Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung Einkommensteuer/Lohnsteuer/Kirchensteuer

 

Leitsatz (amtlich)

Ein "vorsorglich" eingelegtes Rechtsmittel erzeugt alle Wirkungen eines Rechtsmittels. Die Zurücknahme eines solchen Rechtsmittels begründet grundsätzlich die Kostenpflicht.

Bei Zurücknahme eines "vorsorglich" eingelegten Rechtsmittels ist es nicht grundsätzlich unbillig, die Kosten zu erheben.

 

Normenkette

AO § 311 Abs. 3, § 251/2, § 319 Abs. 1, § 253/1; StAnpG § 2

 

Tatbestand

An den Eigentümer des Grundstücks in S., F.-Straße 2, erging am 23. August 1955 ein Nachfeststellungsbescheid über den Einheitswert des Grundstücks auf den 1. Januar 1956. Gegen diesen Nachfeststellungsbescheid legte der Vertreter des Grundstückseigentümers am 26. September 1955 "vorsorglich" Einspruch ein. Am 9. November 1955 erinnerte das Finanzamt den Vertreter mündlich an die Nachreichung der Einspruchsbegründung. Daraufhin teilte dieser am 21. November 1955 dem Finanzamt mit: "Den am 26. September 1955 vorsorglich eingelegten Einspruch gegen den obengenannten Bescheid ziehe ich hiermit zurück, mit der Bitte, von Kostenberechnung abzusehen." Dem Antrag auf Kostenbefreiung hat das Finanzamt nicht entsprochen, sondern mit Bescheid vom 17. Januar 1956 die Kosten auf 5,50 DM festgesetzt. Die Beschwerde gegen die Kostenfestsetzung verlief bei der Oberfinanzdirektion erfolglos. Das Finanzgericht hat dagegen die Beschwerdeentscheidung aufgehoben und die Rechtsmittelkosten erlassen. Es begründet sein Urteil wie folgt: Der § 319 der Reichsabgabenordnung (AO) ermächtigte die Behörden zum Erlaß der Rechtsmittelgebühren und der Auslagen; ein solcher Erlaß sei darum in das Ermessen der Behörde gestellt. Im vorliegenden Fall sei die Zurückweisung des Antrags auf Kostenerlaß unbillig. Nach Erklärung der Oberfinanzdirektion entspreche es einer ständigen Verwaltungsübung, daß in Fällen vorsorglich eingelegter Rechtsmittel, wenn am Ende der Rechtsmittelfrist noch nicht völlige Klarheit über die Rechtslage bestehe, bei späterer Rücknahme des Rechtsmittels regelmäßig unter Berufung auf § 319 Abs. 1 AO von der Erhebung der Rechtsmittelkosten abgesehen werde. Der Kostenerlaß für vorsorglich zwecks Fristwahrung eingelegte und später zurückgenommene Rechtsmittel sei ein Fall des § 319 Abs. 1 AO. Das folge schon daraus, daß die vorsorgliche Rechtsmitteleinlegung zur Wahrung der Frist ohne Kostenfolge heute bei der Schwierigkeit und Vielzahl der Steuergesetze und Steuerbescheide, die dazu führten, daß die Richtigkeit der Steuerbescheide oft nur nach längerer Prüfung festgestellt werden könne, zu einer unbedingten Notwendigkeit der Praxis geworden sei. Das Wort "vorsorglich" bringe zum Ausdruck, daß sich der Pflichtige noch nicht schlüssig sei, ob er ein Rechtsmittelverfahren durchführen wolle, und daß die Einlegung des Rechtsmittels zunächst allein den Zweck verfolge, die Rechtskraft zu hemmen. Es deute dem Sachbearbeiter von vornherein an, daß er das Rechtsmittel bis zur endgültigen Klärung nicht zu bearbeiten brauche. Wenn keine besonderen Umstände vorlägen, sei es unbillig, in solchen Fällen, die kein Tätigwerden der Behörden erforderten, Rechtsmittelkosten zu erheben. Die Entscheidung der Oberfinanzdirektion verstoße aber auch gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG), weil hier ein Sachverhalt gegenüber der Behandlung gleichartiger Fälle durch die Verwaltungsübung zum Nachteil des Steuerpflichtigen ungleich behandelt werde.

Wegen der Grundsätzlichkeit der Entscheidung hat das Finanzgericht trotz des geringen Streitwertes die Rechtsbeschwerde (Rb.) zugelassen.

