Rz. 105

Die grenzüberschreitende Sitzverlegung wird erheblich behindert, weil das Besteuerungsrecht der Bundesrepublik nicht beeinträchtigt werden darf. Daher kann der Sitz, verstanden als Geschäftsleitung (Rz. 89a), in bestimmten Fällen nur unter Inkaufnahme einer erheblichen Steuerbelastung verlegt werden, wenn Deutschland Besteuerungsrechte dadurch verliert, dass die Körperschaft aufgrund ihrer in das Ausland verlegten Geschäftsleitung als im anderen Staat "ansässig" i. S. d. DBA gilt. Diese Steuerbelastung kann prohibitiv wirken; eine Verlegung der Geschäftsleitung ist dann praktisch unmöglich. Das wirft die Frage auf, ob die Regelung gegen die Grundfreiheiten des AEUV, insbes. die Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 AEUV verstößt. Demgegenüber dürfte die Kapitalverkehrsfreiheit nach Art. 63 AEUV nicht angesprochen sein, da es unmittelbar um die Niederlassung einer Körperschaft geht, die Niederlassungsfreiheit daher vorrangig ist.

 

Rz. 106

An sich ist bei der Beantwortung dieser Frage nach den verschiedenen Rechtsgrundlagen zu unterscheiden. Hinsichtlich der Sitzverlegung der SE und SCE beruht die Regelung auf der Fusionsrichtlinie, die insoweit in § 12 KStG nur umgesetzt wird. Zur Sitzverlegung anderer Körperschaften als der SE und SCE enthält die FRL keine Bestimmungen, sodass das nationale Recht insoweit unmittelbar an den Grundfreiheiten zu messen ist. Dies führt zu der Vorfrage, ob die FRL überhaupt gegen die Grundfreiheiten des AEUV verstoßen, ob es also "europarechtswidriges Europarecht" geben kann. Dies ist m. E. mit der wohl h. M. zu bejahen.[1] Dann ist auch die FRL an den Grundfreiheiten zu messen, sodass für beide Fallgruppen (Sitzverlegung einer SE/SCE; Sitzverlegung einer anderen Körperschaft) die gleiche Frage zu untersuchen ist.

 

Rz. 107

Bei der Regelung für die Besteuerung der Sitzverlegung von Körperschaften stellt der EuGH[2] entscheidend auf die nationale Regelung für Erwerb und Beibehaltung der Eigenschaft als Rechtssubjekt ab. Er hat dabei für den Wegzug von Kapitalgesellschaften entscheidend auf die nationale Regelung für Erwerb und Beibehaltung der Eigenschaft als Rechtssubjekt abgestellt. Im Gegensatz zu natürlichen Personen beziehen Körperschaften ihre Rechtsfähigkeit aus der jeweiligen nationalen Rechtsordnung. Jenseits der jeweiligen nationalen Rechtsordnung, die ihre Gründung und Existenz regelt, hat eine Körperschaft keine Realität. Der AEUV regelt die Frage der identitätswahrenden Sitzverlegung nicht. Mangels einer solchen Regelung bleibt für eine nach nationalem Recht gegründete Gesellschaft die Bestimmung der Möglichkeit und der Folgen, die Verknüpfung zu diesem nationalen Recht (dem "Gesellschaftsstatut") zu ändern bzw. zu lösen, weiterhin dem nationalen Recht überlassen. Hat eine Gesellschaft nach nationalem Recht nicht mehr die Eigenschaft eines Rechtssubjekts, kann sie sich auch nicht mehr auf die Niederlassungsfreiheit, Art. 49 AEUV, berufen. Damit können nationale Vorschriften, die die Begründung, die Änderung oder die Beendigung der Beziehung der Gesellschaft zu ihrem nationalen Gründungsstatut in sachlicher oder räumlicher Hinsicht regeln, nicht gegen die Grundfreiheiten verstoßen.

 

Rz. 107a

Für die Frage der europarechtlichen Zulässigkeit der Schlussbesteuerung bei der Sitzverlegung einer Körperschaft ist danach entscheidend, ob diese Sitzverlegung nach nationalem Recht zur Auflösung und Liquidation der Körperschaft führt oder nicht. Hat eine Sitzverlegung nach nationalem Recht zur Folge, dass die rechtliche Existenz der Körperschaft vernichtet wird, können hieran auch steuerliche Folgen wie eine Liquidationsbesteuerung geknüpft werden.[3] Bleibt die Gesellschaft nach nationalem Recht dagegen auch bei Verlegung der Geschäftsleitung in das Ausland bestehen, würde eine Schlussbesteuerung unter Aufdeckung der stillen Reserven in die Niederlassungsfreiheit eingreifen, sodass sich die wegziehende Gesellschaft uneingeschränkt auf die Niederlassungsfreiheit berufen kann.[4] Eine Besteuerung der stillen Reserven beim Wegzug ist für die wegziehende Gesellschaft nachteilig, weil zumindest ein Liquiditätsnachteil gegenüber Gesellschaften eintritt, die ihre Geschäftsleitung innerhalb des Inlands verlegen. Dies stellt eine Diskriminierung bei vergleichbaren Verhältnissen dar, da eine Gesellschaft, die im Inland ihren Verwaltungssitz verlegt, hinsichtlich der Besteuerung der stillen Reserven in diesem Staat in der gleichen Situation ist wie eine Gesellschaft, die ihre Geschäftsleitung in einen ausl. Staat verlegt.[5]

 

Rz. 107b

Für eine aus Deutschland wegziehende Kapitalgesellschaft hat dies folgende Auswirkungen. Durch das MoMiG v. 23.10.2008[6] sind § 5 AktG und § 4a GmbHG, wonach sich Sitz und Geschäftsleitung im gleichen Staat befinden mussten, neu gefasst worden. Dadurch wurde dieses Erfordernis aufgegeben. Dadurch sollte nach dem ausdrücklichen Wortlaut der Begründung des Gesetzentwurfs für deutsche Kapitalgesellschaften die Möglichkeit geschaffen werden, ihren Verwaltungssitz,...

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