Kindergeldberechtigung von Unionsbürgern

Die Feststellung der fehlenden Freizügigkeit obliegt – auch hinsichtlich der Kindergeldfestsetzung – allein den Ausländerbehörden und den Verwaltungsgerichten, nicht jedoch den Familienkassen.

Hintergrund: Kindergeldberechtigung von Unionsbürgern

Ein bulgarischer Staatsbürger (A) wohnt seit dem 18.3.2010 mit seiner im Januar 2004 geborenen Tochter (T) in D. Er beantragte für T bei der Familienkasse die Gewährung von Kindergeld. Im Antragsformular teilte er mit, er sei weder unselbstständig noch selbstständig erwerbstätig und auch nicht in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) sozialversichert. Die Familienkasse erbat daraufhin von ihm ohne Erfolg die Vorlage weiterer Unterlagen sowie die Auskunft, wovon er seit seiner Einreise seinen Lebensunterhalt bestreite.

Im Januar 2011 wurde der Sohn (S) des A geboren, für den er im Februar 2011 ebenfalls Kindergeld beantragte. Auf eine erneute Nachfrage der Familienkasse teilte die Ehefrau des A im März 2011 mit, dass ihre Schwiegermutter für den Unterhalt der Familie sorge. Die Schwiegermutter betreibe ein Gewerbe als Raumpflegerin. A, sie – seine Ehefrau –, die beiden Kinder sowie die Mutter des A wohnten zu fünft in einer Einzimmerwohnung mit ca. 37 qm Wohnfläche, deren Hauptmieterin die Mutter des A sei.

Am 22.5.2012 erhielt A eine Freizügigkeitsbescheinigung gemäß § 5 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern a. F. (FreizügG/EU). Die Familienkasse setzte daraufhin für beide Kinder Kindergeld ab Mai 2012 fest und lehnte zugleich den Antrag für die Tochter für den Zeitraum März 2010 bis April 2012 und für den Sohn von Januar 2011 bis April 2012 unter Hinweis auf die seinerzeit noch fehlende Freizügigkeitsbescheinigung ab.

Das FG entschied, ein etwaiges Recht auf Freizügigkeit bestehe unabhängig von der Erteilung einer entsprechenden Bescheinigung gemäß § 5 Abs. 1 FreizügG/EU. Die Bescheinigung wirke lediglich deklaratorisch, da sich das Freizügigkeitsrecht unmittelbar aus Gemeinschaftsrecht ergebe. § 13 FreizügG/EU i. V. m. den besonderen Bedingungen in der Übergangsphase bis zum 31.12. 2013 für Staatsbürger der beitretenden Staaten Bulgarien und Rumänien beschränke das Freizügigkeitsrecht nur für Arbeitnehmer (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU). Ein Freizügigkeitsrecht könne deshalb auch in der Übergangsphase auf einen der in § 2 Abs. 2 Nrn. 2 bis 7 FreizügG/EU genannten Tatbestände gestützt werden. Dazu habe A aber nichts vorgetragen und damit seine Mitwirkungspflicht verletzt. Als nicht erwerbstätiger Unionsbürger wäre er gemäß § 4 FreizügG/EU nur unter der weiteren Voraussetzung ausreichenden Krankenversicherungsschutzes und ausreichender Existenzmittel freizügigkeitsberechtigt gewesen. Das Freizügigkeitsrecht eines Unionsbürgers könne im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen für den Kindergeldanspruch auch nicht ohne weiteres unterstellt werden.

Entscheidung: BFH sieht die Sache anders

Der BFH ist der Auffassung, dass das FG zu Unrecht entschieden hat, dass A vor Erteilung der Freizügigkeitsbescheinigung als nicht freizügigkeitsberechtigt zu behandeln war und daher wegen § 62 Abs. 2 EStG kein Kindergeld beanspruchen kann. A erfüllt – abgesehen von der Freizügigkeitsberechtigung – unstreitig die Voraussetzungen für die Festsetzung von Kindergeld für seine beiden Kinder: Er hat mit seinen beiden Kindern einen gemeinsamen Wohnsitz im Inland (§ 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und § 63 Abs. 1 EStG) und er ist aufgrund der Zustimmung seiner Ehefrau der berechtigte Elternteil (§ 64 Abs. 2 EStG).

Hinweis: Feststellung der fehlenden Freizügigkeit obliegt den Ausländerbehörden

A ist – entgegen der Auffassung des FG – freizügigkeitsberechtigter Ausländer und unterliegt deshalb nicht den Einschränkungen des § 62 Abs. 2 EStG. Für Angehörige eines Mitgliedsstaats gilt gemäß Art. 21 Abs. 1 AEUV ein von der Arbeitnehmer-Freizügigkeit unabhängiges Freizügigkeitsrecht, das allein aus der Unionsbürgerschaft folgt und aus dem sich ein Aufenthaltsrecht ergibt. Dieses unmittelbar anwendbare subjektiv-öffentliche Recht steht den Unionsbürgern, und zwar auch den Angehörigen der Beitrittsstaaten, die hinsichtlich des Zugangs zum Arbeitsmarkt Beschränkungen unterlagen, unabhängig vom Zweck seiner Inanspruchnahme zu. Das Aufenthaltsrecht entfällt auch bei Angehörigen der zum 1.1.2007 beigetretenen Mitgliedstaaten Bulgarien und Rumänien allein durch einen Verwaltungsakt nach § 5 Abs. 5, § 6 und § 7 FreizügG.

Die förmliche Feststellung der fehlenden Freizügigkeit obliegt dabei allein den Ausländerbehörden und den Verwaltungsgerichten, nicht jedoch den Familienkassen. Erst nach einer Feststellung des Nichtbestehens oder des Verlusts des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU fände gemäß § 11 Abs. 2 FreizügG/EU das Aufenthaltsgesetz Anwendung, sodass der Unionsbürger einen Aufenthaltstitel nach dem Aufenthaltsgesetz benötigt, will er sich weiterhin legal in Deutschland aufhalten und Kindergeld beanspruchen (§ 62 Abs. 2 EStG). An einer derartigen Entscheidung der Ausländerbehörde fehlte es hier.

BFH, Urteil v. 15.3.2017, III R 32/15; veröffentlicht am 26.7.2017

Alle am 26.7.2017 veröffentlichten Entscheidungen des BFH mit Kurzkommentierungen.

Schlagworte zum Thema:  Freizügigkeit, Kindergeld