Gegen das Urteil des Finanzgerichts hat die Oberfinanzdirektion Rb. eingelegt und unrichtige Anwendung des bestehenden Rechts gerügt. Es entspreche nicht der Verwaltungsübung, daß von der Erhebung der Kosten dann abgesehen werde, wenn das Finanzamt in bezug auf das Rechtsmittel eine Tätigkeit entwickelt habe, die über das intern Veranlaßte hinausgehe. Es treffe zwar zu, daß im allgemeinen bei Zurücknahme eines Rechtsmittels von der Erhebung der Rechtsmittelkosten abgesehen werde, wenn es noch zu keiner Bearbeitung der Sache durch die Behörde gekommen sei. Im vorliegenden Fall sei aber das Finanzamt in die Bearbeitung der Sache eingetreten, und darum sei kein Grund zum Erlaß der Rechtsmittelkosten gegeben.

 

Entscheidungsgründe

Obwohl der Beschwerdegegner (Bg.) mündliche Verhandlung beantragt hat, erscheint es dem Senat zweckmäßig, gemäß § 294 Abs. 2 AO vorerst durch Vorbescheid zu entscheiden.

Die Rb. führt zur Aufhebung der Vorentscheidung. Das Finanzgericht ist ohne Rechtsirrtum davon ausgegangen, daß die "vorsorgliche" Einlegung eines Rechtsmittels alle Wirkungen eines solchen erzeugt, insbesondere das Eintreten der Rechtskraft hemmt. Der erkennende Senat hat bereits in dem Urteil III 342/57 U vom 10. Januar 1958 (Bundessteuerblatt - BStBl - 1958 III S. 119) betont, daß aus Gründen der Rechtssicherheit Klarheit darüber bestehen muß, ob ein Rechtsmittel schwebt oder nicht. Aus prozessualen Gründen kann die Rechtsmitteleinlegung weder an eine Bedingung geknüpft noch sachlich eingeschränkt werden. Es wäre auch nicht gerechtfertigt, einer solchen vorsorglichen Einlegung des Rechtsmittels die Wirksamkeit eines solchen zu versagen; wäre eine solche Rechtsmitteleinlegung ungültig, so träfe den Steuerpflichtigen in diesen Fällen die Rechtskraft des Steuerbescheides.

Hat aber ein Beteiligter ein Rechtsmittel eingelegt, so enthält die AO klare Kostenvorschriften sowohl für den Fall des Unterliegens einer Partei wie auch für den Fall der Zurücknahme des Rechtsmittels; die Zurücknahme des Rechtsmittels muß ebenso wie die Einlegung eine klare prozessuale Lage schaffen. Darum tritt grundsätzlich die Kostenfolge des § 311 Abs. 3 AO auch dann ein, wenn ein vorsorglich eingelegtes Rechtsmittel zurückgenommen wird.

Das Finanzgericht hat weiter zutreffend ausgeführt, daß § 319 AO unter bestimmten Voraussetzungen den Behörden die Ermächtigung zum Erlaß der Rechtsmittelgebühren und der Auslagen gibt. Nach § 319 AO können die Kosten aus Billigkeitsgründen erlassen werden, wenn die Einlegung auf entschuldbarer Unkenntnis der Verhältnisse oder auf Unwissenheit beruht, oder wenn es aus sonstigen Gründen unbillig erscheint, die Kosten nach den gesetzlichen Vorschriften zu erheben. Dem Finanzgericht kann aber nicht darin beigetreten werden, daß es bei "vorsorglicher" Einlegung eines Rechtsmittels stets geboten ist, die Kosten aus Billigkeitsgründen zu erlassen. Sicherlich kann auch in einem solchen Falle Grund zum Erlaß der Rechtsmittelkosten vorliegen, es muß aber nicht so sein. § 319 AO ist eine Ermessensvorschrift; Ermessensentscheidungen sind nach § 2 Abs. 2 des Steueranpassungsgesetzes (StAnpG) nach Recht und Billigkeit zu treffen. Die richtige Ermessensentscheidung muß beiden Erfordernissen gerecht werden, d. h. die Belange des einzelnen und der Allgemeinheit sind gegeneinander abzuwägen (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs IV 33/52 U vom 6. März 1952, Slg. Bd. 56 S. 233, BStBl 1952 III S. 92). Diese Tatsache schließt schon aus, daß das Finanzamt in allen Fällen der vorsorglichen Rechtsmitteleinlegung die Kosten erlassen muß. Eine solche Auslegung würde dem Finanzamt jeden Ermessensspielraum nehmen, den ihm der Gesetzgeber zugebilligt hat. Die Ablehnung des Kostenerlasses kann darum nicht generell unbillig sein.

