Rz. 299

Aufgrund der vom Gesetzgeber in § 370 Abs. 3 AO gewählten sog. Regelbeispielstechnik ergeben sich allerdings Probleme für die Anwendung des § 371 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 AO. Der Gesetzgeber hat Beispiele gebildet, bei deren Vorliegen i. d. R. (Indizwirkung) ein besonders schwerer Fall vorliegt. Trotz Vorliegen eines solchen Beispiels kann sich aber bei einer Gesamtwürdigung der Tatumstände und der Täterpersönlichkeit ergeben, dass diese Vermutung im Einzelfall nicht zutrifft und somit kein besonders schwerer Fall vorliegt. Es handelt sich folglich bei einem Regelbeispiel nicht um einen (Straf-)Tatbestand, sondern um eine Strafzumessungsregel. Die Regelwirkung entfällt somit, wenn strafzumessungserhebliche Tatumstände jeweils für sich oder in ihrer Gesamtheit so gewichtig sind, dass das Unrecht der Tat oder die Schuld deutlich vom Regelfall abweicht und deshalb die Anwendung des erschwerten Strafrahmens unangemessen erscheint.[1]

 

Rz. 300

Vor diesem Hintergrund müsste für jeden Tatbeteiligten und jede Tat jeweils gesondert unter Berücksichtigung aller strafzumessungserheblichen Tatumstände geklärt werden, ob ein besonders schwerer Fall der Steuerhinterziehung vorliegt – eine Prüfung, die eigentlich im Rahmen der Strafzumessung dem Richter obliegt. Wie auch im Rahmen des § 376 AO ist eine solche Einzelfallprüfung durch den jeweils mit der Selbstanzeige befassten Steuerberater, Anwalt, BuStra-Sachbearbeiter oder Staatsanwalt wenig sinnvoll und nur eingeschränkt aussagekräftig im Hinblick auf die spätere gerichtliche Entscheidung.[2] Folglich bedarf es insoweit eines praxistauglichen vereinfachenden Vorgehens. Für das Vorliegen eines Regelbeispiels nach § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 bis 6 AO im Rahmen des § 371 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 AO ist somit – vergleichbar dem Vorgehen im Rahmen des § 376 AO – darauf abzustellen, ob die im Gesetz genannten Voraussetzungen für einen besonders schweren Fall vorliegen, nicht hingegen, ob die Indizwirkung des Regelbeispiels für die Strafzumessung nach der Würdigung etwaiger Strafmilderungsgründe entfällt und die Tat nur als "einfache" Steuerhinterziehung geahndet wird.[3]

 

Rz. 300a

Nach der Rechtsprechung besteht auch die Möglichkeit "versuchter Regelbeispiele".[4] Insoweit ist allerdings umstritten, welche Auswirkungen sich daraus im Rahmen des § 371 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 AO ergeben. Es besteht noch Einigkeit, dass – anders als beim Sperrtatbestand des § 371 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 AO – versuchte Steuerhinterziehungen vom Wortlaut des § 371 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 AO nicht ausgeschlossen sind. Geht man nun davon aus, dass § 371 AO als Spezialvorschrift die Anwendbarkeit des strafbefreienden Rücktritts gem. § 24 StGB ausschließt, so ergibt sich daraus die Gefahr, dass der Versuchstäter gegenüber demjenigen, der eine versuchte Steuerhinterziehung begangen hat, schlechter gestellt wird. Dies ergibt sich daraus, dass § 398a AO an eine vollendete hinterzogene Steuer anknüpft, so dass der Versuchstäter über diese Vorschrift keine Verfahrenseinstellung erreichen könnte. Folglich wird erwogen, § 371 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 AO dahingehend einschränkend auszulegen, dass er lediglich auf vollendete Steuerhinterziehungen anwendbar ist[5] oder den Versuchstäter von der Steuernachentrichtung und der Verpflichtung zur Zahlung eines Zuschlags freizustellen.[6]

Diese mit dem Wortlaut der jeweiligen Norm nicht vereinbaren Versuche, den Versuchstäter nicht schlechter zu stellen, als den Täter einer vollendeten Steuerhinterziehung, basieren auf dem angenommenen Verhältnis zwischen § 371 AO und § 24 StGB und sind ein weiteres Indiz dafür, dass die These vom Vorrang des § 371 AO unzutreffend ist. Nach der hier vertretenden h. M. sind § 371 AO und § 24 StGB nebeneinander anwendbar, sodass der Rücktritt vom Versuch gem. § 24 StGB es gerade ermöglicht, bezüglich versuchter Steuerhinterziehungen zurückzutreten (vgl. Rz. 401ff.). Folglich besteht die von der Gegenmeinung aufgeworfene Problemstellung nach dieser Ansicht nicht. Es besteht mithin auch keine Notwendigkeit für wortlautwidrige Auslegungen, da der Täter eines versuchten Regelbeispiels über § 24 StGB Straffreiheit erlangen kann.

[2] Ähnlich Kohler, in MüKo StGB Bd. 7, 2. Aufl., § 371 AO Rz. 304.
[3] Nikolaus, in Schwarz/Pahlke, AO/FGO, § 376 AO Rz. 5; im Rahmen des § 371 Abs. 2 AO das Vorliegen eines besonders schweren Falls auch bei geringfügigen Steuerschäden oder nur abstrakter Steuergefährdung ausschließend Kohler, in MüKo StGB Bd. 7, 2. Aufl., § 371 AO Rz. 304; vgl. auch Schauf, in Kohlmann, Steuerstrafrecht, 59. Lfg. 11/17, § 371 AO Rz. 783; wie hier hingegen im Rahmen des § 376 AO BGH v. 13.6.2013, 1 StR 226/13, wistra 2013, 471; BGH v. 5.3.2013, 1 StR 73/13, wistra 2013, 280; Klein/Jäger, AO, 15. Aufl. 2020, § 376 Rz. 11; Joecks, in Joecks/Jäger/Randt, Steuerstrafrecht, 8. Aufl. 2015, § 376 AO Rz. 24; Rolletschke, in Rolletschke/Kemper, Steuerstrafrecht, 109. Lfg. 10/17, § 376 AO Rz. 11f.; vgl. auch die Gesetzgebun...

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