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache ergeben. Liegen diese Voraussetzungen vor, ist der Einzelrichter zur Vorlage des Rechtsstreits verpflichtet (vgl. Senat, Urteil vom 7. Februar 2019 - III ZR 38/18, NJW-RR 2019, 942 Rn. 10; BGH, Urteil vom 16. Juli 2003 - VIII ZR 286/02, NJW 2003, 2900, 2901; vgl. auch die st. Rspr. zu § 568 ZPO; vgl. BGH, Beschlüsse vom 13. März 2003 - IX ZB 134/02, BGHZ 154, 200, 202; vom 10. November 2003 - II ZB 14/02, NJW 2004, 448, 449 und vom 28. Januar 2022 - VI ZB 13/20, NJW-RR 2022, 570 Rn. 5 mwN; zu § 17a Abs. 4 Satz 4 GVG vgl. Senat, Beschluss vom 27. Oktober 2005 - III ZB 66/05, NJW-RR 2006, 286 Rn. 3) und das Berufungsgericht hat ihn gemäß § 526 Abs. 2 Satz 2 ZPO zu übernehmen (vgl. MüKo-ZPO/Rimmelspacher, 6. Aufl. 2020, § 526 Rn. 24; Stein/Jonas/Althammer, 23. Aufl. 2018, § 526 Rn. 12).

Rz. 13

Eine grundsätzliche Bedeutung im Sinne dieser Vorschrift liegt nicht nur in den Fällen des § 511 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 beziehungsweise § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO vor. Vielmehr umfasst der Begriff der grundsätzlichen Bedeutung in § 526 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO ebenso wie in § 348 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, § 348a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, § 526 Abs. 1 Nr. 3 und § 568 S. 2 Nr. 2 ZPO neben der grundsätzlichen Bedeutung im engeren Sinn auch die in § 511 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 ZPO genannten Fälle der Rechtsfortbildung und der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (vgl. BT-Drucks. 14/4722, S. 99; BGH, Beschlüsse vom 13. März 2003 aaO; vom 11. September 2003 - XII ZB 188/02, NJW 2003, 3712 und vom 18. September 2003 - V ZB 53/02, NJW 2004, 223). Grundsätzliche Bedeutung haben auch die Fälle der sogenannten Innendivergenz, das heißt die Fälle, in denen innerhalb eines Spruchkörpers unterschiedliche Auffassungen über die Beurteilung der Sach- oder Rechtslage bestehen (vgl. BT-Drucks. aaO; Musielak/Voit/Ball, ZPO, 19. Aufl., § 526 Rn. 8; Stein/Jonas/Althammer aaO; Wieczorek/Schütze/Gerken, ZPO, 5. Aufl., § 526 Rn. 16). Das Ziel der Rechtseinheitlichkeit, dem die Zivilprozessordnung durch vielfältige Regelungen Rechnung trägt, dient der Rechtssicherheit (vgl. BT-Drucks. aaO S. 64) und schützt das Vertrauen der Bürger in den Rechtsstaat, indem schwer erträgliche Unterschiede in der Rechtsprechung vermieden werden sollen (vgl. BT-Drucks. aaO S. 104).

Rz. 14

Weitere Voraussetzung für die Vorlage und Rückübernahme gemäß § 526 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 ZPO ist, dass die grundsätzliche Bedeutung sich aus einer wesentlichen Änderung der Sach- und Rechtslage seit der Übertragung auf den Einzelrichter ergeben hat. Hält das Kollegium die Sache nicht für rechtsgrundsätzlich und überträgt es sie deshalb an den Einzelrichter, kann dieser sie dem vollbesetzten Spruchkörper nicht schon deshalb wieder zu einer Übernahmeentscheidung vorlegen, weil er sie, anders als das Kollegium, für grundsätzlich hält. Eine wesentliche Änderung der Prozesslage muss hinzukommen (vgl. Senat, Urteil vom 7. Februar 2019 aaO; BGH, Urteile vom 16. Juli 2003 aaO; vom 25. Oktober 2012 - IX ZR 117/11, NJW-RR 2013, 161 Rn. 32 und vom 18. November 2016 - V ZR 221/15, NJW-RR 2017, 260 Rn. 7; BGH, Beschluss vom 11. Februar 2004 - XII ZB 158/02, BGHZ 158, 74, 76). Fehlt ein solcher Rückübertragungsgrund, ist der Einzelrichter weiterhin der gesetzliche Richter und daher auch befugt, die Revision zuzulassen. Das Ziel einer zügigen Verfahrenserledigung geht in diesem Fall dem Bestreben des Gesetzgebers, die Zulassung der Revision durch einen Einzelrichter grundsätzlich auszuschließen (vgl. BT-Drucks. aaO S. 99; BGH, Urteile vom 18. Januar 2013 - V ZR 88/12, ZWE 2013, 131 Rn. 5 und vom 18. November 2016 aaO Rn. 6), vor.

