Verlustrücktrag und Kirchensteuerüberhang

Negative Einkünfte sind, soweit sie nach § 10d Abs. 1 EStG zurückgetragen worden sind, zeitlich nicht mehr dem Entstehungsjahr zuzuordnen und bilden demzufolge auch nicht (mehr) die Grundlage für die Ermittlung des Einkommens im Entstehungsjahr.

Der negative Gesamtbetrag der Einkünfte im Entstehungsjahr ist nach Durchführung des Verlustrücktrags um den Betrag der zurückgetragenen Einkünfte zu erhöhen. Der durch den Verlustabzug modifizierte Gesamtbetrag der Einkünfte bildet die Ausgangsgröße für die weitere Ermittlung des Einkommens.

Hintergrund: Gesetzliche Regelungen

Nach § 10d Abs. 1 Satz 1 EStG sind negative Einkünfte, die bei der Ermittlung des Gesamtbetrags der Einkünfte (GdE) nicht ausgeglichen werden, bis zu den in der Vorschrift bezeichneten Beträgen vom GdE des unmittelbar vorangegangenen Veranlagungszeitraums vorrangig vor Sonderausgaben, außergewöhnlichen Belastungen und sonstigen Abzugsbeträgen abzuziehen (Verlustrücktrag). Auf Antrag des Steuerpflichtigen ist ganz oder teilweise vom Verlustrücktrag abzusehen. Ohne Antrag auf Verlustvortrag wird der Verlustrücktrag von Amts wegen vorgenommen.

§ 10 Abs. 4b EStG regelt die Behandlung von Zuschüssen und Erstattungen bei den Sonderausgaben. Ein Erstattungsüberhang bei der gezahlten Kirchensteuer (§ 10 Abs. 1 Nr. 4 EStG) ist dem GdE hinzuzurechnen (§ 10 Abs. 4b Satz 3 EStG).

Sachverhalt: Rücktrag des GdE und Kirchensteuerüberhang

Die Klägerin erzielte im Jahr 2015 negative Einkünfte aus Gewerbebetrieb und Vermietung und Verpachtung sowie positive Einkünfte aus Kapitalvermögen und sonstige Einkünfte. Der GdE belief sich auf – 48.322 EUR. Zudem ergab sich ein Kirchensteuerüberhang von 61.109 EUR.

Das Finanzamt zog die nicht ausgeglichenen negativen Einkünfte in voller Höhe im Rücktragsjahr 2014 ab und rechnete den Kirchensteuerüberhang von 61.109 EUR dem – rechnerisch nach dem Verlustrücktrag 0 EUR betragenen – GdE zu.

Das FG gab der nach der erfolglosen Durchführung des Einspruchsverfahrens erhobenen Klage statt. Der Erstattungsüberhang sei nach § 10 Abs. 4b Satz 3 EStG dem GdE hinzuzurechnen. Dieser sei negativ gewesen. § 10d Abs. 1 EStG treffe keine Aussage, welche Auswirkungen ein Verlustrücktrag auf das Entstehungsjahr habe. Vor diesem Hintergrund habe die vom Finanzamt vorgenommene Neutralisierung des negativen GdE im Entstehungsjahr keine Rechtsgrundlage. Im Übrigen habe der BFH selbst ausgeführt, dass ein Erstattungsüberhang keine Einkommensteuer auslöse, wenn ein hoher negativer GdE vorliege. Dieser Fall könne aber nicht vorkommen, wenn ein zurückgetragener negativer Gesamtbetrag im Entstehungsjahr neutralisiert werden müsste.

Entscheidung: BFH gibt Finanzamt Recht

Der BFH hat entschieden, dass das FG rechtsfehlerhaft erkannt habe, dass die nach § 10d Abs. 1 EStG zurückgetragenen negativen Einkünfte im Entstehungsjahr einen Hinzurechnungsbetrag gemäß § 10 Abs. 4b Satz 3 EStG (Erstattungsüberhang) ausgleichen würde.

Keine ausdrückliche gesetzliche Regelung vorhanden

Der BFH führt hierzu aus, dass § 10d Abs. 1 EStG nicht ausdrücklich regele, welche Auswirkungen der Verlustrücktrag im Entstehungsjahr habe. Die Frage sei weder gerichtlich entschieden noch werde sie im Schrifttum erörtert.

Sei der GdE im Entstehungsjahr vor dem Verlustrücktrag negativ, wirke es sich (grundsätzlich) auf die Ermittlung des Einkommens und die Höhe der festzusetzenden Steuer nicht aus, ob er nach dem Verlustrücktrag um den zurückgetragenen Betrag und ggf. bis auf 0 EUR erhöht werde. Anders sei dies, wenn, wie im Streitfall, ein Hinzurechnungsbetrag nach § 10 Abs. 4b Satz 3 EStG (Erstattungsüberhang) das Einkommen erhöhe. Dann stelle sich die Frage, ob der negative GdE im Entstehungsjahr ungeachtet des Verlustrücktrags weiterhin die Grundlage für die Ermittlung des Einkommens im Entstehungsjahr bilde und den Hinzurechnungsbetrag, der sich steuererhöhend auswirke, mindere. Diese Frage sei zu verneinen.

