Leitsatz (amtlich)
Ein Enkel hat keinen Anspruch auf Waisenrente, wenn er ursprünglich zwar in den Haushalt der Großeltern oder eines Großelternteils aufgenommen war, die Wohn- und Lebensgemeinschaft aber vor Eintritt des Versicherungsfalles ohne Aussicht auf ihre Wiederherstellung beendet wurde. An diesem Ergebnis wird dadurch nichts geändert, daß der Enkel später in den Haushalt des überlebenden Großelternteils aufgenommen wird (Abgrenzung zu BSG 1969-06-26 4 RJ 137/68= BSGE 29, 294).
Normenkette
RVO § 1262 Abs. 2 Nr. 8 Fassung: 1957-02-23, § 1267 S. 1 Fassung: 1957-02-23; BKGG § 2 Abs. 1 S. 1 Nr. 7 Fassung: 1964-04-14; KGG § 2 Abs. 1 S. 3 Fassung: 1957-07-27
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 11. Mai 1970 und das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 23. Juli 1968 werden aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
In diesem Rechtsstreit war die Frage zu entscheiden, ob der Klägerin für die Zeit vom 1. Januar 1964 bis 28. Februar 1968 Waisenrente aus der Rentenversicherung ihres Großvaters zusteht.
Die Beklagte hat dies verneint (Bescheid vom 4. Januar 1965). Sozialgericht (SG) und Landessozialgericht (LSG) haben der Klägerin dagegen die Waisenrente zugesprochen (Urteile des SG Mannheim vom 23. Juli 1968 und des LSG Baden-Württemberg vom 11. Mai 1970).
Das LSG ist von den folgenden Tatsachenfeststellungen ausgegangen: Die Klägerin - ein nichteheliches Kind - lebte von ihrer Geburt (24. Februar 1950) an in Wohngemeinschaft mit ihren Großeltern und deren minderjährigen Kindern. Ihre Mutter, die sich nie um sie kümmerte, hielt sich zu keiner Zeit in diesem Haushalt auf; ihr Vater ist unbekannt. Der Lebensunterhalt der Klägerin wurde zum Teil aus Mitteln des Kreisjugendamtes H bestritten; im übrigen wurde sie von ihrer Großmutter versorgt. Die Familie lebte in ärmlichen Verhältnissen. Der trunksüchtige Großvater der Klägerin arbeitete nur unregelmäßig als Hilfsarbeiter. Einen großen Teil seines Lohnes gab er für alkoholische Getränke und Zigaretten aus; seine Ehefrau, die sich in "ordentlicher Weise" um die Familie gesorgt hat, mußte durch Taglohnarbeiten und durch Hausierhandel mit Walderzeugnissen zum Lebensunterhalt der Familie beitragen. Am 7. September 1962 wurde die Klägerin auf den Antrag ihrer Großmutter hin im Wege der freiwilligen Erziehungshilfe nach dem Jugendwohlfahrtsgesetz auf Kosten des Landesfürsorgeverbandes Nordbaden in einem Jugendheim untergebracht. Die Unterbringung war dringend erforderlich, weil die Großmutter infolge der Trunksucht ihres Ehemannes und der damit verbundenen Schwierigkeiten so belastet war, daß sie sich um die Erziehung ihres Enkelkindes nicht mehr kümmern konnte. Die Unterbringung erfolgte auf unbestimmte Zeit, jedoch unwiderruflich für die Dauer von 24 Monaten. Während eines Besuches der Klägerin bei ihren Großeltern Weihnachten 1963 starb ihr Großvater; ihm war kurze Zeit zuvor von der Beklagten die Erwerbsunfähigkeitsrente - ohne Kinderzuschuß für die Klägerin - zugesprochen worden. Wenige Monate später wurde die Klägerin vorzeitig aus dem Heim entlassen, weil nunmehr in den häuslichen Verhältnissen eine Besserung eingetreten war. Seit dem 16. August 1968 ist die Klägerin verheiratet.
