Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorsteuerberichtigung vor In-Kraft-Treten des § 15a UStG 1999 n.F.
Leitsatz (amtlich)
1. Bei einem Gebäudeeigentümer, der in den Jahren 1992 bis 1996 an seinem Gebäude umfangreiche Modernisierungs- und Baumaßnahmen durchführte und beabsichtigte, das Gebäude an Gewerbetreibende zu vermieten und auf die Steuerfreiheit der Vermietungsumsätze zu verzichten, kam ein Vorsteuerabzug aus den Bauaufwendungen in den Jahren 1992 bis 1996 auch dann in Betracht, wenn er das Gebäude entgegen seiner ursprünglichen Absicht in den Jahren 1997 bis 1999 steuerfrei vermietete.
2. Es ist ernstlich zweifelhaft, ob die für die Jahre 1992 bis 1996 anerkannten Vorsteuerbeträge bei den Umsatzsteuerveranlagungen für die Jahre 1997 bis 1999 nach § 15a UStG 1993/1999 a.F. berichtigt werden können, oder ob damit unzulässigerweise der Regelung des Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG, § 15a UStG 1999 n.F. bereits in den Streitjahren 1997 bis 1999 Geltung verschafft wird, obwohl die Richtlinienbestimmung für Fälle der streitigen Art erst durch § 15a UStG 1999 n.F. mit Wirkung ab dem 1. Januar 2002 ordnungsgemäß in das innerstaatliche Recht umgesetzt worden ist und der Gesetzgeber eine Rückwirkung nicht angeordnet hat.
Normenkette
FGO § 69; UStG 1993 § 15a; UStG 1999 § 15a; EWGRL 388/77 Art. 20 Abs. 2; StÄndG 2001 Art. 18 Nr. 9 Buchst. a
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Die Antragstellerin und Beschwerdeführerin (Antragstellerin) ist seit 1992 Eigentümerin eines in X belegenen Grundstücks. Sie beabsichtigte, das Gebäude an verschiedene Gewerbetreibende zu vermieten und auf die Steuerfreiheit der Vermietungsumsätze zu verzichten. Deshalb wurden in den Jahren 1992 bis 1996 umfangreiche Modernisierungs- und Baumaßnahmen durchgeführt. Die ursprünglich beantragte Baugenehmigung war aber nicht genehmigungsfähig, so dass sich die Fertigstellung des Bauvorhabens verzögerte. Da sich die städtebaulichen Schwerpunkte in X während dieser Zeit verschoben, zogen sich die ursprünglichen Mietinteressenten bzw. Mieter zurück, so dass die Antragstellerin das gesamte Gebäude ab 1. Januar 1997 steuerfrei vermietete.
Im Rahmen eines außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahrens gewährte ihr der Antragsgegner und Beschwerdegegner (das Finanzamt ―FA―) entsprechend den Grundsätzen der neueren Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) und des Bundesfinanzhofs ―BFH― (vgl. z.B. EuGH-Urteil vom 8. Juni 2000, Rs. C-396/98, Schloßstraße, Slg. 2000, I-4279, Umsatzsteuer-Rundschau ―UR― 2000, 336 mit Anm. Widmann; BFH-Urteil vom 22. Februar 2001 V R 77/96, BFHE 194, 498) die geltend gemachten Vorsteuerbeträge für die Jahre 1992 bis 1996. Gleichzeitig erließ das FA die angefochtenen Umsatzsteuerbescheide für die Jahre 1997 bis 1999, in denen es die Vorsteuer gemäß § 15a des Umsatzsteuergesetzes (UStG 1993/1999) um jährlich 39 604,89 DM (10 % von 396 048,92 DM) berichtigte und die Umsatzsteuer auf jeweils 39 604 DM festsetzte (Umsatzsteuerbescheide vom 11. September 2001).
Die Antragstellerin legte gegen diese Bescheide Einspruch ein und beantragte zunächst beim FA die Aussetzung der Vollziehung der Bescheide. Nachdem das FA diesen Antrag zurückgewiesen hatte, beantragte die Antragstellerin beim Finanzgericht (FG) die Aussetzung der Vollziehung der Bescheide. Das FG, dessen Beschluss in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2002, 1338 veröffentlicht ist, wies den Antrag ebenfalls zurück; es meint § 15a UStG 1993/1999 a.F. sei richtlinienkonform oder analog auch auf die Fälle anzuwenden, in denen sich die Verwendungsabsicht noch während des Leistungsbezugs verändert.