Rz. 15

b) § 526 Abs. 3 ZPO schließt allerdings grundsätzlich eine Überprüfung der Entscheidung über die Übertragung, Vorlage oder Übernahme der Sache aus. Dieses Nachprüfungsverbot schützt die Zulassung der Revision durch das Kollegium, damit nicht trotz Bindung an die Zulassung geltend gemacht werden kann, die Sache sei nicht grundsätzlich und daher vom Berufungsgericht in falscher Besetzung entschieden worden. Es schützt ferner die sachliche Nachprüfbarkeit von Einzelrichterentscheidungen in den Fällen, in denen der Einzelrichter ohne Willkür von einer Vorlage der Sache an den Spruchkörper gemäß § 526 Abs. 2 ZPO abgesehen hat (vgl. BGH, Beschluss vom 13. März 2003 aaO, S. 204 zu § 568 Satz 3 ZPO). § 526 Abs. 3 ZPO greift jedoch dann nicht ein, wenn die Entscheidung auf Willkür beruht, weil in einem solchen Fall eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG vorliegt (vgl. BGH, Urteil vom 18. November 2016 aaO Rn. 7; Wieczorek/Schütze/Gerken aaO Rn. 20; vgl. auch BGH, Beschluss vom 25. November 2015 - XII ZB 105/13, MDR 2016, 413 Rn. 9 zu § 68 FamFG; in diese Richtung auch bereits BGH, Urteil vom 12. Dezember 2006 - VI ZR 4/06, BGHZ 170, 180 Rn. 5). Aus diesem Grund ist auch eine Heilung des Verstoßes gemäß § 295 ZPO nicht möglich (vgl. BGH, Urteile vom 16. Oktober 2008 - IX ZR 183/06, NJW 2009, 1351 Rn. 13 und vom 15. Oktober 2013 - II ZR 112/11, juris Rn. 7; MüKo-ZPO/Prütting, 6. Aufl., § 295 Rn. 22, jew. mwN).

Rz. 16

2. Ein nach diesen Maßstäben im Revisionsverfahren zu berücksichtigender Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG liegt vor.

Rz. 17

a) Der Einzelrichter hätte das Verfahren gemäß § 526 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO dem Berufungssenat zur Übernahme vorlegen müssen, statt zur Sache zu entscheiden und die Revision zwecks Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen.

Rz. 18

Zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Entscheidung am 2. Februar 2022 bestand innerhalb des Senats eine Divergenz hinsichtlich der Beurteilung der Sach- und Rechtslage. Während der Einzelrichter in dem vorliegenden Rechtsstreit das Vorgehen der Beklagten nicht als eine vorsätzliche Beihilfe zu den Manipulationen des Vorstands der TSM beurteilt hat, ist die Einzelrichterin in dem Parallelverfahren 3 U 90/20 (= III ZR 13/22) von einer Haftung der Beklagten aus diesem Rechtsgrund ausgegangen.

Rz. 19

Auch die weitere Voraussetzung für die Rückgabe einer Sache an den vollbesetzten Spruchkörper, dass der nach § 526 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO maßgebliche Umstand nach der Übertragung auf den Einzelrichter eingetreten ist, ist erfüllt. Divergierende Entscheidungen bereits zum Zeitpunkt der Übertragung der Sache auf den Einzelrichter am 25. Oktober 2021 sind nicht ersichtlich. Die Innendivergenz ist erst dadurch eingetreten, dass der Einzelrichter des vorliegenden Verfahrens sich entschloss, von der Würdigung der Sach- und Rechtslage durch die Einzelrichterin des Parallelverfahrens in deren Urteil vom 16. Dezember 2021 abzuweichen.

Rz. 20

b) Die Sache gleichwohl nicht dem Berufungssenat vorzulegen, war objektiv willkürlich. Bei der Annahme von Willkür ist allerdings Zurückhaltung geboten. Nicht jede entgegen § 526 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO unterlassene Vorlage rechtfertigt diesen (objektiven) Vorwurf. Die Besonderheiten der vorliegenden Fallgestaltung zwingen indessen zu einer solchen Würdigung.

