Beteiligte
Klägerin und Revisionsbeklagte |
Beklagter und Revisionskläger |
Tatbestand
I
Gegenüber der am 1. Oktober 1960 geborenen Klägerin anerkannte das Versorgungsamt mit Bescheid vom 22. Oktober 1976 eine "Niereninsuffizienz" mit dem Zusatz "Dialyse" als Behinderung nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG). Antragsgemäß stellte die Verwaltung mit Bescheid vom 30. Juni 1977 nach § 3 Abs. 1 SchwbG i.V.m. § 62 Abs. 1. Bundesversorgungsgesetz (BVG) fest, die Klägerin sei hilflos. Im Bescheid vom 20. August 1980 wiederholte die Behörde die Anerkennung der Behinderung mit einem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 v.H., verneinte jedoch eine Hilflosigkeit, weil diese wegen Vollendung des 18. Lebensjahres weggefallen sei. Das Sozialgericht (SG) hat diesen Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid vom 27. Februar 1981 insoweit aufgehoben, als die Beendigung der Hilflosigkeit festgestellt worden ist (Urteil vom 15. Januar 1981). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 17. November 1983). Es hat die Voraussetzungen einer Hilflosigkeit i.S. des § 35 Abs. 1 BVG auf Grund der Beweisaufnahme sowohl für Juni 1977 als für die Zeit ab August 1980 verneint. Deshalb dürfe die Anerkennung der Hilflosigkeit nicht nach § 48 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (SGB X) zurückgenommen werden. Eine rechtserhebliche Änderung sei auch nicht dadurch eingetreten, daß die Klägerin inzwischen das 18. Lebensjahr vollendet habe. Die Verwaltung habe ihr zwar die Hilflosigkeit allein wegen ihres Alters zugesprochen. Dies sei aber unrichtig gewesen. Auch Jugendliche müßten nach dem zuvor genannten Maßstab tatsächlich hilflos sein. Wenn die "Anhaltspunkte für. die ärztliche Begutachtung Behinderter, nach dem Schwerbehindertengesetz" die Hilflosigkeit allein vom Alter abhängig machten, so könnten diese Verwaltungsvorschriften nicht als Rechtsgrundlage des zurückgenommenen Verwaltungsaktes in Betracht kommen.
Der Beklagte beanstandet mit seiner - vom LSG zugelassenen - Revision die Rechtsauffassung des LSG, im Vorverfahren sei § 48 SGB X zu beachten gewesen. Er vertritt die Auffassung, die Hilflosigkeit sei allein deshalb abzuerkennen, weil die Klägerin inzwischen 18 Jahre alt geworden sei. Damit sei die Voraussetzung für die doppelte Beweisvermutung, die für Nierenkranke mit Dialysebehandlung bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres gelte, fortgefallen. Auf die Rechtmäßigkeit der früheren Beurteilungsgrundlage komme es nicht an.
Der Beklagte beantragt, die Urteile des LSG und des SG zu ändern und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen;
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
II
Die Revision des Beklagten hat Erfolg.
Streitig ist, ob die Verwaltung das Merkmal "Hilflosigkeit" der Klägerin aberkennen durfte. Diese belastende Entscheidung war - entgegen der Ansicht der Vorinstanzen - nicht rechtswidrig.
Obwohl sich, wie das LSG festgestellt hat, (§ 163 SGG), die Behinderung gegenüber 1977 nicht in einer für die Hilflosigkeit bedeutsamen Weise gebessert hat, durfte das SG der Klage nicht stattgeben.