Hiergegen richtet sich die vorliegende ―vom FG zugelassene― Beschwerde. Die Antragstellerin verweist darauf, dass der Gesetzgeber die Vorschrift des § 15a UStG 1999 erst mit Wirkung ab dem 1. Januar 2002 durch das Gesetz zur Änderung steuerlicher Vorschriften (Steueränderungsgesetz 2001 ―StÄndG 2001―) vom 20. Dezember 2001 (BGBl I 2001, 3794, BStBl I 2002, 4) an die o.g. Rechtsprechung angepasst habe. Sie beantragt, die Vollziehung der Umsatzsteuerbescheide für die Jahre 1997 bis 1999 ohne Sicherheitsleistung ab Fälligkeit in Höhe von jeweils 20 249 E (= 39 604 DM) bis einen Monat nach Ergehen der Einspruchsentscheidung auszusetzen.
Das FA ist dem Antrag entgegengetreten.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Aufhebung der Vollziehung der Umsatzsteuerbescheide 1997 bis 1999 entsprechend dem Antrag der Antragstellerin.
1. Nach § 69 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) kann das Gericht der Hauptsache einem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung eines Steuerbescheides unter den Voraussetzungen des § 69 Abs. 2 Sätze 2 bis 6 FGO entsprechen. Danach soll die Vollziehung ausgesetzt werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Steuerbescheides bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Ernstliche Zweifel i.S. des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO sind zu bejahen, wenn bei summarischer Prüfung des angefochtenen Steuerbescheides neben für seine Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der entscheidungserheblichen Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung von Tatfragen bewirken (vgl. BFH-Beschluss vom 10. Februar 1967 III B 9/66, BFHE 87, 447, BStBl III 1967, 182, seitdem ständige BFH-Rechtsprechung). Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen, so kann das Gericht ganz oder teilweise die Aufhebung der Vollziehung, auch gegen Sicherheitsleistung, anordnen (§ 69 Abs. 3 Satz 4 FGO).
2. Entgegen der Vorentscheidung ist ernstlich zweifelhaft, ob die angefochtenen Umsatzsteuerbescheide auf § 15a UStG 1993/1999 a.F. gestützt werden können.
Der Wortlaut dieser Vorschrift ist unstreitig nicht erfüllt. § 15a Abs. 1 Satz 1 UStG 1993/1999 a.F. lautet: "Ändern sich bei einem Wirtschaftsgut die Verhältnisse, die im Kalenderjahr der erstmaligen Verwendung für den Vorsteuerabzug maßgebend waren, innerhalb von fünf Jahren" (bei Grundstücken gemäß § 15a Abs. 1 Satz 2 UStG innerhalb von 10 Jahren) "seit dem Beginn der Verwendung, so ist für jedes Kalenderjahr der Änderung ein Ausgleich durch eine Berichtigung des Abzugs der auf die Anschaffungs- oder Herstellungskosten entfallenden Vorsteuerbeträge vorzunehmen." Im Streitfall war das Jahr 1997 das Kalenderjahr der erstmaligen Verwendung, da das Gebäude der Antragstellerin nach den streitbefangenen Baumaßnahmen erstmals im Jahre 1997 vermietet wurde. Die Verhältnisse im Streitjahr 1997 waren für den Vorsteuerabzug in den Jahren 1992 bis 1996 nicht maßgebend, da es nach der oben genannten Rechtsprechung auf die damals (in den Jahren 1992 bis 1996) beabsichtigte Verwendung und nicht auf die spätere tatsächliche Verwendung (im Jahre 1997) ankam; die Verhältnisse haben sich auch nicht gemäß § 15a Abs. 1 Satz 1 UStG 1993/1999 a.F. in den Streitjahren 1998 und 1999 geändert.
Es ist ernstlich zweifelhaft, ob die Vorsteuer entgegen dem Wortlaut des § 15a Abs. 1 Satz 1 UStG 1993/1999 a.F. berichtigt werden kann. Das FG hat dies bejaht; es meint, es liege eine Gesetzeslücke vor, die durch analoge Rechtsanwendung geschlossen werden könne. Eine derartige Schließung von Gesetzeslücken ist wohl nicht grundsätzlich unzulässig. Sie darf aber nicht im Widerspruch zu einer Gesetzesnorm stehen und rechtfertigt nicht die unmittelbare Anwendung von Richtlinienbestimmungen des Gemeinschaftsrechts zu Lasten des Steuerbürgers. Im Streitfall ist zweifelhaft, ob die Vorsteuerberichtigung gegen Art. 39 Abs. 6 StÄndG verstößt und unzulässigerweise die Regelung des Art. 20 der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) zu Lasten der Antragstellerin anwendet, obwohl die Richtlinienbestimmungen lediglich an die Mitgliedstaaten gerichtet sind und der Umsetzung in das nationale Recht bedürfen (vgl. Art. 249 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft).
