Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Unter Fehler im Sinne des § 222 Abs. 1 Ziff. 4 AO ist jede objektive Unrichtigkeit zu verstehen. Ein Fehler im Sinne dieser Bestimmung liegt auch vor, wenn nachträglich eine neue Tatsache bekannt wird, die, falls sie schon bei der Steuerfestsetzung (Einheitswertfeststellung) bekannt gewesen wäre, zu einer niedrigeren Veranlagung (Feststellung) geführt hätte.

 

Normenkette

AO § 222 Abs. 1 Nr. 4

 

Tatbestand

Der Beschwerdeführer (Bf.) ist 1/3 Miteigentümer eines Mietwohngrundstücks. Auf Antrag des Bf. vom 19. September 1949 wurde der Einheitswert für das Grundstück, der 31.000 RM betrug, wegen Kriegsschäden auf den 21. Juni 1948 auf 28.500 DM fortgeschrieben; der Fortschreibungsbescheid vom 24. März 1950 ging am 20. Mai 1950 an den zu diesem Zeitpunkt in der sowjetischen Besatzungszone wohnhaften Bg. ab. Der Bf. bestreitet nicht, den Fortschreibungsbescheid erhalten zu haben.

Anfang 1952 siedelte der Bf. in die Bundesrepublik über. Im März 1953 legte er gegen den längst rechtskräftig gewordenen Fortschreibungsbescheid vom 24. März 1950 Einspruch ein mit dem Antrag, den bei der Fortschreibung zum 21. Juni 1948 nur um 10 v. H. geminderten Einheitswert des Grundstücks auf den 21, Juni 1948 weiter herabzusetzen, da sich herausgestellt habe, daß die durch Bombenschäden entstandenen Kriegs- und Kriegsfolgeschäden nicht ausreichend berücksichtigt worden seien. Der am 21. Juni 1948 vorhanden gewesene Gebäudeschaden betrage nach dem dem Einspruch beigefügten Gutachten 30 v. H. Hinsichtlich der Rechtskraft des früheren Bescheids bat der Bf. im Hinblick darauf, daß er erst 1952 aus der Ostzone gekommen sei, um Nachsicht. Nach erfolglosem Einspruch machte der Bf. in der Berufungsbegründung insbesondere geltend, daß sich erst bei der im Herbst 1952 an dem Grundstück vorgenommenen Reparaturarbeiten herausgestellt habe, daß die Kriegs- und Kriegsfolgeschäden wesentlich größer gewesen seien, als ursprünglich angenommen worden sei. Im Hinblick auf die Bedeutung der Fortschreibung zum 21. Juni 1948 für den Lastenausgleich halte er seinen Antrag auf Nachsichtgewährung aufrecht. Im übrigen sei auch eine Berichtigung nach § 222 der Reichsabgabenordnung (AO) angezeigt; verschiedene Oberfinanzdirektionen hätten bereits die Anweisung erteilt, daß in begründeten Fällen, in denen erhebliche Kriegsschäden nachweisbar erst nach dem 21. Juni 1948 erkennbar geworden seien, eine Berichtigung nach dieser Vorschrift zugelassen werden könne.

Auch die Berufung hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht führte aus, Nachsichtgewährung komme sowohl deshalb nicht in Frage, weil der Bf. die Einspruchsfrist unentschuldigt versäumt habe, als auch im Hinblick auf § 87 Abs. 5 AO, weil bei Einlegung des Einspruchs weit mehr als ein Jahr, vom Ende der versäumten Frist an gerechnet, abgelaufen gewesen sei. Aber auch dem Antrag des Bf. auf Berichtigung nach § 222 AO könne nicht entsprochen werden, zumal das Finanzgericht an Erlasse der Finanzbehörden nicht gebunden sei.

In der Rechtsbeschwerde stellt der Bf. insbesondere darauf ab, daß an die Rechtskraft der Einheitsbewertung zum 21. Juni 1948 ein anderer Maßstab angelegt werden müsse als an einen normalen Steuerbescheid, da die Auswirkung einer Einheitswertfeststellung zu diesem Stichtag im Hinblick auf den Lastenausgleich besonders bedeutsam sei. Diesem Umstand hätten auch die Oberfinanzdirektionen einiger Länder durch Zulassung einer Berichtigung nach § 222 AO Rechnung getragen.