Rz. 21

Der Einzelrichter hat, wie seine Begründung der Zulassung der Revision zeigt, im Ausgangspunkt zwar erkannt, dass eine einheitliche Würdigung des Vorgehens der Beklagten im Zusammenhang mit der Börseneinführung der TMS-Aktien nicht gewährleistet war. Er hat jedoch verkannt, dass die Einheitlichkeit der Rechtsprechung (zunächst) im Wege der Vorlage gemäß § 526 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO und nicht durch die Zulassung der Revision herbeizuführen war, weil eine Divergenz innerhalb des Berufungssenats nach der Übertragung der Sache an ihn entstanden war. Ungeachtet dessen, dass der Einzelrichter auch den Pflichtenkreis der Beklagten abweichend von dem Urteil der Einzelrichterin vom 16. Dezember 2021 gesehen hat, beruht seine Beurteilung, dass der gegen die Beklagte erhobene Vorwurf der Teilnahme (§ 830 Abs. 1 Satz 1 BGB) an einem deliktischen Verhalten des Vorstands der TMS nicht zutreffend ist, vor allem auch auf einer Würdigung der Einzelfallumstände, die in erster Linie dem Tatrichter obliegt und vom Revisionsgericht nur eingeschränkt überprüfbar ist (vgl. BGH, Urteil vom 13. Juli 2004 - VI ZR 136/03, NJW 2004, 3423, 3425 mwN). Demzufolge bedeutete die unterbliebene Vorlage der Sache an das Kollegium des Berufungssenats eine schwerwiegende, objektiv unhaltbare Verkürzung der Angriffsmittel des Klägers - wie im Übrigen auch der Verteidigungsmöglichkeiten der Beklagten. Die Zulassung der Revision gleicht dies wegen des hinsichtlich der tatrichterlichen Würdigung eingeschränkten Prüfungsmaßstabs nicht aus.

Rz. 22

Sollte der Einzelrichter von einem engeren Verständnis der grundsätzlichen Bedeutung im Sinne des § 526 Abs. 2 Satz 1 Nr.1 ZPO ausgegangen sein, ist dies unerheblich, weil die Frage, ob Willkür vorliegt, anhand objektiver Kriterien festzustellen ist (vgl. BVerfGE 80, 48, 51; 89, 1, 13 f; 96, 189, 203; BGH, Beschluss vom 7. Oktober 2004 - V ZR 328/03, NJW 2005, 153). Dass sich der Zulassungsgrund erst nach dem Übertragungsbeschluss ergeben hat, lag ebenfalls auf der Hand.

Rz. 23

3. Den Verstoß gegen das Verfassungsgebot des gesetzlichen Richters hat der Senat von Amts wegen zu berücksichtigen.

Rz. 24

Zwar hat die Rechtsprechung in den Fällen des § 551 Nr. 1 ZPO a.F. (nunmehr § 547 Nr. 1 ZPO) eine Besetzungsrüge verlangt (vgl. Senat, Urteil vom 16. März 1964 - III ZR 85/63, BGHZ 41, 249, 254 sowie Beschluss vom 26. März 1986 - III ZR 114/85, NJW 1986, 2115; BGH, Urteil vom 20. Juni 1991 - VII ZR 11/91, NJW 1992, 512). Daran ist auch grundsätzlich festzuhalten (vgl. BGH, Beschluss vom 13. März 2003 aaO S. 203). Die den vorzitierten Entscheidungen zugrunde liegenden Konstellationen betrafen die Verkündung des Urteils eines Spruchkörpers durch einen anderen und daher unzuständigen Spruchkörper (Senat, Urteil vom 16. März 1964 aaO), die Rüge, der planmäßige Senatsvorsitzende sei nicht gehindert gewesen, die zum Berufungsurteil führende mündliche Verhandlung zu leiten (Senat, Beschluss vom 26. März 1986 aaO), sowie die Rüge, der Senat eines Oberlandesgerichts sei deshalb nicht ordnungsgemäß besetzt gewesen, weil ein Hilfsrichter mitgewirkt habe, der nur wegen einer allgemeinen Beförderungssperre noch nicht in eine Planstelle habe eingewiesen werden können (BGH, Urteil vom 20. Juni 1991 aaO). Diesen Fällen war gemein, dass die gerügten Besetzungsfehler auf den Rechtsmittelzug keinen Einfluss hatten (vgl. BGH, Beschluss vom 13. März 2003 aaO).

