Leitsatz (amtlich)

Einer mittellosen Partei darf nicht deshalb die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Begründung der Berufung versagt werden, weil sie das Prozesskostenhilfegesuch erst kurz vor Ablauf der (verlängerten) Begründungsfrist eingereicht hat. Das gilt auch dann, wenn das Gesuch erst nach einem Mandatswechsel durch den neuen Prozessbevollmächtigten gestellt wird und dieser seine weitere Tätigkeit von der Gewährung der Prozesskostenhilfe abhängig gemacht hat (im Anschl. an BGHZ 38, 376).

 

Normenkette

ZPO §§ 233, 520 Abs. 2 S. 3

 

Verfahrensgang

OLG Karlsruhe (Beschluss vom 23.06.2003; Aktenzeichen 19 U 55/02)

LG Konstanz (Urteil vom 14.02.2002)

 

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers wird der Beschluss des OLG Karlsruhe - 19. Zivilsenat in Freiburg - v. 23.6.2003 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als wegen der Versäumung der Frist zur Begründung der Berufung gegen das Urteil der 3. Kammer für Handelssachen des LG Konstanz mit Sitz in Villingen-Schwenningen v. 14.2.2002 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand versagt und die Berufung als unzulässig verworfen worden ist.

Dem Kläger wird gegen die Versäumung der Frist zur Begründung der Berufung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.

Die Sache wird zur weiteren Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Beschwerdewert: 75.624,96 EUR

 

Gründe

I. Der Kläger macht als Konkursverwalter einer GmbH (Gemeinschuldnerin) gegen den Beklagten zu 1) als deren ehemaligen Gesellschafter und die Beklagte zu 2) als Mitverpflichtete aus einem Darlehen Zahlungsansprüche wegen ungerechtfertigter Bereicherung und Verstoßes gegen das Kapitalerhaltungsgebot geltend; der Beklagte zu 1) verlangt im Wege der Widerklage vom Kläger Schadensersatz.

Nachdem dem Kläger Prozesskostenhilfe bewilligt worden war, hat das LG Klage und Widerklage abgewiesen. Gegen das ihnen am 19.2.2002 zugestellte LGurteil haben die erstinstanzlichen Prozessbevollmächtigten des Klägers - die mit ihm in überörtlicher Sozietät verbundenen Rechtsanwälte E. und Partner - fristgerecht am 18.3.2002 Berufung eingelegt und zugleich angezeigt, dass sie den Kläger auch in der Berufungsinstanz vertreten. Auf ihren Antrag v. 16.4.2002 wurde die Berufungsbegründungsfrist bis zum 19.5.2002 verlängert; die Beklagten widersprachen daraufhin vorsorglich einer weiteren Fristverlängerung. Am 10.5.2002 zeigte Rechtsanwalt Dr. Er. als Mitglied der Sozietät B. und Partner die Vertretung des Klägers im Berufungsrechtszug an und teilte zugleich die Beendigung des Mandats der früheren Bevollmächtigten mit; außerdem beantragte er - formal ordnungsgemäß - Prozesskostenhilfe für den Kläger, wobei er darauf hinwies, zur Übernahme des Mandats nur unter der Voraussetzung ihrer Bewilligung bereit zu sein. Ein gleichzeitig gestelltes Gesuch um weitere Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist wurde im Hinblick auf die fehlende Zustimmung der Beklagten am 15.5.2002 zurückgewiesen. Nachdem dem Kläger durch Beschluss des Berufungsgerichts v. 21.6.2002 Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt Er. bewilligt worden war, hat dieser durch Schriftsatz v. 10.7.2002 fristgerecht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und zugleich die Berufung begründet. Der Beklagte zu 1) hat mit am 30.9.2002 bei Gericht eingegangenem Schriftsatz Anschlussberufung gegen das LGurteil eingelegt. Das Berufungsgericht hat die Berufung als unzulässig verworfen und den Wiedereinsetzungsantrag in den Beschlussgründen zurückgewiesen; zugleich hat es die Kosten des Berufungsverfahrens dem Kläger und in der Annahme, der Beklagte zu 1) habe die Frist zur Anschließung versäumt, diesem nach Maßgabe des anteiligen Misserfolgs ihrer wechselseitigen Rechtsmittel auferlegt.