In den Entscheidungsgründen hat das LSG ausgeführt: Anspruchsgrundlage seien im Hinblick auf den Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalles - Dezember 1963 - § 1267 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) i. V. m. § 1262 RVO in der bis zum 30. Juni 1964 gültigen Fassung und § 2 Abs. 1 Satz 3 des Kindergeldgesetzes (KGG) in der Fassung des Kindergeldänderungsgesetzes vom 27. Juli 1957. Der Rentenanspruch sei hiernach dann begründet, wenn die Klägerin vor Eintritt des Versicherungsfalles in den Haushalt ihrer Großeltern aufgenommen gewesen sei und deshalb - eine überwiegende Unterhaltsleistung durch die Großeltern scheide aus - als deren Pflegekind gelte. Diese Frage sei zu bejahen. Nach dem Wortlaut des Gesetzes sei auf den Haushalt der Großeltern abzustellen, hiernach genüge es, daß die Großmutter der Klägerin sich um diese gekümmert habe. Die Aufnahme in den Haushalt der Großeltern sei bis zur Heimunterbringung der Klägerin nicht zweifelhaft gewesen. Auch später habe sich daran nichts geändert, weil die räumliche Trennung nicht ohne weiteres zur Lösung aus dem Haushalt führe.
Gegen diese Entscheidung wendet sich die Beklagte mit der Revision. Sie ist der Meinung, daß es für die Entscheidung auf die Aufnahme der Klägerin in den Haushalt des Versicherten - nicht der Großeltern - ankomme. Diese Voraussetzung sei hier nicht erfüllt. Aber auch dann, wenn man der Auffassung des LSG folge, müsse jedenfalls mit der Unterbringung der Klägerin in dem Jugendheim eine Lösung aus dem Haushalt der Großeltern angenommen werden.
Die Beklagte beantragt,
die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin ist in der Revisionsinstanz nicht vertreten.
Die Revision führt zur Abweisung der Klage. Die Beklagte hat den Waisenrentenanspruch der Klägerin zu Recht abgelehnt.
Dem LSG ist darin zuzustimmen, daß die Entscheidung davon abhängt, ob die Klägerin vor Eintritt des Versicherungsfalles in den Haushalt ihrer Großeltern aufgenommen war (vgl. § 1267 Satz 1 RVO in Verbindung mit § 1262 RVO in der bis zum 30. Juni 1964 gültigen Fassung und § 2 Abs. 1 Satz 3 KGG). An dieser Voraussetzung fehlt es jedoch. Es kann offenbleiben, ob es der Aufnahme in den Haushalt des Versicherten bedarf (vgl. hierzu § 1262 Abs. 2 Satz 8 RVO in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Nr. 7 des Bundeskindergeldgesetzes - diese Vorschriften sind jedenfalls unmittelbar nicht anzuwenden, weil der Versicherungsfall vor ihrem Inkrafttreten eingetreten ist -) oder ob - wofür der Wortlaut des § 2 Abs. 1 Satz 3 KGG sprechen könnte - eine Aufnahme in den großelterlichen Haushalt schon dann vorliegt, wenn die insoweit erforderlichen Voraussetzungen zwischen dem Enkelkind und dem nichtversicherten Großelternteil erfüllt sind. Die Klägerin war in der Zeit vor Eintritt des Versicherungsfalles weder in den gemeinsamen Haushalt ihrer Großeltern noch in den eines Großelternteils aufgenommen. Dies mag bis zum Beginn der Heimerziehung anders gewesen sein. Damals scheint zwischen der Klägerin und ihrer Großmutter nicht nur eine Wohngemeinschaft, sondern eine familienähnliche Bindung bestanden zu haben, die dadurch charakterisiert war, daß die Großmutter das Kind versorgt und erzogen hat. Auf diese Zeitspanne kommt es jedoch nicht an, vielmehr muß auf die Folgezeit abgestellt werden.
