Steuerermäßigung für zusammengeballte Überstundenvergütungen
Hintergrund: Nachträgliche Überstundenvergütung
X war als Arbeitnehmer (d.h. nichtselbständig) tätig. In den Jahren 2013 bis 2015 hatte er jedes Jahr Überstunden geleis-tet, die nicht ausgehzahlt wurden.
Im August 2016 vereinbarte X mit seinem Arbeitgeber die Auf-hebung des Arbeitsvertrags zum 30.11.2016. Der Aufhebungs-vertrag sah vor, dass der Arbeitgeber mit der Lohnabrechnung für August 2016 rückwirkend für die Vorjahre die 330 geleisteten und bislang nicht ausgezahlten Überstunden mit insgesamt 6.000 EUR brutto vergütet.
Das FA erfasste die Vergütung als Einkünfte aus nichtselb-ständiger Arbeit, ohne Berücksichtigung der Tarifermäßigung nach der sog. Fünftel-Regelung des § 34 Abs. 1 EStG.
Das FG gab der hiergegen erhobenen Klage unter Hinweis auf die Rechtsprechung zur Tarifbegünstigung von Lohn- oder Honorarnachzahlungen statt.
Entscheidung: Ermäßigt zu besteuernde Nachzahlung
Der BFH bestätigte die Auffassung des FG. Die in 2016 an X ausgezahlten Überstundenvergütungen sind nach § 34 EStG ermäßigt zu besteuern.
Mehrjährige Zweckbestimmung der Vergütung
Als ermäßigt zu besteuernde außerordentliche Einkünfte kommen insbesondere Vergütungen für mehrjährige Tätigkeiten in Betracht (§ 34 Abs. 2 Nr. 4 EStG). Eine Tätigkeit ist mehrjährig, soweit sie sich über mindestens zwei Veranlagungszeiträume erstreckt und einen Zeitraum von mehr als zwölf Monaten umfasst (§ 34 Abs. 2 Nr. 4 Halbsatz 2 EStG). Allerdings genügt es nicht, dass der Arbeitslohn in einem anderen Veranlagungszeitraum als dem zufließt, zu dem er wirtschaftlich gehört, und dort mit weiteren Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit zusammentrifft. Die Entlohnung muss vielmehr für sich betrachtet zweckbestimmtes Entgelt für eine mehrjährige Tätigkeit sein, die Vergütung folglich für einen Zeitraum von mehr als zwölf Monaten und veranlagungszeitraumübergreifend geleistet werden (z.B. BFH v. 7.5.2015, VI R 44/13, BStBl 2015II S. 890). Die mehrjährige Zweckbestimmung kann sich entweder aus dem Anlass der Zuwendung oder aus den übrigen Umständen ergeben. Soweit andere Hinweise auf den Verwendungszweck fehlen, kommt der Berechnung des Entgelts maßgebliche Bedeutung zu (BFH v. 31.8.2016, VI R 53/14, BStBl 2017 II S. 322).
Wirtschaftlich vernünftiger Grund
Außerdem muss die Entlohnung für eine mehrjährige Tätigkeit aus wirtschaftlich vernünftigen Gründen in zusammengeballter Form erfolgen (BFH v. 31.8.2016, VI R 53/14, BStBl 2017 II S. 322).
Lohnnachzahlung
Vergütung für eine mehrjährige Tätigkeit kann insbesondere eine Lohnnachzahlung für vorangegangene Veranlagungszeiträume sein. Dabei steht der Umstand, dass sich die zugeflossene Vergütung aus mehreren Beträgen zusammensetzt, die jeweils einem bestimmten Einzeljahr zugerechnet werden können, der Annahme einer Vergütung für eine mehrjährige Tätigkeit nicht entgegen. Voraussetzung ist nur, dass der Zufluss insgesamt mehrere Jahre betrifft (BFH v. 14.10.2004, VI R 46/99, BStBl 2005 II S. 289).
