Anwendungsvorrang des Unionsrecht vor nationalem Recht

Ein Unternehmer kann sich im Rahmen des Vorsteuerabzugs auch dann auf das Unionsrecht berufen, wenn die für einen Umsatz geschuldete Steuer höher ist als nach nationalem Recht.

Hintergrund

Nach der Rechtsprechung des EuGH sind bei einem Widerspruch zwischen Bestimmungen des Unionsrechts und Vorschriften des innerstaatlichen Rechts die nationalen Gerichte gehalten, für die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu sorgen, indem sie erforderlichenfalls die entgegenstehende nationale Vorschrift aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewandt lassen, ohne dass die vorherige Beseitigung dieser Vorschrift auf gesetzgeberischem Wege abgewartet werden muss. Auf diesen Anwendungsvorrang des Unionsrechts kann sich jeder Steuerpflichtige berufen (BFH, Urteil v. 11.10.2012, V R 9/10, BFH/NV 2013, 170).

K hatte ein Springpferd erworben, das er als Unternehmer für sein Gestüt verwendete. Der Verkäufer hatte hierfür die Umsatzsteuer nach dem Regelsteuersatz in Rechnung gestellt. Die berechnete Umsatzsteuer machte K als Vorsteuer geltend. Dies lehnte das Finanzamt mit dem Hinweis ab, dass nur die gesetzlich geschuldete Steuer zum Vorsteuerabzug berechtigt. Die gesetzlich geschuldete Steuer bestimme sich nach nationalem Recht. Danach unterliege aber die Lieferung aller Pferde dem ermäßigten Steuersatz. Auf Unionsrecht, dass für Springpferde den Regelsteuersatz vorsehe, könne K sich nicht berufen, da dieses für die Lieferung des Pferdes zu einer höheren Steuer führe und daher nicht günstiger sei. Diese Auffassung vertrat auch das Finanzgericht in seinem klageabweisenden Urteil.

Entscheidung

Der BFH gab dem K Recht.

Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG ist der die Leistung empfangende Unternehmer zum Vorsteuerabzug aus der ihm in Rechnung gestellten Umsatzsteuer berechtigt, wenn diese gesetzlich geschuldet wird. Ob eine in einer Rechnung ausgewiesene Umsatzsteuer gesetzlich geschuldet wird, ist aber - entgegen der Auffassung des Finanzgerichts - unter Berücksichtigung des Unionsrechts zu entscheiden. Dabei ist stets der Anwendungsvorrang des Unionsrechts zu beachten, wenn - wie hier -  das nationale Recht dem Unionsrecht nicht entspricht. Dass K hier nicht Steuerschuldner, sondern Abnehmer der Lieferung des Springpferdes war, ohne die Steuer hierfür als Leistungsempfänger zu schulden, ist für die Geltendmachung des Anwendungsvorrangs unbeachtlich. In Bezug auf den Anwendungsvorrang ist die Minderung der den Unternehmer treffenden Steuerschuld maßgeblich. Diese verringert sich für K aber dadurch, dass er den (höheren) Vorsteuerabzug nach Maßgabe des im Unionsrecht vorgesehenen Regelsteuersatzes anstelle des im nationalen Recht vorgesehenen ermäßigten Steuersatzes vornehmen kann.

Hinweis

Die vorliegende Entscheidung verdeutlicht, dass die Frage, ob der Anwendungsvorrang des Unionsrechts greift, beim liefernden Unternehmer und beim leistungsempfangenden Unternehmer unabhängig voneinander zu beurteilen ist. Im Streitfall konnte dem K deshalb nicht entgegengehalten werden, dass für seinen Lieferer die nach nationalem Recht geltende Rechtslage günstiger ist als die nach Unionsrecht. Auch die Rechtsfolgen des von K geltend gemachten Anwendungsvorrangs beschränken sich - anders als das Finanzamt in diesem Fall argumentiert hat - nur auf seine Person. Auf die Besteuerung seines Lieferers würden sie sich erst dann auswirken, wenn dieser ebenfalls einen Anwendungsvorrang geltend machen könnte, der allerdings in seinem Fall hier nicht zu einer niedrigeren Steuer führen kann.

Urteil v. 24.10.2013, V R 17/13, veröffentlicht am 8.1.2014

Schlagworte zum Thema:  BFH-Urteile, EuGH, Vorsteuerabzug