Die Wohn- und Lebensgemeinschaft ist am 7. September 1962 durch die Verbringung der Klägerin in das Jugendheim aufgehoben worden. Die räumliche Trennung wäre für sich allein nicht entscheidend. Zur Verwirklichung einer Aufnahme in den Haushalt genügt nicht die Wohngemeinschaft (vgl. BSG 29, 292), ihrer Aufhebung kann daher für sich allein ebenfalls keine entscheidende Bedeutung zukommen. Das zeigt das Beispiel der Internatsunterbringung eines Schulkindes. Eine solche Unterbringung führt regelmäßig nicht zur Entlassung des Kindes aus dem elterlichen Haushalt. So liegt der vorliegende Fall jedoch nicht; die Heimunterbringung der Klägerin ist eher mit einer amtlich angeordneten Fürsorgeerziehung zu vergleichen. Einen Fall dieser Art hat der Senat bereits entschieden (vgl. BSG 29, 294). Er hat dort den Anspruch auf Waisenrente zwar bejaht, jedoch darauf hingewiesen, daß gute Gründe für die Aufhebung der Haushaltsgemeinschaft sprechen könnten. Daran hält der Senat weiter fest. Die Heimerziehung dient gerade dem Zweck, das Kind aus seiner bisherigen Umgebung zu entfernen, um in einem günstigen Sinn auf seine Erziehung einzuwirken. Die Anstaltserziehung tritt in einem solchen Fall an die Stelle der Erziehung durch die Eltern. Alle für die Aufnahme in den Haushalt bedeutsamen Merkmale - Versorgung, Erziehung, Beaufsichtigung - werden nunmehr durch die Heimleitung verwirklicht. So liegt es bei dem zu entscheidenden Fall. Wenn man trotz der Aufhebung der Wohngemeinschaft sowie der Übertragung der Versorgungs- und Erziehungsaufgaben auf die Heimleitung die Lösung aus dem Haushalt verneinen wollte, so müßte von dem Fortbestehen einer Lebensgemeinschaft im Sinne der weiteren Pflege enger Beziehungen zwischen den Beteiligten - die über die natürlichen Beziehungen zwischen Großmutter und Enkel hinausgehen - ausgegangen werden können. Der Wille und die begründete Aussicht darauf, die Haushaltsgemeinschaft in absehbarer Zeit wieder aufzunehmen, müßten hinzukommen. In dieser Hinsicht weicht der vorliegende Fall wesentlich von dem in BSG 29, 294 veröffentlichten ab. Anders als dort entsprach die Anordnung der Heimerziehung der Klägerin dem Willen und ausdrücklichen Antrag der Großmutter. Sie konnte das Kind wegen der in ihrem Haushalt bestehenden ungeordneten Verhältnisse nicht mehr versorgen. Sie fühlte sich überfordert. Ihr Wille zielte dahin, die Klägerin aus dem Haushalt zu entfernen. In der Folgezeit mag ihr Wunsch gelegentlich darauf gerichtet gewesen sein, die Klägerin in ihrer Umgebung zu wissen; das LSG schließt dies daraus, daß sie Weihnachten 1963 eine Besuchserlaubnis für das Kind erwirkte. Ein ernsthafter Wille auf Wiederaufnahme der Haushaltsgemeinschaft mit der Klägerin hat jedoch nicht bestanden. Die - zur Beantragung der Unterbringung führenden - häuslichen Verhältnisse hatten sich - bis zum Tode des Versicherten - zu keiner Zeit der Heimunterbringung der Klägerin geändert. Gründe, die für eine Änderung des Willens sprechen könnten, liegen nicht vor. Es bestand auch keine Aussicht auf Verwirklichung eines solchen - hypothetischen - Willens. Es war nicht abzusehen, daß sich in der Zeit, für die die Gewährung der Waisenrente noch in Betracht kommen konnte, die Verhältnisse in der Familie der Großmutter ändern würden. Alles dies schließt das Fortbestehen der Haushaltsgemeinschaft mit den Großeltern während der Heimerziehung der Klägerin aus. Die in BSG 29, 294 veröffentlichte Entscheidung beruht gerade auf dem Fortbestehen sowohl einer über das übliche Verhältnis zwischen Großeltern und Enkel hinausgehenden Lebensgemeinschaft und eines auf Wiederaufnahme der Haushaltsgemeinschaft gerichteten Willens, und zwar mit Aussicht auf Verwirklichung.
Die Urteile der Vorinstanzen können hiernach keinen Bestand haben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen