Tz. 15

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Ein Widerruf ist nach § 131 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 AO auch dann zulässig, wenn die Finanzbehörde aufgrund nachträglich eingetretener Tatsachen berechtigt wäre, den Verwaltungsakt nicht zu erlassen und wenn ohne den Widerruf das öffentliche Interesse gefährdet würde. Beide Tatbestandsvoraussetzungen müssen kumulativ vorliegen. So führt die Aufhebung des Steuerfestsetzungsbescheids dazu, dass die Anrechnungsverfügung gem. § 131 Abs. 2 Nr. 3 AO widerrufen werden kann (BFH v. 14.06.2016, VII B 47/15, BFH/NV 2016, 1428).

 

Tz. 16

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Die Regelung erfasst Dauerverwaltungsakte (s. § 118 AO Rz. 26; AEAO zu § 131, Nr. 2; Loose in Tipke/Kruse, § 131 AO Rz. 23), da sich nur auf diese das nachträgliche Eintreten von Tatsachen auswirken kann. Voraussetzung ist jedoch, dass keine endgültige Dauerentscheidung (wie z. B. bei einer Prüfungsentscheidung) getroffen werden sollte (Loose in Tipke/Kruse, § 131 AO Rz. 25). Lagen die Tatsachen zur Zeit des Erlasses des Verwaltungsakts bereits vor, waren sie aber nicht bekannt, dann ist der Verwaltungsakt ggf. rechtswidrig und nicht nach § 131 AO zu widerrufen, sondern nach § 130 AO zurückzunehmen.

 

Tz. 17

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Der Begriff der Tatsache entspricht dem Begriff in § 173 AO (zur Definition s. § 173 AO Rz. 2 ff.). Nicht unter den Begriff der Tatsache fallen rechtliche Schlussfolgerungen aller Art (von Wedelstädt in Bartone/von Wedelstädt, Rz. 353).

 

Tz. 18

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Zusätzliche Voraussetzung für den Widerruf wegen nachträglichen Tatsacheneintritts ist die Gefährdung des öffentlichen Interesses bei Aufrechterhaltung des Verwaltungsakts. Unter öffentlichem Interesse sind die schützenswerten und schutzbedürftigen Belange der staatlichen Gemeinschaft einschließlich der fiskalischen Interessen des Staates zu verstehen; ein Vorrang der fiskalischen Interessen besteht jedoch nicht. Eine Gefährdung liegt vor, wenn der Grundsatz der Gleichmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit der Besteuerung verletzt wird. Dies ist der Fall, wenn bei einem Festhalten an der bisherigen Entscheidung der Betroffene gegenüber Dritten bevorzugt wird (von Wedelstädt in Bartone/von Wedelstädt, Rz. 354; von Wedelstädt in Gosch, § 131 AO Rz. 18; AEAO zu § 131, Nr. 2).

 

Tz. 19

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Eine Gefährdung der öffentlichen Interessen ist z. B. gegeben, wenn eine Aussetzung der Vollziehung oder eine Stundung ohne Sicherheitsleistung gewährt wurde und sich die wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen erheblich verschlechtern oder wenn Steuern in erheblicher Höhe gestundet werden und der Betroffene vermögend wird (von Wedelstädt in Bartone/von Wedelstädt, Rz. 354; von Wedelstädt in Gosch, § 131 AO Rz. 18; Loose in Tipke/Kruse, § 131 AO Rz. 25; AEAO zu § 131, Nr. 2). Die Vorschrift greift auch in Bezug auf den Widerruf der Anrechnung von Lohn-, bzw. Kapitalertragsteuer, wenn der Einkommensteuerbescheid dahingehend geändert wird, dass Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit oder Kapitalvermögen nicht mehr erfasst werden (BFH v. 09.12.2008, VII R 43/07, BStBl II 2009, 344; BFH v. 08.09.2010, I R 90/09, BStBl II 2013, 11).

 

Tz. 20

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Bei ihrer Entscheidung hat die Verwaltungsbehörde den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und den Vertrauensschutz des Betroffenen zu berücksichtigen. Danach rechtfertigen geringe gestundete Steuerbeträge und eine kurze Stundungslaufzeit die Annahme der Gefährdung öffentlicher Interessen nicht (von Wedelstädt in Bartone/von Wedelstädt, Rz. 355; von Wedelstädt in Gosch, § 131 AO Rz. 18; Loose in Tipke/Kruse, § 131 AO Rz. 22).

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