Leitsatz (amtlich)

Eine Fehleraufdeckung durch die Aufsichtsbehörde und der Erlaß eines Berichtigungsbescheids gemäß § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO vor dem Eintritt der Verjährungsfrist ist auch dann zulässig, wenn das FA vorher einen auf eine andere Berichtigungsmöglichkeit gestützten Bescheid gleichen Inhalts zurückgenommen hat, sofern sich diese Rücknahme im Verwaltungsverfahren vollzogen hat und keine gerichtliche Entscheidung in der Streitsache ergangen ist.

 

Normenkette

AO § 222 Abs. 1 Nr. 3

 

Tatbestand

Das FA berichtigte im Mai 1962 einen gegen die Klägerin im Januar 1956 ergangenen Vermögensabgabebescheid gemäß § 38 der 10. AbgabenDV-LA, nachdem es erkannt hatte, daß der Wert der HGA für den Abzug bei der Vermögensabgabe zu hoch angenommen worden war, weil bei der Vermögensabgabeveranlagung eine Hypothek in Höhe von 10 000 RM als sogenannte spätvalutierte Verbindlichkeit nur in Höhe von 1 000 DM als Schuld hätte abgezogen werden dürfen. Die Klägerin legte gegen diesen Berichtigungsbescheid Einspruch ein und machte unter anderem geltend, die Voraussetzungen für eine Berichtigung nach § 38 der 10. AbgabenDV-LA lägen nicht vor. Im Einvernehmen der Beteiligten wurde der Streitfall der OFD vorgelegt. Diese vertrat die Auffassung, daß eine Berichtigung des ursprünglichen Vermögensabgabebescheids weder nach § 38 der 10. AbgabenDV-LA noch nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO zulässig sei. Sie deckte jedoch den Fehler auf und wies das FA durch Verfügung vom September 1963 an, den Berichtigungsbescheid vom Mai 1962 zurückzunehmen und einen neuen auf § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO gestützten Berichtigungsbescheid zu erlassen. Gegen diesen Berichtigungsbescheid vom Oktober 1963, der inhaltlich mit dem zurückgenommenen Berichtigungsbescheid vom Mai 1962 übereinstimmt, legte die Klägerin erneut Einspruch ein und bestritt weiterhin die Zulässigkeit der Berichtigung. Der Einspruch blieb ohne Erfolg. Auch die nachfolgende Klage wurde als unbegründet zurückgewiesen.

Das FG führte zur Begründung im wesentlichen aus: Als Fehler im Sinne von § 222 Abs. 1 Nr. 3 und 4 AO sei jede objektive Unrichtigkeit anzusehen. Ein Steuerbescheid sei objektiv unrichtig, wenn der Sachverhalt bei der Entscheidung von der Veranlagungsstelle nicht richtig erfaßt worden sei. Die OFD sei berechtigt gewesen, die Fehlerberichtigung anzuordnen. Das FA sei auf Grund der Fehleraufdeckung verpflichtet gewesen, den ursprünglichen Vermögensabgabebescheid gemäß § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO dahin zu berichtigen, daß hinsichtlich der spätvalutierten Hypothek nur eine Schuld von 1 000 DM zum Abzug zugelassen werde. Der Gesetzgeber habe in den §§ 92 Abs. 3, 94 und 222 AO zum Ausdruck gebracht, unter welchen Voraussetzungen der materiellen Richtigkeit der Besteuerung im Einzelfall gegenüber dem Rechtskraftprinzip der Vorrang eingeräumt worden sei.

Mit der Revision rügt die Klägerin unrichtige Anwendung des § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO. Sie macht insbesondere geltend, der Berichtigung stehe die Rechtskraft des ursprünglichen Bescheids vom Januar 1956 entgegen. Die Vorschrift des § 222 AO sei eng auszulegen. Begrifflich sei eine Fehleraufdeckung durch die Aufsichtsbehörde nicht möglich, wenn der Fehler bereits vorher festgestellt worden sei. Aus dem ersten zurückgenommenen Berichtigungsbescheid ergebe sich eindeutig, daß dem FA bekanntgewesen sei, daß es sich bei dem Grundpfandrecht von 10 000 RM um eine spätvalutierte Hypothek gehandelt habe. Im Jahre 1963 sei durch die Aufsichtsbehörde überhaupt nichts Neues aufgedeckt worden. Im übrigen werde der Begriff des Fehlers zu weit ausgelegt.

Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil und den angefochtenen Berichtigungsbescheid vom 11. Oktober 1963 aufzuheben.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

Die Revision ist nicht begründet.

Nach § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO findet eine Berichtigungsveranlagung statt, wenn bei einer Nachprüfung durch die Aufsichtsbehörde Fehler aufgedeckt werden, deren Berichtigung eine höhere Veranlagung rechtfertigt, und die Verjährungsfrist noch nicht abgelaufen ist. Dies gilt nicht für Steuern vom Einkommen, vom Ertrag, vom Umsatz und vom Vermögen, ausschließlich der Erbschaftsteuer. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift für eine Berichtigung des Vermögensabgabebescheids sind im Streitfall erfüllt. Die im Berichtigungsbescheid vom Oktober 1963 zur Beseitigung des Fehlers ab 1. Januar 1957 erhöhten Vierteljahrsbeträge sind nicht durch Verjährung erloschen. Der erste Berichtigungsbescheid vom Mai 1962 hat die Verjährung der Vierteljahrsbeträge für die Zeit ab 1. Januar 1957 unterbrochen, da er eine Unterbrechungshandlung im Sinne von § 147 Abs. 1 AO a. F. dargestellt hat. Seine Rücknahme auf Grund des Einspruchs der Klägerin hat die verjährungsunterbrechende Wirkung nicht aufgehoben (Urteil des BFH IV 46/59 U vom 12. November 1959, BFH 70, 75, BStBl III 1960, 29).

Der Senat ist in ständiger Rechtsprechung davon ausgegangen, daß § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO verfassungsgemäß ist und auch auf Bescheide über Abgaben zum Lastenausgleich (Vermögensabgabe, Kreditgewinnabgabe und Hypothekengewinnabgabe) Anwendung findet (Urteil des Senats III R 56/69 vom 26. Juni 1970, BFH 100, 9, BStBl II 1970, 769 mit weiteren Nachweisen). Das BVerfG hat in seinem Beschluß 2 BvR 246/62, 257/62, 110/63, 111/63 vom 3. November 1965 (BStBl I 1966, 181) diese Rechtsprechung aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht beanstandet und festgestellt, daß § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO nicht gegen das Rechtsstaatsprinzip verstößt.

Der angefochtene Berichtigungsbescheid vom Oktober 1963 ist auch deshalb nicht unzulässig, weil das FA zunächst seinen ersten Berichtigungsbescheid vom Mai 1962 im Rechtsmittelverfahren (heute Rechtsbehelfsverfahren) auf Weisung der OFD zurückgenommen hat, um gleichzeitig eine nochmalige Berichtigung auf Grund der durch die OFD erfolgten Fehleraufdeckung vorzunehmen. In dem Einspruchsverfahren gegen den ersten Berichtigungsbescheid vom Mai 1962 waren nur die Berichtigungsmöglichkeiten Gegenstand des Verfahrens, auf die das FA eine Berichtigung hätte stützen können. Die Voraussetzungen für eine von der Fehleraufdeckung der Aufsichtsbehörde abhängige Berichtigung nach § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO lagen beim Erlaß des ersten Berichtigungsbescheids noch nicht vor und konnten vom FA in dem gegen diesen Bescheid laufenden Einspruchsverfahren nicht berücksichtigt werden. Es war daher zulässig, den ersten Berichtigungsbescheid zurückzunehmen und auf Grund der zwischenzeitlich erfolgten Fehleraufdeckung durch die OFD einen Berichtigungsbescheid mit dem gleichen Inhalt auf die neu entstandene Berichtigungsmöglichkeit (§ 222 Abs. 1 Nr. 3 AO) zu stützen (vgl. Urteil des Senats III 203/61 U vom 26. November 1964, BFH 81, 344, BStBl III 1965, 124; BFH-Urteil II 36/62 vom 12. Oktober 1966, BFH 87, 43, BStBl II 1967, 34).

