Verfahrensgang
LG München I (Urteil vom 01.06.2012) |
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München I vom 1. Juni 2012 gemäß § 349 Abs. 4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tatmehrheit mit schwerem sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Mit seiner Revision beanstandet der Angeklagte die Verletzung materiellen und formellen Rechts. Das Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.
Rz. 2
1. Die Revision des Angeklagten ist zulässig erhoben. Zwar reicht zur Wahrung einer Rechtsmittelfrist die Einreichung einer in fremder Sprache (hier: englischer Sprache) gehaltenen Rechtsmittelschrift an sich nicht aus (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Juli 1981 – 1 StR 815/80, BGHSt 30, 182 unter Hinweis auf § 184 GVG). Bei dem am 8. Juni 2012 bei Gericht eingegangenen und nur aus wenigen Zeilen bestehenden Schreiben des Angeklagten vom 5. Juni 2012 ist jedoch bereits der Betreffzeile zweifelsfrei zu entnehmen, dass der Angeklagte das gegen ihn am 1. Juni 2012 ergangene Urteil des Landgerichts München I mit dem dafür zulässigen Rechtsmittel (vgl. § 300 StPO) anfechten will (§ 341 Abs. 1 StPO). Dies genügte hier zur wirksamen Einlegung der Revision. Sie wurde vom Verteidiger des Angeklagten in deutscher Sprache begründet.
Rz. 3
2. Die Revision des Angeklagten hat bereits mit der Rüge der Verletzung des § 257c Abs. 5 StPO Erfolg. Auf die weiteren Rügen kommt es daher nicht mehr an.
Rz. 4
a) Der Verfahrensbeanstandung liegt folgendes Geschehen zugrunde:
Rz. 5
Dem Urteil des Landgerichts ging eine Verständigung gemäß § 257c StPO voraus. Darin sicherte das Landgericht dem Angeklagten für den Fall eines Geständnisses eine Gesamtfreiheitsstrafe von nicht mehr als drei Jahren und neun Monaten zu. Eine Belehrung im Sinne des § 257c Abs. 5 StPO wurde dem Angeklagten nicht erteilt. Im Hinblick auf die getroffene Verfahrensabsprache räumte der Angeklagte die ihm – nach Teileinstellung des Verfahrens gemäß § 154 Abs. 2 StPO noch – zur Last liegenden Tatvorwürfe vollumfänglich ein. Das Landgericht erachtete das Geständnis des Angeklagten insbesondere deshalb für glaubhaft, weil es sich mit den Angaben des Tatopfers, eines Kindes, die dieses im Ermittlungsverfahren und anlässlich einer richterlichen Videovernehmung gemacht hatte, im Kernbereich deckte (UA S. 13). Die Strafkammer hielt sich an die Verständigung und verhängte gegen den Angeklagten eine Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten.
Rz. 6
b) Mit seiner Revision macht der Angeklagte nun geltend, ihm sei zu Unrecht vor der Verständigung keine Belehrung über die Voraussetzungen und Folgen einer Abweichung des Gerichts von dem in Aussicht gestellten Ergebnis der Verständigung nach § 257c Abs. 4 StPO erteilt worden. Dies habe Auswirkungen auf sein Prozessverhalten gehabt. Wäre er gemäß § 257c Abs. 5 StPO belehrt worden, hätte er „in anderer Weise” (als durch ein Geständnis) auf die Beweisaufnahme eingewirkt und eventuell weitere Beweisanträge gestellt.