Das FG hat zutreffend eine Gesetzeslücke bejaht. Nachdem die Rechtsprechung klargestellt hatte, dass in Fällen der vorliegenden Art ein Vorsteuerabzug auch dann möglich ist, wenn der Unternehmer lediglich beabsichtigt, steuerpflichtige Umsätze auszuführen, auch wenn es zur Ausführung dieser Umsätze tatsächlich nicht mehr kommt, war offenbar geworden, dass die Regelung des § 15a Abs. 1 Satz 1 UStG 1993/1999 a.F. zu kurz griff, indem sie für diese Fälle keine Vorsteuerberichtigung anordnete.
Dies widersprach den Vorgaben des Art. 20 der Richtlinie 77/388/EWG. Nach Art. 20 Abs. 2 Satz 1 der Richtlinie 77/388/EWG wird für Investitionsgüter eine Berichtigung vorgenommen, die sich grundsätzlich auf einen Zeitraum von fünf Jahren einschließlich des Jahres, in dem die Güter erworben oder hergestellt wurden, erstreckt. Abweichend von dieser Bestimmung können die Mitgliedstaaten für die Berichtigung einen Zeitraum von fünf vollen Jahren festlegen, der mit der erstmaligen Verwendung der Güter beginnt (Art. 20 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG). Bei Grundstücken, die als Investitionsgüter erworben wurden, kann der Zeitraum für die Berichtigung bis auf 20 Jahre verlängert werden (Art. 20 Abs. 2 Unterabs. 3 Richtlinie 77/388/EWG). Nach Art. 20 der Richtlinie der 77/388/EWG ist demzufolge die Vorsteuerberichtigung in allen Fällen geboten, in denen sich bei Investitionsgütern die für die den Vorsteuerabzug maßgeblichen Verhältnisse ändern.
Der deutsche Gesetzgeber hat die Vorsteuerberichtigung mit dem StÄndG 2001 neu geregelt. Durch Art. 18 Nr. 9 Buchst. a StÄndG 2001 ist § 15a Abs. 1 Satz 1 UStG wie folgt gefasst worden: "Ändern sich bei einem Wirtschaftsgut innerhalb von fünf Jahren ab dem Zeitpunkt der erstmaligen Verwendung die für den ursprünglichen Vorsteuerabzug maßgebenden Verhältnisse, ist für jedes Kalenderjahr der Änderung ein Ausgleich durch eine Berichtigung des Abzugs der auf die Anschaffungs- oder Herstellungskosten entfallenden Vorsteuerbeträge vorzunehmen." Diese Vorschrift ist gemäß Art. 39 Abs. 6 StÄndG am 1. Januar 2002 in Kraft getreten.
FA und FG haben mit ihren Entscheidungen zur Vorsteuerberichtigung im Streitfall praktisch der Regelung des Art. 20 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG, § 15a UStG 1999 n.F. bereits in den Streitjahren 1997 bis 1999 Geltung verschafft, obwohl die Richtlinienbestimmung für Fälle der streitigen Art erst mit Wirkung ab dem 1. Januar 2002 ordnungsgemäß in das innerstaatliche Recht umgesetzt worden ist. Eine Rückwirkung hat der Gesetzgeber nicht angeordnet; es gibt auch keine Anhaltspunkte dafür, dass er in der Neufassung des § 15a UStG 1999 lediglich eine Klarstellung der bisherigen Rechtslage gesehen hat (vgl. BTDrucks 14/7341 abgedruckt in Sölch/Ringleb, Umsatzsteuergesetz, § 15a Rz. 4a). Damit ist zweifelhaft, ob FA und FG die der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung gezogenen Grenzen (vgl. Art. 20 des Grundgesetzes) eingehalten haben.
Aus dem Senatsurteil vom 16. Mai 2002 V R 56/00 (BFH/NV 2002, 1265) folgt nichts anderes. Der BFH hat dort zwar in einem vergleichbaren Fall dem FG aufgegeben, zu prüfen, ob im Jahr 1993 eine Vorsteuerberichtigung vorzunehmen ist; er hat sich aber nicht dazu geäußert, ob es für eine derartige Vorsteuerberichtigung eine Rechtsgrundlage gibt.
3. Die angefochtenen Umsatzsteuerbescheide sind mit auf § 233a der Abgabenordnung (AO 1977) gestützten Zinsbescheiden verbunden. Hierin ist eine Vollziehung der angefochtenen Umsatzsteuerbescheide i.S. des § 69 Abs. 3 Satz 4 FGO zu sehen. Deshalb war auch dem Antrag auf (rückwirkende) Aufhebung der Vollziehung der Bescheide stattzugeben.
Fundstellen
Haufe-Index 930814 |
BFH/NV 2003, 874 |
BFHE 2003, 561 |
BFHE 201, 561 |
BB 2003, 1108 |
DStRE 2003, 754 |
HFR 2003, 711 |
UR 2003, 454 |