 

Entscheidungsgründe

Die Rechtsbeschwerde ist nicht begründet.

Die Vorbehörden haben ohne Rechtsirrtum festgestellt, daß dem Bf. Nachsicht wegen Versäumung der Rechtsmittelfrist sowohl im Hinblick auf § 86 AO - keine unverschuldete Verhinderung an der Einhaltung der Rechtsmittelfrist - als auch hinsichtlich des § 87 Abs. 5 AO - Ablauf eines Jahres vom Ende der versäumten Frist an - nicht zu erteilen war.

Die Rechtsbeschwerde war daher mit der Kostenfolge des § 307 AO als unbegründet zurückzuweisen. Zu den Ausführungen des Bf., einige Oberfinanzdirektionen hätten für den Fall, daß sich erst nach dem Stichtag (21. Juni 1948) die Schwere der erlittenen Kriegsschäden herausgestellt habe, eine Berichtigung nach § 222 AO zugelassen, sei folgendes bemerkt: Es trifft zu, daß z. B. die Finanzbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg in einem Erlaß an die Oberfinanzdirektion Hamburg vom 15. Januar 1953 ausgeführt hat, es bestünden keine Bedenken, daß in wirklich begründeten Fällen, in denen erhebliche Kriegsschäden nachweisbar erst jetzt erkennbar geworden seien, eine Berichtigung nach § 222 Abs. 1 Ziff. 2 und 4 AO zugelassen werde. Dabei sei aber sehr zurückhaltend zu verfahren. In einem weiteren Erlaß vom 21. Juni 1953 hat die Finanzbehörde jedoch ausdrücklich darauf hingewiesen, daß der Erlaß vom 15. Januar 1953 nicht zum Anlaß genommen werden dürfe, alle Fortschreibungsfälle zum 21. Juni 1948 wieder aufzurollen, zumal die Bedeutung der Einheitswerte auf den 21. Juni 1948 auch den Steuerpflichtigen erkennbar gewesen sei.

Der Senat nimmt zur Frage der Berichtigung der Einheitswertfeststellungen zum 21. Juni 1948 wie folgt Stellung:

An sich steht der Berichtigung einer Einheitswertfeststellung zum 21. Juni 1948 zugunsten der Pflichtigen nach § 222 Abs. 1 Ziff. 2 AO (Bekanntwerden neuer Tatsachen oder Beweismittel, die eine niedrigere Veranlagung rechtfertigen durch eine Betriebsprüfung) oder nach § 222 Abs. 1 Ziff. 4 AO (Aufdeckung von Fehlern durch die Aufsichtsbehörde, deren Berichtigung eine niedrigere Veranlagung rechtfertigt) nichts im Wege, sofern die genannten Voraussetzungen vorliegen. Von Bedeutung kann im vorliegenden Fall insbesondere die Berichtigungsmöglichkeit nach § 222 Abs. 1 Ziff. 4 AO sein. Unter "Fehler" im Sinne dieser Bestimmung ist jede objektive Unrichtigkeit zu verstehen. Objektiv unrichtig ist ein Steuerbescheid oder ein Feststellungsbescheid aber auch dann, wenn dem Finanzamt eine neue Tatsache erst nachträglich bekannt geworden ist, die, wenn sie bei der ursprünglichen Steuerfestsetzung (Feststellung des Einheitswerts) bekannt gewesen wäre, zu einer niedrigeren Festsetzung (Feststellung) geführt hätte; vgl. Riewald, Anm. 3 b 3 zu § 222 AO. Ist in einem solchen Fall die neue Tatsache von einigem Gewicht, und hat der Steuerpflichtige den Umstand des erst nachträglichen Bekanntwerdens nicht zu vertreten, so kommt eine Fehleraufdeckung nach § 222 Abs. 1 Ziff. 4 AO in Betracht. Jedoch kann sich der Bf. im vorliegenden Rechtsstreit auf § 222 AO deshalb nicht berufen, weil die Berichtigung der rechtskräftig gewordenen Einheitswertfeststellung zum 21. Juni 1948, um die es in diesem Verfahren geht, erst möglich ist, wenn die Aufsichtsbehörde tätig geworden ist, d. h. den Fehler aufgedeckt hat.

 

Fundstellen

Haufe-Index 408436

BStBl III 1956, 123

BFHE 1956, 331

BFHE 62, 331

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