Rz. 7
Der Umstand, dass sich das Landgericht an die Verständigung gehalten habe, lasse ein Beruhen des Urteils auf dem Verstoß gegen die Belehrungspflicht aus § 257c Abs. 5 StPO nicht entfallen; denn bei einem Angeklagten, dem nicht bewusst sei, dass das Gericht von dem in der Verständigung in Aussicht gestellten Ergebnis unter den Voraussetzungen des § 257c Abs. 4 StPO abweichen darf, liege es nahe, dass er als Risiko seines Handelns – insbesondere seines Geständnisses – nur eine Verurteilung im Rahmen der gerichtlichen Zusage einkalkuliere. Die „Abwägungsentscheidung”, ob ein Angeklagter ein Geständnis ablege, könne aber anders ausfallen, wenn dieser die Voraussetzungen kenne, unter denen die Bindung des Gerichts an die Verständigung entfalle.
Rz. 8
c) Der vom Angeklagten geltend gemachte Rechtsfehler liegt vor. Die Belehrung gemäß § 257c Abs. 5 StPO ist eine wesentliche Förmlichkeit, die in das Sitzungsprotokoll aufzunehmen gewesen wäre (vgl. § 273 Abs. 1a Satz 2 StPO). Da es hieran fehlt, ergibt sich im Hinblick auf die negative Beweiskraft des Protokolls (§ 274 Satz 1 StPO), dass der Angeklagte nicht gemäß § 257c Abs. 5 StPO darüber belehrt wurde, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Folgen das Gericht von dem in Aussicht gestellten Ergebnis abweichen kann. Der Angeklagte wurde daher vom Gericht nicht in die Lage versetzt, eine autonome Entscheidung über seine Mitwirkung an der Verständigung zu treffen (vgl. hierzu BVerfG, Urteil vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10 und 2 BvR 2155/11 – Rn. 99, NJW 2013, 1058, 1067).
Rz. 9
d) Auf diesem Rechtsfehler beruht das Urteil. Die Voraussetzungen, unter denen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ausnahmsweise ein Beruhen des Urteils auf der Verletzung der Belehrungspflicht aus § 257c Abs. 5 StPO ausgeschlossen werden kann (vgl. BVerfG aaO Rn. 99), liegen nicht vor. Insbesondere bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass dem nicht vorbestraften Angeklagten auch ohne entsprechende Belehrung durch das Gericht – etwa aus anderen Strafverfahren oder Gesprächen mit seinem Verteidiger – bekannt gewesen sein könnte, wann die Bindung des Gerichts an eine Verständigung entfällt.
Rz. 10
Der Senat kann nicht ausschließen, dass sich der Verstoß gegen die Belehrungspflicht aus § 257c Abs. 5 StPO hier in der Weise ursächlich auf das Prozessverhalten des Angeklagten ausgewirkt hat, dass er kein Geständnis abgelegt und sich vielmehr gegen den Tatvorwurf verteidigt hätte, wenn er ordnungsgemäß belehrt worden wäre. Solches liegt zwar im Hinblick auf die Beweislage bei Anklageerhebung nicht nahe, ist aber angesichts des Umstandes, dass ohne das Geständnis des Angeklagten letztlich im Wesentlichen die Frage der Glaubhaftigkeit der Angaben eines Kindes zu den Vorwürfen an ihm begangener Taten (schweren) sexuellen Missbrauchs gemäß §§ 176, 176a StGB für den Tatnachweis ausschlaggebend sein könnte, auch nicht lediglich eine entfernte Möglichkeit. Insoweit in Betracht kommende Beweisanträge liegen auf der Hand. Der Umstand, dass die Bindung des Gerichts an die Verständigung hier nicht gemäß § 257c Abs. 4 StPO entfallen ist und das Landgericht die zugesagte Strafobergrenze eingehalten hat, schließt das Beruhen des Urteils auf dem Verfahrensverstoß nicht aus (vgl. BVerfG aaO Rn. 127).
Unterschriften
Rothfuß, Graf, Jäger, Cirener, Radtke
Fundstellen
Haufe-Index 4715676 |
NStZ-RR 2013, 350 |
AO-StB 2014, 20 |
RÜ 2013, 582 |
StRR 2013, 344 |
StV 2013, 611 |
StraFo 2013, 286 |