Rz. 25

Liegen die Voraussetzungen vor, steht es im Ermessen der Verwaltung, ob ein Vorbehalt beigefügt werden soll. Der Ermessensrahmen ist denkbar weit. Es genügt, dass die Möglichkeit einer Nachprüfung besteht.[1] Ermessensfehlerhaft wäre die Beifügung eines Vorbehalts nur in den praktisch wohl kaum vorkommenden – und festzustellenden – Fällen, dass bereits feststeht, dass keine Nachprüfung mehr erfolgen wird.[2] Das Ermessen kann nach der ausdrücklichen Regelung des § 164 Abs. 1 S. 1 AO im Einzelfall oder aufgrund allgemeiner Regeln (Ermessensrichtlinien) ausgeübt werden. Es bestehen z. B. keine Bedenken, wenn die Finanzbehörde aufgrund einer allgemeinen Dienstanweisung bei Großbetrieben die Steuerfestsetzung generell unter Vorbehalt der Nachprüfung vornimmt, um die Durchführung von Außenprüfungen abzuwarten.[3] Es ist auch nicht zu beanstanden, wenn die Verwaltung darüber hinaus alle Veranlagungen, bei denen die Tatbestandsvoraussetzungen der Vorschrift vorliegen, unter dem Vorbehalt der Nachprüfung durchführt. Das Gesetz fordert für die Beifügung des Vorbehalts keine Begründung, geht also davon aus, dass, wenn der Tatbestand des § 164 AO vorliegt, der Sachverhalt also noch nicht abschließend geprüft ist, die Vorbehaltsfestsetzung schlechthin ohne Weiteres zulässig ist. Es besteht auch keine Verpflichtung der Finanzbehörde, einen Teil oder die Mehrzahl der Fälle sofort abschließend zu prüfen.[4] Wann diese Prüfung erfolgt, liegt, im Rahmen der gesetzlichen Regelungen (z. B. Festsetzungsfrist), allein in der Organisationsgewalt der Behörde. Die Ansicht, es dürften nicht generell alle Veranlagungen unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergehen[5], stellt daher eine vom Gesetz nicht gedeckte Einschränkung des § 164 AO dar. Im Übrigen ist das Interesse der Behörde auch nicht einseitig auf eine möglichst weitgehende Anwendung des § 164 AO gerichtet. Die Änderungsmöglichkeit des § 164 AO wirkt in vielen Fällen auch zugunsten des Stpfl., so etwa bei Entscheidungen des BFH, des BVerfG und des EuGH.[6] Wegen der mit § 164 AO verbundenen uneingeschränkten Möglichkeit von Änderungsanträgen des Stpfl. könnte eine umfassende Beifügung des Vorbehalts auch zu einer Mehrarbeit führen, die nicht im Interesse der Finanzbehörde liegen dürfte. Dies allein wird aber das Interesse des Stpfl. an der Bestandskraft der Steuerfestsetzung nicht hinreichend sicherstellen.

 

Rz. 26

Der Stpfl. hat grundsätzlich keinen Rechtsanspruch (Ermessensreduzierung auf Null) auf Beifügung des Vorbehalts der Nachprüfung.[7] Ein Anspruch des Stpfl. auf Beifügung eines Vorbehalts besteht auch deshalb nicht, weil er gegen die Steuerfestsetzung Rechtsmittel einlegen und im Rechtsbehelfs- bzw. Klageverfahren tatsächliche und rechtliche Zweifelsfragen klären kann.[8] Bei tatsächlicher Unsicherheit ist lediglich eine Vorläufigkeit nach § 165 AO möglich. Auch bei verfassungsrechtlichen Zweifelsfragen muss der Stpfl. erforderlichenfalls Verfassungsbeschwerde erheben; er kann nicht die Beifügung eines Vorbehalts verlangen.[9] Auch im Falle der Schätzung der Besteuerungsgrundlagen nach § 162 Abs. 1 AO kann der Stpfl. aus § 164 Abs. 1 AO – selbst bei vorübergehender Hinderung an der Konkretisierung seiner Besteuerungsgrundlagen – keinen Rechtsanspruch auf eine Vorbehaltsfestsetzung herleiten.[10]

Denn dem Interesse des Stpfl., die Besteuerungsgrundlagen im Nachhinein zu beziffern und zu konkretisieren, ist durch die Möglichkeit der Einlegung von Rechtsmitteln Genüge getan.[11] Der Wortlaut des § 164 Abs. 1 S. 1 AO gibt allein der Finanzbehörde die Möglichkeit, nach ihrem Ermessen eine abschließende Prüfung zurückstellen, nicht aber dem Stpfl. einen Anspruch hierauf.[12] Ein solcher Anspruch des Stpfl. auf Aufnahme des Vorbehalts ergibt sich auch nicht aus AEAO zu § 162, Tz. 4 i. V. m. Art. 3 Abs. 1 GG und den Grundsätzen der Selbstbindung der Verwaltung.[13] Danach ist die Steuer bei Schätzung der Besteuerungsgrundlagen nur dann unter dem Nachprüfungsvorbehalt festzusetzen, wenn eine spätere Überprüfung aufgrund einer vorgesehenen Außenprüfung oder zu erwartender Erklärungsnachreichung beabsichtigt ist. Eine generelle Pflicht zur Aufnahme des Vorbehalts bei Schätzungsveranlagungen ergibt sich hieraus aber nicht.

Das gilt auch in Schätzungsfällen; der Stpfl. hat keinen Anspruch darauf, dass eine Schätzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung durchgeführt wird, damit er Zeit gewinnt, die Steuererklärungen einzureichen.

[2] Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 164 AO Rz. 17; Oellerich, in Gosch, AO/FGO ,§ 164 AO Rz. 23.
[3] So zu der vorläufigen Festsetzung nach § 100 Abs. 2 RAO BFH v. 13.3.1974, I R 39/72, BStBl II 1974, 436.
[4] Koenig/Gercke, AO, 4. Aufl. 2021, § 164 Rz. 29; tendenziell auch Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 164 AO Rz. 16.
[5] So Woerner/Grube, Die Aufhebung und Änderung von Steuerverwaltungsakten, 8. Aufl. 1988, 56.
[6] Drüen, StuW 2009, 97.
[7] Kein Rechtsanspruch im Allgemeinen: FG Rheinland-Pfalz v. 18.1...

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