Außer den im Gesetz ausdrücklich genannten Gründen der entschuldbaren Unkenntnis der Verhältnisse oder Unwissenheit sprechen die Schwierigkeit der Rechtslage (Urteil des Bundesfinanzhofs IV 135/51 U vom 12. September 1951, Slg. Bd. 55 S. 477, BStBl 1951 III S. 192), der Wechsel der Rechtsprechung (vgl. Berger, Der Steuerprozeß S. 585) und ähnliche Gründe für den Kostenerlaß. Andererseits betont das Urteil des Bundesfinanzhofs IV 350/51 U vom 13. März 1952 (Slg. Bd. 56 S. 264, BStBl 1952 III S. 104), daß eine überschreitung der Ermessensgrenze nur dann gegeben ist, wenn der Ermessensakt nach der allgemeinen Auffassung unter Berücksichtigung der Belange der öffentlichen Hand mit den Grundsätzen der Billigkeit unvereinbar ist. Im vorliegenden Fall sind die Belange der öffentlichkeit nicht gering zu achten, da eine hemmungslose Ausweitung der "vorsorglichen" Rechtsmitteleinlegung das Prozeßverfahren erheblich stören würde. Abgesehen davon, daß die Vorschrift über die Rechtsmittelfristen ihre Bedeutung verlieren würde (weil der Steuerpflichtige in der Lage wäre, die Frist, sich zu entscheiden, beliebig zu verlängern), würde die Möglichkeit eröffnet, gegen alle Verfügungen des Finanzamts zunächst Rechtsmittel einzulegen, damit dem Finanzamt eine erhebliche Arbeitsbelastung aufzubürden und eine Vielzahl von Fällen in der Schwebe zu halten. Eine solche Folge entspricht weder dem Sinn des Gesetzes noch ist er mit einem geordneten Prozeßverfahren vereinbar. Das obenbezeichnete Urteil IV 350/51 U a. a. O. hat bereits betont, daß die Auferlegung der Kosten keine Ordnungsstrafe oder dergleichen darstellt und nicht davon abhängig ist, in welchem Umfange im Einzelfall Unkosten tatsächlich entstanden sind. Wenn die Anweisung der Oberfinanzdirektion dahingeht, die Rechtsmittelkosten stets zu erlassen, wenn es noch zu keiner Bearbeitung der Sache durch die Behörden gekommen ist, so berücksichtigt dies in sehr weitgehendem Maße die Interessen des Steuerpflichtigen. Es sind Fälle denkbar, bei denen ein Kostenerlaß nicht gerechtfertigt erscheint, obwohl eine Bearbeitung noch nicht stattgefunden hat und umgekehrt.

Im vorliegenden Falle hat der Bg. das Rechtsmittel erst zurückgenommen, nachdem er sechs Wochen nach Einlegung des Rechtsmittels an die Begründung seines Einspruchs erinnert worden ist; der Bg. hat hiernach keine Gründe angeführt, aus denen eine Billigkeitsmaßnahme hergeleitet werden könnte. Wenn das Finanzamt den Kostenerlaß abgelehnt hat, so liegt bei der oben dargestellten Interessenlage eine überschreitung der Ermessensgrenze nicht vor.

Der Bg. kann auch nicht für sich anführen, daß genau gleichgelagerte Fälle bei dem Finanzamt anders entschieden worden seien. Dieses Vorbringen ist nicht spezifiziert und nicht nachprüfbar. Wenn aber solche Fälle vorlägen, so wären sie unrichtig entschieden. Aus einer dem Gesetz widersprechenden Entscheidung könnte der Bg. für sich keine Rechte herleiten. Die Beschwerdeführerin hat aber auch dargetan, daß es nicht der Verwaltungsübung entspricht, von der Kostenerhebung abzusehen, wenn das Finanzamt in bezug auf das Rechtsmittel eine Tätigkeit entwickelt hat.

Hiernach kann auch von einem Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG keine Rede sein. Aus dem Akteninhalt ergibt sich nichts dafür, daß das Finanzamt willkürlich verfahren wäre und Gleiches ungleich behandelt hätte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 307 AO.

 

Fundstellen

Haufe-Index 409118

BStBl III 1958, 356

BFHE 1959, 219

BFHE 67, 219

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