Entscheidungsstichwort (Thema)

Verzögerte Abfassung der Entscheidungsgründe als wesentlicher Verfahrensmangel i.S. v. §§ 119 Nr. 6, 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO

 

Leitsatz (NV)

Liegen zwischen der Verkündung eines Urteils oder - bei Zustellung an Verkündungs Statt - zwischen dem Ende der Zweiwochenfrist nach § 104 Abs. 2 FGO und der Übergabe des vollständig abgefaßten Urteils an die Geschäftsstelle weniger als zwölf Monate, jedoch mehr als fünf Monate, so liegt ein wesentlicher Verfahrensmangel i.S. von §§ 116 Abs. 1 Nr. 5, 119 Nr. 6 FGO jedenfalls dann vor, wenn neben dem Zeitmoment weitere Umstände dafür sprechen, daß die Entscheidungsgründe als Folge ihrer verzögerten Abfassung das Ergebnis der mündlichen Verhandlung und Beratung nicht zuverlässig wiedergeben.

 

Normenkette

FGO § 119 Nr. 6, § 116 Abs. 1 Nr. 5, § 104 Abs. 2, § 105 Abs. 4

 

Tatbestand

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) beantragten beim Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA -) den Erlaß von Grunderwerbsteuer. Das FA lehnte den Antrag ab. Die Beschwerde blieb ohne Erfolg. Das Finanzgericht (FG) wies die Klage als unbegründet ab, ohne die Revision zuzulassen. Die mündliche Verhandlung vor dem FG fand am 13. Dezember 1988 statt. Sie endete mit dem Beschluß, daß eine Entscheidung den Beteiligten zugestellt werde. Mit Schreiben vom 9. Mai 1989 fragten die Kläger beim FG an, ob inzwischen eine Entscheidung - bejahendenfalls mit welchem Inhalt - ergangen sei. Am 31. Mai 1989 wurde die (von den Berufsrichtern unterzeichnete) Urteilsformel der Geschäftsstelle des FG-Senats zugeleitet. Am 1. Juni 1989 teilte der Berichterstatter des FG-Verfahrens den Klägern mit, daß die Klage abgewiesen worden sei. Am 26. Juli 1989 wurde das vollständige (mit Gründen versehene) Urteil der Senatsgeschäftsstelle übergeben und am 3. August 1989 den Klägern zugestellt.

Mit ihrer Revision machen die Kläger geltend, die Vorentscheidung sei gemäß § 116 Abs. 1 Nr. 5, § 119 Nr. 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO) nicht mit Gründen versehen, weil zwischen der mündlichen Verhandlung am 13. Dezember 1988 und der Zustellung des Urteils am 3. August 1989 ein unangemessen langer Zeitraum liege. Dasselbe gelte auch dann, falls man auf den Zeitraum zwischen der Beschlußfassung, die innerhalb der in § 104 Abs. 2 FGO bestimmten Frist von zwei Wochen erfolgt sein möge, und der Übergabe des vollständig abgefaßten Urteils an die Geschäftsstelle abstelle.

Die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) sehe - in Übereinstimmung mit der neueren Judikatur der übrigen obersten Gerichtshöfe des Bundes - bereits allein in einer erst ein Jahr nach der Verkündung erfolgten Urteilszustellung einen absoluten Revisionsgrund i.S. der §§ 116 Abs. 1 Nr. 5, 119 Nr. 6 FGO. Im vorliegenden Fall sei die Zeitspanne mit etwa acht Monaten zwar kürzer. Jedoch komme der weitere Umstand hinzu, daß der Vorsitzende Richter des FG wegen Urlaubs an der Beifügung seiner Unterschrift unter das Urteil gehindert gewesen sei, so daß dessen Unterstützung und Kontrolle im Kollegium als Sicherungsmittel ausgefallen sei.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO). Die Rüge der Kläger, das Urteil des FG sei nicht mit Gründen versehen (§ 119 Nr. 6 FGO i.V.m. § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO), greift durch.

