1 Allgemeines

 

Rz. 1

§ 88 AO bildet die steuerrechtliche Parallelvorschrift zu § 24 VwVfG. Der Untersuchungsgrundsatz ist Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips[1], insbesondere der Grundsätze des fairen Verfahrens und der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung.[2] Nach § 85 AO ist die Finanzverwaltung als Normadressatin zur gesetzmäßigen und gleichmäßigen Festsetzung und Erhebung der Steuern verpflichtet. Dieses sog. Legalitätsprinzip bezweckt die Belastungsgleichheit der Stpfl. im Rahmen des Gesetzesvollzugs.[3] Die Besteuerung soll materiell richtig erfolgen. Darüber hinaus müssen die Stpfl. durch das Steuergesetz rechtlich und tatsächlich gleich belastet werden.[4] § 88 AO setzt damit ein materielles Recht voraus, unter das der zu ermittelnde Sachverhalt zu subsumieren ist, das Erhebungsregeln und ein verfahrensrechtliches Umfeld enthält, das geeignet ist, die tatsächliche Lastengleichheit der Stpfl. zu gewährleisten.[5] Ein gegen diese verfassungsrechtlich vorgegebenen Mindeststandards verstoßendes Steuergesetz widerspricht der grundsätzlichen Ausrichtung des Untersuchungsgrundsatzes, wäre aber bis zu einer Verwerfung durch das BVerfG selbstverständlich nach Maßgabe des § 88 AO zu verwalten. Eine den Grundsätzen der Gesetzmäßigkeit und der Gleichmäßigkeit entsprechende Besteuerung setzt die Feststellung der zutreffenden rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse voraus. § 88 AO normiert für die Ermittlung der tatsächlichen Verhältnisse des Sachverhalts den sog. Amtsermittlungs- oder Untersuchungsgrundsatz. Hiernach sind die den steuergesetzlichen Tatbestand ausfüllenden Merkmale von Amts wegen zu ermitteln. Die Sachaufklärung ist damit aus Gründen der Vollständigkeit und Wahrheitsgemäßheit der Disposition der Parteien entzogen. Der zivilprozessuale Verhandlungsgrundsatz gilt als Konsequenz des Legalitätsprinzips nicht.[6]

 

Rz. 2

Der Finanzbehörde obliegt die Verfahrensherrschaft.[7] Sie bestimmt in den Grenzen des § 5 AO die Art und den Umfang der Ermittlungen. Sie ist insoweit weder an das Vorbringen noch an Beweisanträge der Beteiligten gebunden. Aus § 88 Abs. 2 S. 1 AO ergibt sich ferner eine Richtlinienkompetenz der Verwaltung zur Erstellung generalisierender, typisierender Besteuerungsgrundsätze.[8] Die Finanzverwaltung hat damit begonnen, sich hierzu in den steuerlichen Massenverfahren vermehrt eines maschinellen Risikomanagementsystems zu bedienen.[9]

 

Rz. 3

Da der Untersuchungsgrundsatz im Dienst der Legalität steht, beschreibt § 88 Abs. 1 S. 2 AO eine Selbstverständlichkeit. Die Finanzbehörden sind zur Objektivität und Neutralität verpflichtet[10] und müssen deshalb auch die für die Beteiligten günstigen Umstände berücksichtigen. Sie müssen ihrer Pflicht zur Fürsorge für den Stpfl.[11] gerecht werden und deshalb z. B. auch Verjährungsfragen von Amts wegen prüfen.[12] Die Finanzbehörden sind letztlich nicht Beauftragte des Fiskus, sondern neutrales Vollzugsorgan des objektiven Rechts. Dies bedeutet aber nicht, dass § 88 Abs. 1 S. 2 AO eine allgemeine Meistbegünstigungsregel beinhaltet. Mit der Norm wird nur das allgemeine Ziel, dem Betroffenen zu einer materiell zutreffenden Entscheidung zu verhelfen, für die Sachverhaltsermittlung konkretisiert.[13]

 

Rz. 3a

Die Neuausrichtung des Amtsermittlungsgrundsatzes war eines der Hauptmotive für die Einleitung des Vorhabens, das schließlich durch das Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens[14] abgeschlossen worden ist. In Anbetracht der gewandelten Rahmenbedingungen, in denen die Besteuerungsverfahren betrieben werden, die angesichts technischer Innovationen, globaler Beziehungen von Stpfl. und aufwachsender Informationstechnologie Segen und Fluch für eine allein auf den Gesetzmäßigkeitsgrundsatz verpflichtete Finanzverwaltung darstellt, wurde der Versuch unternommen, die Grenzen der angemessenen Sachaufklärung und erforderlichen Amtsermittlung neu zu justieren. Am auffälligsten in diesem Zusammenhang ist die Aufnahme des Wirtschaftlichkeitsgrundsatzes in §§ 88 Abs. 2 S. 3 und Abs. 3 S. 2 AO, der zugleich kein Verfassungsprinzip und damit gegenüber dem Gesetz- und Gleichmäßigkeitsgrundsatz dienender Grundsatz ist. Der Regierungsentwurf[15] ordnet die Neuausrichtung des Amtsermittlungsgrundsatzes in die zwischenzeitlich ergangene Rechtsprechung ein: So dürfe der Gesetzgeber zum einen im Hinblick auf die Verwirklichung des Steueranspruchs die Grenzen der dem Staat verfügbaren personellen und finanziellen Mittel berücksichtigen[16], zum anderen habe neben dem aus dem Rechtsstaatsgebot abgeleiteten Gebot materiell zutreffender Entscheidungen auch der Aspekt einer wirtschaftlichen und möglichst effizienten Verwaltung Verfassungsrang.[17]

 

Rz. 3b

Mit dem Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens[18] wurde dem § 88 AO eine gänzlich neue Struktur gegeben. In geänderter Reihenfolge und Zusammenstellung finden sich die Grundzüge des althergebrachten Amtsermittlungsgrundsatzes in den Abs. 1 und 2 des § 88 AO wieder.[19] Obgleich in § 85 AO enthalten und im Übrigen von Verfassu...

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