Gegen diesen Beschluss wendet sich der Kläger mit der Rechtsbeschwerde, mit der er sein Berufungsbegehren weiterverfolgt.

II. Die fristgerecht eingelegte Rechtsbeschwerde ist statthaft (§ 574 Abs. 1 Nr. 1 ZPO i.V.m. §§ 522 Abs. 1 S. 4, 238 Abs. 2 ZPO) und auch im Übrigen zulässig. Zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung ist eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts geboten (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO).

Die Rechtsbeschwerde ist begründet, weil der Kläger ohne sein Verschulden gehindert war, seine Berufung innerhalb der bis zum 19.5.2002 verlängerten Berufungsbegründungsfrist zu begründen (§ 233 ZPO).

1. Das Berufungsgericht hat seine gegenteilige Auffassung im Wesentlichen darauf gestützt, dass der Kläger - zumal selbst Rechtsanwalt - gehalten gewesen sei, das ihm bekannte Hindernis der Mittellosigkeit durch rechtzeitige Stellung eines Prozesskostenhilfeantrags schon während des Laufs der gesetzlichen Berufungsbegründungsfrist auszuräumen, so dass es noch innerhalb der verlängerten Frist hätte beschieden und damit ein Wiedereinsetzungsverfahren hätte vermieden werden können. Das Untätigbleiben bis zum Anwaltswechsel wie auch die Beendigung des Mandats seiner ursprünglichen Bevollmächtigten legten ein Verschulden an der Fristversäumung unbeschadet der Mittellosigkeit nahe.

2. Diese Auffassung hält der rechtlichen Überprüfung nicht stand. Durch die Überspannung der zeitlichen Anforderungen bewirkt sie für die i.S.d. § 114 ZPO arme Partei eine unzumutbare Verkürzung der jedem Rechtsmittelkläger eingeräumten Möglichkeit zur eingehenden Überlegung und sorgfältigen Begründung des Rechtsmittels. Damit hat das OLG dem Kläger die Durchführung des Berufungsverfahrens in einer von höchstrichterlicher Rechtsprechung abweichenden Weise unzulässig erschwert und so dessen Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip, vgl. BVerfG v. 2.12.1987 - 1 BvR 1291/85, BVerfGE 77, 275 [284] = MDR 1988, 464; v. 5.8.2002 - 2 BvR 1108/02, NJW 2003, 281) verletzt.

a) Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH kann eine unbemittelte Partei, für die ein Anwalt zwar formularmäßig Berufung eingelegt hat, ohne sie zu begründen, die aber keinen Prozessbevollmächtigten hat, der gewillt ist, für sie weiter tätig zu werden, selbst am letzten Tag der Rechtsmittelbegründungsfrist noch ein Prozesskostenhilfegesuch einreichen mit der Folge, dass die Berufung nicht deshalb verworfen werden darf, weil innerhalb der Begründungsfrist noch keine Berufungsbegründung eingereicht wurde (st.Rspr. seit BGHZ 38, 376 [377 f.]; Beschl. v. 3.12.2003 - VIII ZB 80/03, BGHReport 2004, 623 f. = MDR 2004, 588). Maßgebliche Erwägung für diese Rechtsprechung ist, dass die Begründungsfrist auch dem mittellosen Rechtsmittelkläger die Möglichkeit sorgfältiger Begründung geben soll. Da die mittellose Partei häufig nur auf Grund eines eingehend vorbereiteten und begründeten Gesuchs mit einer Bewilligung der Prozesskostenhilfe rechnen kann, würde für sie im Ergebnis diese Frist unzumutbar abgekürzt, wenn sie gezwungen wäre, das mit einer Begründung versehene Prozesskostenhilfegesuch so zeitig vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist zu stellen, dass der beigeordnete Rechtsanwalt in der Lage ist, vor Fristablauf tätig zu werden und das Rechtsmittel zu begründen. Eine Abkürzung der Überlegungsfrist für die unbemittelte Partei lässt sich umso weniger rechtfertigen, als die Gerichte wegen ihrer starken Belastung i.d.R. gar nicht in der Lage sind, selbst über ein frühzeitig gestelltes Prozesskostenhilfegesuch rechtzeitig vor Ablauf der Frist zu entscheiden. Vor allem aber würde es zu erheblicher Rechtsunklarheit und -unsicherheit führen, wenn die Gerichte für die Einreichung des Prozesskostenhilfegesuchs je nach der Lage des Einzelfalls unterschiedliche Fristen berechnen würden; das Gebot der Rechtssicherheit erfordert es daher, - ebenso wie bei der Rechtsmitteleinlegung (vgl. dazu: BGHZ 16, 1 [3 f.]) - auf eine solche besondere Frist für die Beantragung der Prozesskostenhilfe ganz zu verzichten und der unbemittelten Partei zu gestatten, ihr Gesuch bis zum Ablauf der Rechtsmittelbegründungsfrist einzureichen (BGHZ 38, 376 [378]).

