Tz. 17

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Hat sich die Rspr. eines obersten Gerichtshofes des Bundes (s. Rz. 16), die bei der bisherigen Steuerfestsetzung von der Finanzbehörde angewandt worden ist, geändert, so darf dies ebenfalls bei der Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids nicht zuungunsten des Stpfl. berücksichtigt werden (§ 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO). § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO schützt nicht das Vertrauen des Stpfl. in eine ihm günstige Rspr. als solches, sondern das Vertrauen in die Bestandskraft eines Bescheids, soweit dieser auf einer günstigen Rspr. beruht (BFH v. 02.04.2012, III B 189/10, BFH/NV 2012, 1101). Die Vorschrift erfasst Fälle, in denen sich die höchstrichterliche Rspr. in der Zeit zwischen dem Erlass des ursprünglichen Bescheides und vor dem Erlass des Änderungsbescheides geändert hat (vgl. BFH v. 11.01.1991, III R 60/89, BStBl II 1992, 5; BFH v. 20.12.2000, I R 50/95, BStBl II 2001, 409; BFH v. 10.06.2008, VIII R 79/05, BStBl II 2008, 863). § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO ist bei Erstbescheiden nicht anwendbar (BFH v. 24.01.2013, V R 34/11, BStBl II 2013, 460).

1. Änderung der Rechtsprechung

 

Tz. 18

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Der hier eingeräumte Vertrauensschutz setzt voraus, dass die bisherige Maßnahme der Finanzbehörde zu einer Zeit getroffen worden ist, zu der zu einem gleichen Sachverhalt oder zur selben Rechtsfrage eine Entscheidung eines obersten Bundesgerichts vorgelegen hat, d. h. amtlich oder privat veröffentlicht war (BFH v. 25.04.2013, V R 2/13, BStBl II 2013, 844; Loose in Tipke/Kruse, § 176 AO Rz. 15). Er greift damit nicht ein, wenn das oberste Bundesgericht über die betreffende Rechtsfrage erstmals entscheidet, sei es auch in Abweichung von der Verwaltungsübung (s. BFH v. 22.02.1990, V R 117/84, BStBl II 1990, 599) oder keine eindeutige höchstrichterliche Rspr. bestand (BFH v. 10.06.2008, VIII R 79/05, BStBl II 2008, 863 m. w. N.). Kein Anwendungsfall liegt auch vor, wenn das oberste Bundesgericht von der Rspr. des entsprechenden gleichrangigen Gerichts, das vor seiner Konstituierung bestand, abweicht (z. B. wenn der BFH von einer RFH-Entscheidung, der BGH von einer RG-Entscheidung abweicht). Eine Änderung der Rspr. i. S. des § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO tritt auch nicht dadurch ein, dass der BFH "unbeachtliche Zweifel" an der bisherigen Rspr. im Rahmen beiläufiger Äußerungen (sog. obiter dicta) zu einem nicht zu entscheidenden Sachverhalt äußert (BFH v. 24.07.2017, XI B 25/17, BFH/NV 2017, 1591). Die Rspr. hat sich nur dann i. S. der Vorschrift geändert, wenn ein im Wesentlichen gleichgelagerter Sachverhalt anders entschieden wurde als bisher, wobei auch hier auf beiläufig geäußerte Rechtsansichten (obiter dicta) und Erwägungen, die ein Urteil nicht tragen, nicht abzuheben ist (BFH v. 20.12.2000, I R 50/95, BStBl II 2001, 743; BFH v. 20.08.1997, X R 58/93, BFH/NV 1998, 314). Anderer Ansicht ist Loose, der auf das Gesamtbild der Rspr. und auch auf obiter dicta abstellt, weil sich die Praxis auch auf diese einstelle (Loose in Tipke/Kruse, § 176 AO Rz. 15).

 

Tz. 19

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Ferner ist die Änderung von einer Präzisierung der Rechtsprechung abzugrenzen, für die § 176 AO nicht gilt (BFH v. 24.04.2002, I R 20/01, BStBl II 2003, 412). Solange zu einer Rechtsfrage keine eindeutige höchstrichterliche Rspr. besteht, kommt ein Vertrauensschutz nicht in Betracht (BFH v. 14.02.2007, XI R 30/05, BStBl II 2007, 524; BFH v. 08.12.1998, IX R 49/95, BStBl II 1999, 468). § 176 Abs. 1 Nr. 3 AO setzt schließlich voraus, dass eine geänderte Rspr. unmittelbar auf alle noch nicht abgeschlossenen Sachverhalte anzuwenden ist, selbst wenn – so BFH v. 31.07.2002 (X R 39/01, BFH/NV 2002, 1575) – sich der Sachverhalt zu einer Zeit ereignet hat, in der noch die günstigere Rspr. galt. Dann sind aber – so der BFH – die Auswirkungen der verschärfenden Rspr. durch Übergangsregelungen zu vermeiden (§ 163 AO).

2. Anwendung der Rechtsprechung

 

Tz. 20

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Weiterhin ist erforderlich, dass das FA die Rspr. bei der bisherigen Steuerfestsetzung angewandt hat (BFH v. 14.02.2007, XI R 30/05, BStBl II 2007, 524; BFH v. 30.01.1991, IX B 208/89, BFH/NV 1992, 464). Auf § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO kann sich der Stpfl. nur berufen, wenn die Änderung des Steuerbescheides darauf beruht (vgl. BFH v. 24.04.2013, XI R 9/11, BFH/NV 2013, 1457). Lag bei Erlass des Bescheids eine Rspr. vor, die später geändert wurde, so besteht bei Übereinstimmung des Bescheids mit der (damaligen) Rechtsprechung eine widerlegbare Vermutung, dass die Finanzbehörde diese angewendet hat (BFH v. 08.12.1998, IX R 49/95, BStBl II 1999, 468). Nach BFH (BFH v. 11.01.1991, III R 60/89, BStBl II 1992, 5). Diese Vermutung ist bei Bescheiden unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 Abs. 1 AO) dann nicht gerechtfertigt, wenn eine von der damaligen Rspr. eindeutig abweichende Verwaltungsregelung oder ein Nichtanwendungserlass vorlag. Soweit ein oberster Gerichtshof seine günstige Rechtsprechung, die bei der bisherigen Steuerfestsetzung angewandt worden ist, nach ...

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