Rz. 25

Der Bundesgerichtshof hat indes im Hinblick auf die § 526 Abs. 3 ZPO entsprechende Regelung des § 568 Satz 3 ZPO bereits dargelegt, dass die entschiedenen Fälle mit der willkürlichen Zuständigkeitsüberschreitung des originären Einzelrichters im Beschwerdeverfahren bei Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung nicht vergleichbar sind und es dort der Erhebung einer Verfahrensrüge nicht bedarf (vgl. BGH aaO sowie Beschluss vom 25. November 2015 aaO Rn. 9; aA MüKo-ZPO/Rimmelspacher, 6. Aufl. 2020, ZPO § 526 Rn. 32). Die vorgenannten Fallgestaltungen weichen grundlegend von der Entscheidung eines Einzelrichters ab, der von der Rechtsprechung seines Spruchkörpers abweichen will oder der eine uneinheitliche Rechtsprechung innerhalb dieses Spruchkörpers erkennt, gleichwohl von einer Vorlage der Sache an den Spruchkörper absieht und stattdessen die Revision zulässt. Zu Vorgehen eines Einzelrichters im Beschwerdeverfahren hat der Bundesgerichtshof ausgeführt, es bestehe ein öffentliches Interesse an der Wahrung der Funktionsfähigkeit des für die Klärung von Rechtsfragen mit grundsätzlicher Bedeutung eingeführten Rechtsbeschwerdeverfahrens. Wenn dieses Verfahren die ihm vom Gesetzgeber zugewiesene Aufgabe erfüllen solle, müsse das Rechtsbeschwerdegericht auch von Amts wegen darauf achten, dass in der Beschwerdeinstanz nicht unter Verletzung des Verfahrensgrundrechts auf den gesetzlichen Richter die Zuständigkeitsverteilung zwischen Einzelrichter und Kollegium verschoben werde (vgl. BGH, Beschluss vom 13. März 2003 aaO unter Verweis auf BAG, NJW 1962, 318). Diese Erwägungen gelten in gleicher Weise bei einer willkürlichen Verhinderung einer Entscheidung durch den vollbesetzten Spruchkörper im Berufungsverfahren.

Rz. 26

Es kommt bei der vorliegenden Fallgestaltung hinzu, dass zuvörderst der Berufungssenat selbst berufen ist, die Einheitlichkeit der Rechtsprechung innerhalb seines Spruchkörpers zu wahren. § 21f GVG stellt diesen unter die Leitung eines Vorsitzenden, dem es unter anderem obliegt, auch kraft seines richtungsweisenden Einflusses auf die Rechtsprechung (vgl. BGH, Beschlüsse des Großen Senats für Zivilsachen vom 19. Juni 1962 - GSZ 1/61, BGHZ 37, 210, 213 und vom 20. November 1967 - GSZ 1/67, BGHZ 49, 64, 65 f sowie Beschlüsse vom 22. April 1983 - RiZ (R) 4/82, BGHZ 88, 1, 6 und vom 14. Januar 1991 - RiZ (R) 5/90, NJW 1992, 46, 47) die Einheitlichkeit der Rechtsprechung seines Spruchkörpers zu gewährleisten (vgl. BGH, Urteil vom 12. März 2015 - VII ZR 173/13, NJW 2015, 1685 Rn. 34 und vom 5. Oktober 2016 - XII ZR 50/14, NJW-RR 2017, 635 Rn. 13; Beschluss vom 14. Januar 1991 aaO; BeckOK GVG/Valerius, 16. Ed. 15.8.2022, GVG § 21f Rn. 1). Diese Aufgabe kann er nur dann erfüllen, wenn das Kollegium in voller Besetzung in solchen Rechtssachen entscheidet, bei denen intern im Senat bestehende unterschiedliche Rechtsauffassungen zum Tragen kommen. Das Vorgehen des Einzelrichters beschädigt damit nicht nur die Funktionalität des Revisionsverfahrens, sondern zugleich in besonderer Weise auch jene des Spruchkörpers.

III.

Rz. 27

Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Dieses wird sich auch mit den von der Revision erhobenen Sachrügen befassen müssen, auf die einzugehen der Senat zum derzeitigen Verfahrensstand keine Veranlassung hat.

Rz. 28

Wegen der durch die Revision angefallenen Gerichtskosten macht der Senat von der Möglichkeit des § 21 Abs. 1 Satz 1 GKG Gebrauch.

Herrmann     

Remmert     

Arend

Böttcher     

Kessen     

 

Fundstellen

Dokument-Index HI15507876

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