Das Landesversorgungsamt hatte im angefochtenen Widerspruchsbescheid (§ 3 Abs. 6 Satz 1 und 2 SchwbG i.d.F. der Bekanntmachung vom 8. Oktober 1979 - BGBl. I 1649 - i.V.m. § 54 Abs. 1 und § 95 SGG) den Widerspruch zurückzuweisen und damit die nach 3 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 SchwbG i.V.m. § 62 Abs. 1 BVG (i.d.F. der Bekanntmachung vom 22. Juni 1976 - BGBl. I 1633 -) vorgenommene Neufeststellung als Rücknahme der Anerkennung einer Hilflosigkeit gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X vom 18. August 1980 (BGBl. I 1469, 1980) zu bestätigen. Entgegen der Ansicht des Beklagten war in dem Vorverfahren ab Inkrafttreten des SGB X, d.h. ab 1. Januar 1981 (Art II § 40 Abs. 1 Satz 1), bei der nach diesem Zeitpunkt zu treffenden Entscheidung darüber, ob ein vorher - 1977 - ergangener Verwaltungsakt aufzuheben ist, das neue Recht zu beachten (Art II § 15 Nr. 1, § 37 Abs. 1, § 40 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB X; für Gerichtsverfahren: Großer Senat des Bundessozialgerichts - BSG -, BSGE 54, 223 = SozR 1300 § 44 Nr. 3). Die verschiedenartigen Rechtsgrundlagen des Bescheides und des Widerspruchsbescheides können sich in anderen Fällen wegen gewisser Unterschiede zwischen § 62 BVG a.F. und § 48. SGB X auswirken. Für die Klägerin hat aber im Ergebnis das neue Recht nichts geändert. § 62 BVG a.F. und § 48 SGB X stimmen überein, soweit ihr Inhalt für diesen Fall zu bedeutsam ist (BSG SozR 1300 § 48 Nr. 6).
Nach diesen Vorschriften ist über einen sozialrechtlichen Anspruch der Art dieses Falles entsprechend. dem Ausmaß einer nachträglichen Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse, die für die frühere Feststellung objektiv rechtserheblich waren, zu entscheiden (Urteil des erkennenden Senats vom 13. Dezember 1984 - 9a RV 10/83 - m.w.N.). Diese Voraussetzung für die Aberkennung der Hilflosigkeit war bei der Klägerin 1980 gegeben, und zwar als Änderung einer Tatsache.
Geändert hat sich das Alter der Klägerin; sie hat 1978 das 18. Lebensjahr vollendet, während sie zur Zeit der Anerkennung einer Hilflosigkeit noch 17 Jahre alt war. Allein auf dieses Älterwerden durften die angefochtenen Verwaltungsakte gestützt werden; denn das tatsächlich 1977 gegebene Alter war damals für die nunmehr aufzuhebende Entscheidung erheblich.
Die Verwaltung hat, wie schon das LSG entschieden hat, erkennbar die Hilflosigkeit deshalb anerkannt, weil bei Kindern und Jugendlichen, die mit einer künstlichen Niere behandelt werden, "stets Hilflosigkeit bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres anzunehmen" sein soll. Damit entsprach sie dem Ergebnis der Beratung eines ärztlichen Sachverständigenbeirats, das der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (BMA) mit dem Ziel bekanntgegeben hatte, MdE und Hilflosigkeit bei Kindern nach § 3 SchwbG durch die Verwaltungsbehörden einheitlich beurteilen zu lassen (Rundschreiben vom 22. Dezember 1976 - BVBl. 1977, S. 15 Nr. 10 -). Man hatte sich von der - mitgeteilten - Erfahrung bestimmen lassen, in diesen Fällen sei die Dialyse komplizierter als bei Erwachsenen; nierenkranke Kinder müßten bei der Behandlung ständig beaufsichtigt und auch an den Tagen zwischen den Dialysen dauernd überwacht werden. Die darauf beruhende Verwaltungsübung ergänzte das SchwbG und die Ausweisrichtlinien in der damaligen Fassung, worin ein entsprechender Beurteilungsmaßstab fehlte. Seit Juni 1976 war die Hilflosigkeit als Voraussetzung für bestimmte Vergünstigungen Schwerbehinderter von den Behörden der