4.3.1 Grundlagen: doppelte Wesentlichkeit

 

Rz. 57

In der Nachhaltigkeitsberichterstattung fungiert die Wesentlichkeitsanalyse als Instrument zur Identifizierung und (inhaltlichen) Bewertung wesentlicher Auswirkungen, Risiken und Chancen, welche in der Berichterstattung offengelegt werden sollen (ESRS 1.25). Diese Analyse bildet das Fundament der Nachhaltigkeitserklärung, da die erforderlichen Angaben gem. ESRS weitestgehend auf den dabei erzielten Ergebnissen basieren. Innerhalb der Wesentlichkeitsanalyse sind zwei maßgebliche Faktoren von Bedeutung:

  • einerseits die Existenz von Auswirkungen, Risiken und Chancen i. V. m. Nachhaltigkeitsaspekten (sustainability matters), welche sich über die drei Dimensionen Umwelt, Soziales und Governance erstrecken (ESRS 1.AR16);
  • andererseits die Wesentlichkeit von solchen Auswirkungen, Risiken und Chancen, die im Zusammenhang mit dem analysierten Geschäftsmodell und den soeben genannten Nachhaltigkeitsaspekten stehen.

In einem der Wesentlichkeitsanalyse nachgelagerten Schritt ist schließlich noch die sog. "Informations-Wesentlichkeit", d. h. die (formale) Wesentlichkeit eines (inhaltlich) als wesentlich beurteilten Themas zu untersuchen.

 

Rz. 58

"Risiken" und "Chancen" sind Begrifflichkeiten, die bereits im Kontext der Finanzberichterstattung eingeführt sind (v. a. im finanziellen Risikomanagement). Hierbei wird ein gleichlaufendes Verständnis auch für den Kontext der Nachhaltigkeitsberichterstattung vertreten (Rz 72 ff.). Der Begriff der "Auswirkungen" wurde demgegenüber erstmals mit der NFRD in das europäische Bilanzrecht eingeführt. Eine Definition fehlt in diesem bis dato; in Bezug auf die historischen Wurzeln, aus denen sich das heute für den Nachhaltigkeitskontext übliche Begriffsverständnis entwickelt hat, lassen sich hierunter verschiedene Folgen von Wirtschaftsaktivitäten oder weiter gefasst von Handlungen verstehen, i. S. v. Veränderungen in einem Umfeld, die aus diesen Handlungen unmittelbar oder mittelbar resultieren.[1] Freilich lassen sich auch Risiken und Chancen als Konsequenz finanzieller Auswirkungen auf das Unternehmen selbst verstehen – v. a. dem Vorbild der Terminologie in den TCFD-Empfehlungen folgend legen die ESRS aber Wert auf eine klare sprachliche Trennung beider Perspektiven, die auf Nachhaltigkeitsaspekte eingenommen werden können.

 

Rz. 59

In ESRS 1 wird das Konzept der doppelten Wesentlichkeit eingeführt. Um festzustellen, ob ein Nachhaltigkeitsaspekt als wesentlich betrachtet werden kann, muss dieser entweder die Kriterien der "Auswirkungs-Wesentlichkeit", der "finanziellen Wesentlichkeit" oder beide erfüllen (ESRS 1.28). Die Prüfung der Wesentlichkeit der ökologischen und sozialen Auswirkungen auf Nachhaltigkeitsaspekte ("Auswirkungs-Wesentlichkeit") sowie der finanziellen Chancen und Risiken von Nachhaltigkeitsaspekten auf das Unternehmen ("finanzielle Wesentlichkeit") sind miteinander verbunden, da zumindest langfristig Interdependenzen bestehen. Dennoch wird innerhalb der ESRS betont, dass die Auswirkungs-Wesentlichkeit i. S. d. methodischen Klarheit unabhängig von der finanziellen Wesentlichkeit ermittelt und festgelegt werden muss (ESRS 1.38). Abb. 6 fasst die beiden Ausprägungen von Wesentlichkeit zusammen und verknüpft sie mit den ebenso gebräuchlichen Bezeichnungen "inside-out" und "outside-in" in den Betrachtungsperspektiven auf Wirtschaftsaktivitäten und ihre Folgen für Interessenträger und Unternehmen selbst:[2]

Abb. 6: Abgrenzung von Auswirkungs-Wesentlichkeit und finanzieller Wesentlichkeit[3]

Abb. 7 stellt demgegenüber dar, wie die doppelte Wesentlichkeit (auch) als Summe jener Nachhaltigkeitsaspekte zu verstehen ist, für die entweder wesentliche Auswirkungen oder wesentliche Risiken und Chancen festgestellt wurden. Da in der Praxis für solche Darstellungen der Rückgriff auf Matrizen üblich ist, findet sich in Abb. 8 eine entsprechend aufbereitete Alternativdarstellung; diese orientiert sich eng an dem Wortlaut des ESRS 1 und den darin enthaltenen Analysedimensionen. Wichtig ist dabei, dass das Feld "nicht berichtspflichtig" i. S. v. "Verbot der Berichterstattung" (wegen Unwesentlichkeit) zu verstehen ist (Rz 32).

 
Achtung

Eine solche Matrixdarstellung, wie in Abb. 8 dargestellt, setzt voraus, dass sowohl die X- als auch die Y-Achse gleich gemessen und skaliert sind. D.h., dass bspw. Auswirkungen einerseits und Risiken und Chancen andererseits in EUR bewertet werden – oder aber in Schulnoten bzw. einem Punktesystem. Dies kann wiederum Rückwirkungen auf das bereits etablierte Risikomanagementsystem eines Unternehmens haben, wenn in diesem z. B. eine finanzielle Bewertung von Risiken und Chancen erfolgt, aber Auswirkungen gegenwärtig nur nach einer Schulnoten-Logik bewertet werden. Diesfalls kann auch für das finanzielle Risikomanagementsystem eine Überleitung zu einer Schulnoten-Bewertung erforderlich sein, was mit Ermessensfragen und ggf. einem methodischen Rückschritt verbunden ist.

Abb. 7: Konzept der doppelten Wesentlichkeit[4]

Abb. 8: Doppelte Wesentlichkeit in einer Matrix-D...

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