Zurückgetragene negative Einkünfte können nicht mehr dem Entstehungsjahr zugeordnet werden

Negative Einkünfte seien, soweit sie nach § 10d Abs. 1 EStG zurückgetragen worden seien, zeitlich nicht mehr dem Entstehungsjahr zuzuordnen und bildeten demzufolge auch nicht (mehr) die Grundlage für die Ermittlung des Einkommens im Entstehungsjahr. Für den GdE der Einkünfte im Entstehungsjahr bedeute dies, dass er nach Durchführung des Verlustrücktrags um den Betrag der zurückgetragenen Einkünfte zu erhöhen sei. Seien die im Entstehungsjahr nicht ausgeglichenen negativen Einkünfte in voller Höhe zurückgetragen worden, betrage der GdE im Entstehungsjahr nach der Durchführung des Verlustrücktrags 0 EUR.

Das sei die Folge der materiell-rechtlichen Konzeption des § 10d Abs. 1 EStG und der Grundregeln der periodengerechten Einkommensermittlung. Die in zeitlicher Hinsicht ursprünglich dem Entstehungsjahr zuzuordnenden Einkünfte würden unter den Voraussetzungen des § 10d Abs. 1 EStG dem Rücktragsjahr zugeordnet und dort berücksichtigt.

Das bedeute, dass sie im Rücktragsjahr eine Ausgangsgröße (Besteuerungsgrundlage) für die Ermittlung des im Rücktragsjahr wirksam werdenden Verlustabzugs bildeten. Dadurch werde eine vom Grundfall abweichende, eindeutige zeitliche Zuordnung bewirkt, die es wie die ursprüngliche zeitliche Zuordnung ausschließe, dass die betroffenen Besteuerungsgrundlagen zugleich in einem anderen Besteuerungsabschnitt berücksichtigt würden. Denn die zugrunde liegende Annahme, dass ein besteuerungsrelevanter Sachverhalt bei der Ermittlung des Einkommens nur einmal, d. h. in einer bestimmten Periode, und nicht zugleich in einer anderen Periode berücksichtigt werden könne, werde durch die von § 10d Abs. 1 EStG materiell-rechtlich geänderte zeitliche Zuordnung nicht infrage gestellt, sondern bestätigt. Die eindeutige zeitliche Zuordnung aller Besteuerungsgrundlagen ermögliche es nicht nur, das Einkommen periodengerecht zu ermitteln; sie bezwecke zugleich, Doppel- und Mehrfachberücksichtigungen auszuschließen. Dies sei notwendig, um den relevanten Zuwachs an finanzieller Leistungsfähigkeit gleichmäßig und sachgerecht ermitteln zu können.

Hinweis: Verortung des § 10d EStG bei Ermittlung des zu versteuernden Einkommens

Eine andere steuerliche Beurteilung ergibt sich nicht daraus, dass die vorliegend streitige Hinzurechnung nach § 10 Abs. 4b Satz 3 EStG nicht bei der Ermittlung der Summe der Einkünfte bzw. des GdE, sondern bei der Ermittlung des Einkommens ansetzt. Zwar bildet nach § 2 Abs. 4 EStG der GdE den Ausgangspunkt für die weitere Ermittlung des Einkommens. Die Vorschrift knüpft damit begrifflich an § 2 Abs. 3 EStG an. Die durch den Verlustrücktrag nach § 10d Abs. 1 EStG bewirkte Veränderung dieser Größe ist jedoch nicht etwa systemfremd, sondern dem Umstand geschuldet, dass der Verlustabzug nach § 10d EStG in dem durch § 2 EStG vorgegebenen Schema der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens zwischen § 2 Abs. 3 und Abs. 4 EStG zu verorten ist. Zwar bezieht sich die Formulierung „vorrangig vor Sonderausgaben“ in § 10d Abs. 1 EStG auf das Rücktragsjahr. Für den Verlustvortrag gilt aber Entsprechendes. Auch er wird „vorrangig vor Sonderausgaben“ abgezogen (§ 10d Abs. 2 Satz 1 EStG). In der Zusammenschau kommt verallgemeinerbar zum Ausdruck, an welcher Stelle im Schema des § 2 EStG der Verlustabzug durchzuführen ist. Für das Entstehungsjahr kann insofern nichts anderes gelten. Allerdings ist der Wortlaut des § 2 EStG insofern unscharf, als begrifflich zwischen dem GdE vor der Durchführung des Verlustabzugs (§ 2 Abs.3 EStG) und danach (§ 2 Abs. 4 EStG) unterschieden werden muss.

BFH, Urteil v. 3.5.2023, IX R 6/21; veröffentlicht am 3.8.2023

Alle am 3.8.2023 veröffentlichten Entscheidungen des BFH mit Kurzkommentierungen


Schlagworte zum Thema:  Verlustrücktrag, Einkommensteuer, Sonderausgaben