Versorgungsverwaltung festzustellen und in einem Ausweis zu bescheinigen (§ 3 Abs. 4 und 5 Satz 1 und 2 SchwbG i.d.F. des Art. 2 Nr. 1 Buchstabe b und c des 8. AnpG-KOV vom 14. Juni 1976 - BGBl. I 1481 - Art. 4 § 5 Abs. 3; BSG SozR 3870 § 3 Nr. 14). Bereits vor dem Erlaß des Bescheides vom 30. Juni 1977 war durch eine Neufassung der Richtlinien über Ausweise für Schwerbeschädigte und Schwerbehinderte (vom 11. Oktober 1965 - GMBl. 1965 Nr. 37 S. 402 -/Beilage zum Heft 3/4 des BVBl. 1977 mit Hinweis im Rundschreiben des BMA vom 6. Januar 1977 - BVBl. 1977 S. 29/35 Nr. 17 -) der allgemeine versorgungsrechtliche Begriff der Hilflosigkeit (§ 35 Abs. 1 Satz 1 BVG) für maßgebend erklärt worden; eine Sonderregelung für Kinder und Jugendliche fehlte darin. Für die Ausrichtung an jenem altersbezogenen Beurteilungsmaßstab, der außerhalb der Ausweisrichtlinien für die Verwaltung festgelegt worden war, spricht der Zusatz im versorgungsärztlichen Vermerk vom 19. April 1977, die Hilflosigkeit bei der Klägerin bestehe "bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres". Nach außen wurden Rechtsnatur und Rechtsgrundlage des neuen Bescheides durch seinen Wortlaut einschließlich seiner Begründung bestimmt (§ 3 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Abs. 4 SchwbG, § 22 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung - KOVVfG - i.d.F. vor dem SGB X; BSGE 39, 149 17 f. = SozR 3640 § 4 Nr. 2; BSGE 42, 283, 285 = SozR 3100 § 40a Nr. 4; BSGE 48, 56, 59 = SozR 2200 § 368a Nr. 5; SozR 1500 § 77 Nr. 18). Das Versorgungsamt stützte die Anerkennung einer Hilflosigkeit unter Zitieren des § 62 BVG darauf, daß sich die maßgebenden Verhältnisse gegenüber dem Zustand von 1976 geändert hätten. Ob dies rechtmäßig war, was fraglich ist, ist in diesem Verfahren nicht zu prüfen. Die bezeichnete Rechtsgrundlage ist hier allein für die Auslegung des Bescheides vom 30. Juni 1977 bedeutsam. Gegenüber 1976 hatten sich die gesundheitlichen Verhältnisse der Klägerin nicht verschlechtert. Etwas anderes war auch im Antrag, auf den der Bescheid Bezug nahm, nicht behauptet worden; er hatte bloß auf eine bestimmte rechtliche Beurteilung verwiesen. Dann konnte sich als Voraussetzung für die Neufeststellung allein der rechtliche Beurteilungsmaßstab zugunsten der Klägerin geändert haben. Das war für das Versorgungsamt offenbar die zuvor genannte Sonderweisung, nach der dialysebehandelte Behinderte bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres "stets" als hilflos beurteilt werden sollten. Der Fortfall dieser tatsächlichen Voraussetzung, des für die Hilflosigkeit erheblichen Alters, berechtigte die Verwaltung Rücknahme der Anerkennung.
Die neue Entscheidung zuungunsten der Klägerin wurde 1980 nach demselben Rechtsmaßstab wie 1977 getroffen; das ist bei einer Neufeststellung wegen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse erforderlich. Die ministeriell sanktionierte Übereinkunft der beratenden Ärzte, daß bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres die Kinder mit Dialysebehandlung "stets" als hilflos anzusehen sind, war inzwischen in die 1978 erschienenen, mit einem Vorwort vom November 1977 eingeleiteten "Anhaltspunkte" Ausgabe 1977 übernommen worden (S. 13 und 14), auf die der BMA im Rundschreiben vom 9. Februar 1978 (BVBl. 1978 S. 19 Nr. 5) verwies. § 3 Abs. 1 Nr. 2 der 4. Verordnung zur Durchführung des SchwbG - Ausweisverordnung - vom 15. Mai 1981 (BGBl. I 431), worin ein entsprechender Inhalt fehlt, trat erst nach dem Widerspruchsbescheid vom 27. Februar 1981 in Kraft (§ 11).