Nachträgliche Auszahlung von Überstundenvergütungen
Diese Grundsätze gelten auch für Überstundenvergütungen. Umfasst der Zeitraum, für den Überstunden veranlagungszeitraumübergreifend vergütet werden, mehr als zwölf Monate, steht demnach die Tarifermäßigung nach § 34 Abs. 2 Nr. 4 Halbsatz 2 EStG zu.
Die Voraussetzungen sind im Streitfall erfüllt
Der Arbeitgeber hat dem X Überstundenvergütungen nachträglich für die Jahre 2013 bis 2015 ausbezahlt. Es handelt sich somit um ein zweckbestimmtes Entgelt für eine mehrjährige Tätigkeit. Zudem liegen auch wirtschaftlich vernünftige Gründe für eine Zusammenballung vor. Denn die Abgeltung der Überstunden erfolgte wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses.
Hinweis: Fortführung der bisherigen Rechtsprechung
Die Entscheidung bestätigt die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze. Anders als bei den Einkünften aus selbständiger Tätigkeit muss es sich bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit nicht um eine abgrenzbare Sondertätigkeit handeln. Insbesondere ist es nicht erforderlich, dass die Tätigkeit selbst von der regelmäßigen Erwerbstätigkeit abgrenzbar ist oder die in mehreren Veranlagungszeiträumen erdiente Vergütung auf einem besonderen Rechtsgrund beruht, der diese von den laufenden Einkünften unterscheidbar macht (BFH v. 07.5.2015, VI R 44/13, BStBl 2015 II S. 890). Dementsprechend ist beim Arbeitnehmer jede Vergütung für eine Tätigkeit, die sich über mindestens zwei Veranlagungszeiträume erstreckt und einen Zeitraum von mehr als zwölf Monaten umfasst, atypisch zusammengeballt und damit "außerordentlich" i.S. des § 34 Abs. 1 Satz 1 EStG (BFH v. 16.12.2021, VI R 10/18, BFH/NV 2022 S. 325). Die Tarifermäßigung gilt nicht nur für die Nachzahlung von Festlohnbestandteilen, sondern auch von variablen Lohnbestandteilen.
Kein Gestaltungsmissbrauch
Das Merkmal der wirtschaftlich vernünftigen Gründe dient der Verhütung von Missbräuchen. Deshalb schließt nur eine willkürliche, wirtschaftlich nicht gerechtfertigte Zusammenballung allein aus steuerlichen Gründen die Anwendung der Tarifbegünstigung auf mehrjährigen Arbeitslohn aus (BFH v. 7.5.2015, VI R 44/13, BStBl 2015 S. 890).
Fünftel-Regelung
Die rechnerische Verteilung außerordentlicher Einkünfte auf 5 Jahre nach § 34 Abs. 1 EStG dient der Abmilderung der progressiven Wirkung des ESt-Tarifs bei einem "zusammengeballten" Zufluss von Einnahmen in einem Veranlagungszeitraum. Die Anwendung auch für den Fall der nachträglichen Auszahlung von Überstundenvergütungen wird ebenso im Schrifttum befürwortet (z.B. Mellinghoff in Kirchhof/Seer, EStG, § 34 Rz. 33).
Mit steigendem Einkommen erhöht sich die Einkommensteuer progressiv. Werden Vergütungen für eine mehrjährige Tätigkeit nicht laufend, sondern in einer Summe ausgezahlt, führt der Progressionseffekt zu einer vom Gesetzgeber nicht gewollten Steuer(mehr)belastung. Um die progressive Wirkung des Einkommensteuertarifs bei dem zusammengeballten Zufluss von Lohnnachzahlungen zu mildern, sieht das Gesetz die Besteuerung dieser Nachzahlungen mit einem ermäßigten Steuersatz vor. Voraussetzung ist allerdings, dass die Nachzahlung sich auf die Vergütung für eine Tätigkeit bezieht, die sich über mindestens zwei Veranlagungszeiträume erstreckt und einen Zeitraum von mehr als zwölf Monaten umfasst.
BFH Urteil vom 02.12.2021 - VI R 23/19 (veröffentlicht am 24.03.2022)
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