Der Senat hat in seinem Urteil III R 83/70 vom 21. April 1972, BStBl II 1972, 740, entschieden, wann eine Berichtigung nach § 222 Abs. 1 Nr. 3 oder 4 AO ausgeschlossen ist. Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall nicht vor, da ein gerichtliches Verfahren wegen des ersten Berichtigungsbescheids überhaupt nicht stattgefunden hat.

Die Klägerin ist zu Unrecht der Auffassung, daß unzureichende tatsächliche Feststellungen oder die unrichtige Erfassung der rechtserheblichen Tatsachen nicht unter den Fehlerbegriff im Sinne des § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO fallen. Wie der Senat wiederholt entschieden hat, ist unter Fehler in diesem Zusammenhang jede objektive Unrichtigkeit zu verstehen (vgl. Urteile des Senats III 110/55 U vom 2. März 1956, BFH 62, 331, BStBl III 1956, 123; III 315/61 U vom 7. Dezember 1962, BFH 76, 443, BStBl III 1963, 161). Es kann somit dahingestellt bleiben, ob im Streitfall das FA eine rechtserhebliche Tatsache des ihm bekannten Sachverhalts nicht richtig gewürdigt hat oder auf Grund der übersandten HGA-Mitteilung und der eingereichten Vermögenserklärung zum 1. Januar 1949 etwaige Zweifel durch Rückfragen hätte klären müssen oder ob es schlechthin § 101 Abs. 1 des LAG in Verbindung mit § 210 Nr. 2 LAG unrichtig ausgelegt hat; denn ein berichtigungsfähiger Fehler liegt in jedem Falle vor. Daß dem FA bei der ursprünglichen Vermögensabgabeveranlagung durch einen zu hohen Schuldenabzug hinsichtlich der spätvalutierten Hypothek ein Fehler unterlaufen ist, wird auch von der Klägerin nicht bestritten.

Der Berichtigung steht auch nicht entgegen, daß die OFD durch die Vorlage der Akten zwecks Prüfung der Zulässigkeit der ersten Berichtigung im Mai 1962 in die Lage versetzt worden ist, den Fehler wegen der spätvalutierten Hypothek aufzudecken. Eine Fehleraufdekkung nach § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO setzt nicht voraus, daß der Fehler bei einer systematischen Prüfung des Bescheids entdeckt wird (vgl. Urteil des Senats III 89/64 U vom 15. Oktober 1964, BFH 81, 291, BStBl III 1965, 104). Der Begriff "aufdecken" in § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO ist nicht gleich dem Begriff "entdecken". Es kommt bei einer Berichtigung nach dieser Vorschrift nicht darauf an, ob das FA einen Irrtum bereits selbst erkannt hat. Die Berichtigungsmöglichkeit des § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO dient der materiellen Richtigkeit der Besteuerung und kann nicht von der Art der Aufdeckung des Fehlers abhängig gemacht werden. Der Gesetzgeber wollte in § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO die Berichtigungsmöglichkeit nicht von einer "Entdeckung" des Fehlers durch die Aufsichtsbehörde abhängig machen, sondern von ihrer Entscheidung, daß ein Fehler vorliegt. Entscheidend ist dabei allein, daß die OFD von sich aus entschieden hat, daß ein Fehler vorliege und daß sie das FA angewiesen hat, den angefochtenen Berichtigungsbescheid zu erlassen (vgl. Urteil des Senats III R 56/69, a. a. O.).

Soweit die Klägerin geltend macht, sie habe nach der Währungsreform erhebliche Vermögenswerte verloren, ist ihr Vorbringen unerheblich, da in diesem Verfahren Billigkeitserwägungen nicht berücksichtigt werden können.

 

Fundstellen

BStBl II 1972, 742

BFHE 1972, 1

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