Entgegen der Ansicht des LSG ist für den Eingriff in die Bestandskraft, der auf die nachträgliche Änderung des Alters gestützt worden ist, nicht rechtserheblich, ob die Verwaltung sich von einer Rechtsnorm im Sinn einer Gesetzes- oder Verordnungsvorschrift und außerdem von einer zutreffenden Rechtsgrundlage hatte bestimmen lassen. Zu den für einen Verwaltungsakt bedeutsamen Tatsachen, deren Änderung zur Rücknahme berechtigt, können auch solche gehören, die auf Grund einer unrichtigen rechtlichen Beurteilung erheblich waren. In einem solchen Fall darf allein entsprechend dem Ausmaß der tatsächlichen Änderung neu entschieden werden (für die Rentenversicherung: BSGE 35, 277, 278 f. SozR Nr. 21 zu § 1286 RVO). Das widerspricht gerade nicht dem Rechtsgrundsatz, daß die unveränderte rechtliche Beurteilungsgrundlage, falls ein Verwaltungsakt entsprechend dem Ausmaß einer nachträglichen Änderung der Tatsachen zurückgenommen wird, übernommen werden und unberührt bleiben muß, wie der erkennende Senat in dem vom LSG und vom Beklagten zitierten Urteil vom 18. November 1971 - 9 RV 512/70 - entschieden hat. Die Neufeststellung berichtigt dann nicht die frühere Entscheidung wegen einer ursprünglichen Unrichtigkeit, was sich nach § 41 KOVVfG a.F. und § 45 SGB X richten müßte (vgl. zu diesem Unterschied: Urteil des erkennenden Senats vom 13. Dezember 1984). Wenn sich die tatsächlichen Verhältnisse zuungunsten des Berechtigten gegenüber einem rechtsverbindlich, aber rechtswidrig geregelten Zustand verändern, besteht kein stärkeres rechtlich schutzwürdiges Interesse am Bestand eines Verwaltungsaktes, als wenn der Bescheid auf einer zutreffenden Rechtsgrundlage beruhte.
Wenn demnach die Verwaltung die Hilflosigkeit allein mit Rücksicht auf das Alter der Klägerin anerkannt hatte und dies wegen Erreichens der maßgebenden Altersgrenze zurücknehmen durfte, kommt es auf die gesundheitlichen Verhältnisse des einzelnen Schwerbehinderten nicht an. Solche Tatsachen waren 1977 für die Annahme einer Hilflosigkeit nicht bedeutsam. Das Versorgungsamt richtete sich auch nicht erkennbar nach der anderen, an § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG angelehnten Sonderrichtlinie des Rundschreibens vom 22. Dezember 1976 ( a.a.O.), daß bei Kindern jeden Alters für die Hilflosigkeit auch solche Hilfeleistungen bedeutsam seien, die die körperliche und geistige Entwicklung fördern, außerdem die Anleitung zu den notwendigen Verrichtungen des täglichen Lebens. Von diesen Besonderheiten sollte im allgemeinen anzunehmen sein, daß sie nach Abschluß der Pubertät entfielen. Das war wohl 1977 bereits bei der fast 17 Jahre alten Klägerin anzunehmen. In den beiden Stellungnahmen, die dem Bescheid vom 30. Juni 1977 zugrunde lagen, wurde demgemäß überhaupt nicht erörtert, ob die Klägerin, was ihr Vater als gesetzlicher Vertreter im Antrag unter Hinweis auf ein Rundschreiben des Vereins "künstliche Niere" gemeint haben könnte, allein wegen der Dialysebehandlung hilflos sei.
Mithin mußte die Klage abgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.9a RVs 2/84
Bundessozialgericht
Fundstellen