Unter dem Titel "Anerkennung gesellschaftlicher Verantwortung und Einbindung von Anspruchsgruppen" befasst sich das 5. Kapitel mit 2 weiteren Grundvoraussetzungen der Wahrnehmung gesellschaftlicher Verantwortung. Zum einen gehört dazu die grundsätzliche Akzeptanz, dass eine Organisation für das, was sie tut, gegenüber Dritten verantwortlich ist und sich mit dieser Verpflichtung proaktiv auseinandersetzt, insbesondere unter den Gesichtspunkten, die in der Definition implizit wie explizit bereits enthalten sind: Wofür und wem gegenüber sind Unternehmen rechenschaftspflichtig? Warum, d. h. auf welcher normativen Grundlage? Aber auch als Frage, in welchem Umfang: Wo beginnt die Verantwortung einer Organisation und wo hört sie legitimerweise auf, d. h. wo verlaufen deren Grenzen z. B. aufgrund eines fehlenden Einflusses[1]?

Im Kontext gesellschaftlicher Verantwortung nach ISO 26000 sind diese Fragen aber nicht nur auf Basis der organisationseigenen Einschätzung zu beantworten. In Übereinstimmung mit einschlägigen Stakeholder-Definitionen wie der von Edward Freeman sollen zusätzlich die Perspektiven all derer berücksichtigt werden, die vom unternehmerischen Handeln de facto oder potenziell beeinflusst werden bzw. davon betroffen sind. In der deutschen Übersetzung wurde dabei für "Stakeholder" bewusst der Begriff "Anspruchs­gruppe" anstelle von Interessengruppe gewählt. Die Begründung dafür findet sich im 2. Teil des 5. Kapitels, das ausdrücklich dafür plädiert, nur jene Interessen in die Entscheidungsfindung einfließen zu lassen, die ethisch begründbar und folglich mit einem legitimen Anspruch verbunden sind[2]. Als Mindestanforderung werden auch an dieser Stelle die 7 Grundprinzipien gesellschaftlicher Verantwortung genannt, denen die vorgebrachten Interessen zumindest nicht widersprechen dürfen, um als legitim und berücksichtigungswürdig eingestuft werden zu können[3].

Neben der Formulierung von Maßstäben dieser Art ermutigt die Norm auch dazu, mit den eigenen Stakeholdern einen offenen und ehrlichen Dialog darüber zu führen, dass und warum bestimmte Erwartungen nicht befolgt werden, sondern u. U. zugunsten anderer, unter ethischen oder anderen Legitimitätsgesichtspunkten vorrangiger Interessen zurückstehen müssen. Auf diesem Wege, so die Botschaft der ISO 26000, soll verhindert werden, was in der Praxis häufig geschieht: Gehör geschenkt wird nur jenen Stakeholdern, die ihre Interessen am Lautesten äußern und/oder einem Unternehmen den größten (Image)Schaden zufügen können, wenn darauf nicht eingegangen wird, anstatt jenen Interessen Priorität einzuräumen, zu deren Berücksichtigung die Organisation auf der Grundlage ihrer Werte oder ihrem Bekenntnis zu den Grundprinzipien gesellschaftlicher Verantwortung eigentlich verpflichtet wäre[4].

[1] DIN ISO 26000: 2011, S. 31ff.
[2] DIN ISO 26000: 2011, S. 33
[3] vgl. DIN ISO 26000: 2011, S. 20
[4] vgl. DIN ISO 26000: 2011, S. 35f., Kleinfeld 2022, S. 40

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