1. Das FG hat in der mündlichen Verhandlung vom 13. Dezember 1988 beschlossen, die Entscheidung zuzustellen. In einem solchen Fall ,,ist das Urteil binnen zwei Wochen nach der mündlichen Verhandlung der Geschäftsstelle zu übergeben" (§ 104 Abs. 2 FGO). Sofern es ausnahmsweise nicht möglich sein sollte, innerhalb dieser Zweiwochenfrist das vollständig abgefaßte Urteil der Geschäfts- stelle zuzuleiten, so genügt gemäß der innerhalb des § 104 Abs. 2 FGO entsprechend anwendbaren Regelung des § 105 Abs. 4 Satz 2 FGO auch die Übergabe der von den Berufsrichtern unterschriebenen Urteilsformel an die Geschäftsstelle (vgl. BFH-Urteile vom 22. Februar 1980 VI R 132/79, BFHE 130, 126, BStBl II 1980, 398, m.w.N., und vom 10. November 1987 VII R 47/87, BFHE 151, 328, BStBl II 1988, 283). Das setzt voraus, daß das Urteil vor Ablauf dieser Frist beschlossen wurde. Mangels gegenteiliger Behauptungen der Beteiligten geht der Senat im vorliegenden Streitfall davon aus, daß die Beschlußfassung fristgerecht erfolgte. Es kann daher offenbleiben, welche Folgen eine spätere Beschlußfassung hätte (ebenso Urteil in BFHE 151, 328, BStBl II 1988, 283).

2. a) Gemäß § 96 Abs. 1 Satz 3 FGO muß ein Urteil die Gründe enthalten, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Die Begründung des Urteils soll nicht nur dessen Überprüfung im Rechtsmittelverfahren ermöglichen, sondern auch den Beteiligten offenlegen, von welchen Erwägungen sich das Gericht bei der Entscheidung hat leiten lassen (vgl. auch Urteil des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - vom 10. August 1988 4 CB 19/88, Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1989, 730, 731, linke Spalte, zur entsprechenden Vorschrift des § 108 Abs. 1 Satz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -). Ist diese Beurkundungsfunktion wegen einer ungewöhnlichen Verzögerung beim Abfassen der Entscheidungsgründe nicht mehr gewährleistet, so verlieren die schriftlichen Gründe die ihnen vom Gesetz zugedachte Funktion. Sie sind als nicht geschrieben zu behandeln (BVerwG-Urteil vom 3. August 1990 7 C 41-43/89, NJW 1991, 310, 311, linke Spalte, mit zahlreichen Nachweisen); das Urteil ist solchenfalls ,,nicht mit Gründen versehen" (§ 116 Abs. 1 Nr. 5, § 119 Nr. 6 FGO).

Nach der ständigen Rechtsprechung des BFH liegt ein dahingehender Verfahrensmangel vor, wenn zwischen der Beratung und Verkündung des Urteils einerseits und seiner vollständigen schriftlichen Abfassung andererseits ein so langer Zeitraum liegt, daß die zutreffende Wiedergabe des Beratungsergebnisses nicht mehr gewährleistet ist (vgl. Urteil in BFHE 151, 328, BStBl II 1988, 283; Beschluß vom 14. August 1986 III R 44/86, BFH/NV 1987, 102; Urteile vom 23. August 1988 VII R 40/88, BFHE 154, 422, BStBl II 1989, 43; vom 29. November 1988 VII R 36/88, BFH/NV 1989, 520; vom 9. Mai 1989 VII R 5/89, BFH/NV 1990, 243; vom 26. Juli 1989 II R 120/86, BFH/NV 1990, 249, und vom 14. März 1990 X R 52/88, BFH/NV 1991, 49). Dies entspricht auch der Rechtsprechung der anderen obersten Gerichtshöfe des Bundes (vgl. z.B. Urteil des Bundesgerichtshofs - BGH - vom 29. Oktober 1986 IV a ZR 119/85, Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1987, 2446; Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 22. Januar 1981 10/8b RAr 1/80, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1982, 81; Urteil des Bundesarbeitsgerichts - BAG - vom 24. Februar 1982 4 AZR 313/80, HFR 1982, 534; BVerwG-Urteile in NJW 1989, 730, und in NJW 1991, 310).

Die bisherige Rechtsprechung des BFH hat eine Verletzung der §§ 119 Nr. 6, 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO allein darin gesehen, daß das (vollständige) Urteil erst ein Jahr nach der Verkündung der Geschäftsstelle übergeben bzw. der beschwerten Partei zugestellt wurde (vgl. z.B. Urteil in BFHE 151, 328, BStBl II 1988, 283; ebenso Senatsurteil in BFH/NV 1990, 249). Allerdings könne eine Verletzung der genannten Verfahrensvorschriften auch bei einer geringeren Zeitspanne namentlich dann in Betracht kommen, wenn zu einer erheblichen zeitlichen Verzögerung des Abfassens der Entscheidungsgründe weitere Umstände hinzuträten, welche den Eindruck verstärkten, daß die Entscheidungsgründe das Beratungsergebnis nicht zutreffend wiedergäben (vgl. z.B. die BFH-Urteile in BFHE 151, 328, BStBl II 1988, 283, und in BFH/NV 1990, 249, m.w.N.).

b) Bei Anwendung dieser Grundsätze auf den Streitfall kann die Vorentscheidung keinen Bestand haben. Hier beträgt die Zeitspanne zwischen der mündlichen Verhandlung und der vollständigen Abfassung des Urteils (Übergabe an die Geschäftsstelle) sieben Monate und dreizehn Tage. Selbst wenn man mit der bisherigen Rechtsprechung des BFH für den Fristbeginn bei dem hier vorliegenden Fall der Zustellung des Urteils an Verkündungs Statt von dem Tag ausgeht, an dem das Urteil gemäß § 104 Abs. 2 FGO spätestens der Geschäftsstelle zu übergeben war (vgl. Urteile in BFHE 151, 328, BStBl II 1988, 283, 284, und in BFH/NV 1991, 49, 50), beträgt die Zeitspanne immerhin noch rund sieben Monate.

Diese Zeitspanne dokumentiert eine beträchtliche Verzögerung beim Abfassen der Entscheidungsgründe. Die FGO geht davon aus, daß dem Gericht die Begründung seiner Entscheidung innerhalb von zwei Wochen nach der mündlichen Verhandlung möglich ist (vgl. § 104 Abs. 2 FGO, § 105 Abs. 4 Satz 1 FGO). Sollte dies ausnahmsweise nicht geschehen können, hat die Übergabe des vollständig abgefaßten Urteils an die Geschäftsstelle alsbald nachträglich zu erfolgen (§ 105 Abs. 4 Satz 3 FGO, der im Rahmen des § 104 Abs. 2 FGO sinngemäß anzuwenden ist). Diese Regelung dient nicht nur der Beschleunigung des Verfahrens. Das Gesetz will mit ihr auch erreichen, daß der gebotene Zusammenhang zwischen dem aufgrund der mündlichen Verhandlung und der anschließenden Beratung beschlossenen Urteil einerseits und den schriftlich niederzulegenden Gründen andererseits nicht verlorengeht (bezüglich der entsprechenden Vorschriften in §§ 116 Abs. 2, 117 Abs. 4 VwGO vgl. das BVerwG-Urteil in NJW 1991, 310, 311, linke Spalte).

Nicht zuletzt zur Sicherung dieses Zwecks nimmt der BGH an, der in § 552 der Zivilprozeßordnung (ZPO) genannte Zeitraum von fünf Monaten bilde ,,eine vom Gesetzgeber aus Gründen der Rechtssicherheit festgelegte Grenze dafür, wie lange äußerstenfalls das Erinnerungsvermögen der am Urteil beteiligten Richter reicht". Werde diese Frist überschritten, so sei schon allein deswegen das angefochtene Urteil so zu behandeln, als sei es nicht mit Gründen versehen (Urteil in NJW 1987, 2446).

Trotz Fehlens einer § 552 ZPO entsprechenden Regelung in der VwGO sieht das BVerwG in NJW 1991, 310, 312 in Anlehnung an jene Vorschrift ,,einen Zeitraum von fünf Monaten als äußerste Grenze an", wobei es offenbar auf weitere, zum Zeitmoment hinzutretende Umstände nicht ankommen soll. Denn nichts rechtfertige die Annahme, daß das Erinnerungsvermögen von Verwaltungsrichtern zuverlässiger als das von Zivilrichtern sei (NJW 1991, 310, 311, rechte Spalte).

Ebensowenig wie die VwGO enthält auch die FGO eine § 552 ZPO vergleichbare Vorschrift. Dennoch sprechen die vom BVerwG in NJW 1991, 310 aufgezeigten gewichtigen Gründe nach Auffassung des erkennenden Senats dafür, die Fünfmonatsgrenze auch im Bereich der FGO anzuwenden.

Gleichwohl braucht der Senat im vorliegenden Streitfall nicht darüber zu befinden, ob schon allein das Überschreiten der Fünfmonatsgrenze zu einem wesentlichen Verfahrensmangel i.S. der §§ 116 Abs. 1 Nr. 5, 119 Nr. 6 FGO führt. Denn hier treten zu der erheblichen Verzögerung bei der Abfassung der Urteilsgründe (Zeitmoment) weitere Umstände hinzu, die den Schluß auf die mangelnde Beurkundungsfunktion des angefochtenen Urteils erhärten:

Zum einen ist das nachträglich abgefaßte Urteil nicht von allen Richtern unterzeichnet worden, die an der mündlichen Verhandlung und Beratung des Urteils teilgenommen haben. Es fehlt die Unterschrift des durch Urlaub verhinderten Vorsitzenden, die durch den Vermerk gemäß § 105 Abs. 1 Satz 3 FGO ersetzt worden ist. Es muß deshalb davon ausgegangen werden, daß das Urteil in seiner vollständigen und endgültigen Fassung dem verhinderten Richter nicht mehr zur Durchsicht und Kontrolle vorgelegen hat. Gerade im Fall der - hier gegebenen - beträchtlichen Verzögerung bei der Abfassung der Urteilsgründe muß das Gericht in besonderem Maße bestrebt sein, die in einem Richterkollegium mögliche und gebotene gegenseitige Unterstützung und Kontrolle bei der Urteilsabsetzung auszuschöpfen. Fällt dieses Sicherungsmittel - wenn auch nur teilweise - aus, so spricht dies neben dem Zeitmoment als weiteres gewichtiges Indiz gegen die Annahme, daß die schriftlich niedergelegten Urteilsgründe das Beratungsergebnis zutreffend widerspiegeln (vgl. auch die BVerwG-Urteile vom 19. März 1976 VI C 81.75, BVerwGE 50, 278, 282; vom 3. September 1982 4 CB 20/82, NJW 1983, 466; in NJW 1991, 310, 312, linke Spalte).

Es kommt hinzu, daß nicht einmal die (von den Richtern unterzeichnete) Urteilsformel, wie es gemäß der innerhalb des § 104 Abs. 2 FGO entsprechend anwendbaren Bestimmung des § 105 Abs. 4 Satz 2 FGO geboten gewesen wäre, innerhalb von zwei Wochen nach der mündlichen Verhandlung der Geschäftsstelle übergeben wurde. Dies geschah vielmehr erst nach ca. fünfeinhalb Monaten.

 

Fundstellen

BFH/NV 1993, 35

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