Leitsatz (amtlich)

a) Zur Fristwahrung durch Übermittlung eines elektronischen Dokuments.

b) Zum Grundsatz der Subsidiarität im Rechtsbeschwerdeverfahren.

 

Normenkette

GG Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3; ZPO § 130a Abs. 5 S. 1

 

Verfahrensgang

OLG Braunschweig (Beschluss vom 11.10.2019; Aktenzeichen 7 U 815/19)

LG Braunschweig (Urteil vom 21.06.2019; Aktenzeichen 11 O 2183/18)

 

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers wird der Beschluss des 7. Zivilsenats des OLG Braunschweig vom 11.10.2019 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren beträgt bis 16.000 EUR.

 

Gründe

I.

Rz. 1

Der Kläger nimmt den beklagten Fahrzeughersteller auf Schadensersatz wegen der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung für die Abgasreinigung in Anspruch. Das LG hat die Klage mit Urteil vom 21.6.2019 abgewiesen. Gegen dieses Urteil hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers über das besondere elektronische Anwaltspostfach fristgerecht Berufung eingelegt und diese begründet. Die im Elektronischen Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) des OLG fristgerecht eingegangene und auf dem für den Empfang bestimmten Server aufgezeichnete Berufungsbegründung ist nicht ausgedruckt worden. Nachdem die Vorsitzende des Berufungssenats mit dem Kläger am 13.9.2019 zugestellter Verfügung darauf hingewiesen hatte, dass die Frist zur Berufungsbegründung abgelaufen sei, ohne dass eine Begründung eingegangen sei, hat das OLG die Berufung mit Beschl. v. 11.10.2019 - dem Kläger zugestellt am 18.10.2019 - als unzulässig verworfen. Mit am 16.10.2019 bei Gericht eingegangenem Schriftsatz hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers unter Vorlage eines Screenshots der vom EGVP automatisch erstellten Eingangsbestätigung darauf hingewiesen, dass sie die Berufungsbegründung fristgerecht über das besondere elektronische Anwaltspostfach eingereicht habe. Der Berufungsbegründungsschriftsatz wurde daraufhin auf dem Server aufgefunden und manuell ausgedruckt.

Rz. 2

Gegen den Verwerfungsbeschluss wendet sich der Kläger mit der Rechtsbeschwerde.

II.

Rz. 3

1. Die Rechtsbeschwerde ist gem. §§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft. Sie ist auch im Übrigen zulässig, denn eine Entscheidung des Senats ist zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Fall 2 ZPO).

Rz. 4

2. Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Der angefochtene Beschluss verletzt den Kläger jedenfalls in seinen verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechten auf ein faires Verfahren und Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes.

Rz. 5

a) Beide Rechte werden den Parteien eines Zivilrechtsstreits durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG garantiert. Die Gerichte dürfen danach aus eigenen oder ihnen zurechenbaren Fehlern, Unklarheiten oder Versäumnissen für die Beteiligten keine Verfahrensnachteile ableiten. Allgemein sind sie zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet. Außerdem dürfen sie den Zugang zu den den Rechtsuchenden eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren (vgl. BVerfGE 110, 339 juris Rz. 10 f.; BVerfG NJW-RR 2008, 446, juris Rz. 9).

Rz. 6

b) Mit diesen Anforderungen ist die angefochtene Entscheidung nicht vereinbar.

Rz. 7

aa) Das Berufungsgericht hat die Berufung des Klägers mangels Begründung als unzulässig verworfen, obwohl die Berufungsbegründung innerhalb der Berufungsbegründungsfrist bei Gericht eingegangen war. Der Kläger hatte den Begründungschriftsatz als elektronisches Dokument über das besondere elektronische Anwaltspostfach an das EGVP des Berufungsgerichts übermittelt; das Dokument war auf dem für den Empfang bestimmten Server des Gerichts gespeichert worden. Dies genügte zur Fristwahrung (§ 130a Abs. 5 Satz 1 ZPO; vgl. BGH, Beschl. v. 14.5.2020 - X ZR 119/18, z.V.b; Bacher NJW 2015, 2753, 2756). Der Umstand, dass das elektronische Dokument weder von einem Client-Rechner des Berufungsgerichts abgeholt noch ausgedruckt worden war, ist in diesem Zusammenhang unerheblich. Hierbei handelt es sich um gerichtsinterne Vorgänge, die für den Zeitpunkt des Eingangs des Dokuments nicht von Bedeutung sind (vgl. BGH, Beschl. v. 14.5.2020 - X ZR 119/18, Rz. 12; v. 28.5.2020 - I ZR 214/19, Rz. 7; Bacher, a.a.O.). Aus dem gerichtsinternen Versäumnis, die Berufungsbegründung beim Eingangsserver abzuholen, durften für den Kläger keine Verfahrensnachteile resultieren.

Rz. 8

bb) Dieser Beurteilung steht entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerdeerwiderung nicht der allgemeine Grundsatz der Subsidiarität entgegen. Soll der Verstoß gegen den Subsidiaritätsgrundsatz darin liegen, dass eine Partei auf einen Hinweis nicht rechtzeitig reagiert hat, kann diese einschneidende Folge nur dann gerechtfertigt werden, wenn der Partei vom Gericht eine Frist gesetzt worden ist oder so viel Zeit seit dem Hinweis verstrichen ist, dass - ggf. auch unter Berücksichtigung außergewöhnlicher Umstände - mit einer Stellungnahme nicht mehr gerechnet werden kann. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor.

 

Fundstellen

Haufe-Index 14165474

NJW 2020, 9

NWB 2020, 3167

NJW-RR 2020, 1519

CR 2020, 763

FA 2020, 315

IBR 2020, 624

JurBüro 2021, 447

WM 2021, 2459

AnwBl 2020, 684

DGVZ 2020, 259

JZ 2020, 698

MDR 2020, 1330

MDR 2020, 1430

ITRB 2020, 274

MMR 2021, 44

VRR 2020, 11

RDi 2021, 210

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