Von diesen höchstrichterlichen Rechtsprechungsgrundsätzen ist das Berufungsgericht in unzulässiger Weise schon dadurch abgewichen, dass es den Kläger trotz der Verlängerung der Begründungsfrist für verpflichtet gehalten hat, den Prozesskostenhilfeantrag bereits innerhalb der gesetzlichen Frist des § 520 Abs. 2 ZPO zu stellen, umso frühzeitig das Hindernis der Mittellosigkeit zu beheben und ein Wiedereinsetzungsverfahren zu vermeiden. Mit dieser Vorverlagerung der Pflicht zur Einleitung des Prozesskostenhilfeverfahrens werden die vorstehenden Rechtsprechungsgrundsätze durchbrochen und wird die betreffende mittellose Partei schlechter gestellt als ein nicht auf Prozesskostenhilfe angewiesener Rechtsmittelkläger.

b) Die vorliegende Besonderheit des Mandatswechsels innerhalb des Laufes der verlängerten Frist beseitigt die Ursächlichkeit (vgl. dazu auch BGH, Beschl. v. 24.6.1999 - V ZB 19/99, MDR 1999, 1285 = NJW 1999, 3271) der Mittellosigkeit für die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist nicht und rechtfertigt deshalb keine Abweichung von dem genannten höchstrichterlichen Rechtsprechungsgrundsatz.

Das Berufungsgericht geht - insoweit zutreffend - selbst davon aus, dass die (unverschuldete) Mittellosigkeit der vom Kläger verwalteten Vermögensmasse (§ 116 ZPO) dafür ursächlich geworden ist, dass die Berufungsbegründung durch ihren jetzigen zweitinstanzlichen Prozessbevollmächtigten Rechtsanwalt Dr. Er. erst nach Ablauf der verlängerten Berufungsbegründungsfrist erfolgen konnte, weil dieser - in zulässiger Weise - die Mandatsübernahme von der Gewährung der von ihm beantragten Prozesskostenhilfe abhängig gemacht hatte. Soweit das Berufungsgericht dem Kläger hingegen ein Untätigbleiben bis zum Anwaltswechsel sowie die Beendigung des seinen früheren Bevollmächtigten erteilten Mandats als verschuldete Umstände anlasten will, die die unverschuldete Ursächlichkeit der Mittellosigkeit für die Fristversäumung ausschließen, ist dies - wie ausgeführt - von Rechtsirrtum beeinflusst.

Darauf, dass das Berufungsgericht sich mit dem angefochtenen Beschluss zu seiner dem Prozesskostenhilfegesuch stattgebenden Entscheidung in Widerspruch gesetzt hat, weil es die Frage der Wiedereinsetzungsvoraussetzungen im Rahmen der Bewilligung bejaht haben muss, kommt es nicht mehr an.

 

Fundstellen

BGHR 2005, 127

FamRZ 2005, 105

NJW-RR 2005, 926

MDR 2005, 229

BRAK-Mitt. 2005, 75

ProzRB 2005, 174

www.judicialis.de 2004

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt VerwalterPraxis Gold. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge