OFD Magdeburg, Verfügung v. 19.7.2004, S 0351 - 16 - St 251

 

1. Nachträglich bekannt gewordene Tatsachen gemäß § 173 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 und 2 AO

Bei der Umsatzsteuer sind Tatsachen, die eine Erhöhung der Umsatzsteuer begründen, und Tatsachen, die eine höhere Vorsteuer begründen, getrennt zu beurteilen. Ein Zusammenhang zwischen nachträglich bekannt gewordenen Umsätzen und nachträglich bekannt gewordenen Leistungen an den Unternehmer i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 besteht nur insoweit, als die Eingangsleistungen zur Ausführung der nachträglich bekannt gewordenen Umsätze verwendet wurden (BFH vom 8.8.1991, V R 106/88, BStBl 1992 II S. 12 und vom 19.10.1995, V R 60/92, BStBl 1996 II S. 149). Dies gilt allerdings nur, soweit diese Umsätze zum Vorsteuerabzug berechtigen; soweit die nachträglich bekannt gewordenen Vorsteuerbeträge hingegen mit nachträglich bekannt gewordenen steuerfreien oder nichtsteuerbaren Umsätzen in Zusammenhang stehen, sind die Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 nicht erfüllt.

Hat das FA bei einer Schätzung der Umsatzsteuer davon abgesehen, die Steuer auf der Grundlage des Ansatzes einer Vielzahl einzelner Umsätze mit jeweils genau bezifferter Bemessungsgrundlage zu ermitteln, können die nachträglich bekannt gewordenen Vorsteuerbeträge im Schätzungsweg entsprechend dem Verhältnis der nachträglich erklärten und der ursprünglich vom FA geschätzten steuerpflichtigen Umsätze berücksichtigt werden, es sei denn, es liegen Anhaltspunkte dafür vor, dass weniger oder mehr Vorsteuerbeträge im Zusammenhang mit den nachträglich bekannt gewordenen Umsätzen stehen, als sich nach dieser Aufteilung ergibt (BFH vom 19.10.1995, a.a.O.).

Wegen der übrigen Voraussetzungen wird auf Abschn. 202 Abs. 5 und 6 UStR verwiesen.

Beispiel 1:

  Schätzung Erklärung Differenz
stpfl. Umsätze 750.000 EUR 1.250.000 EUR

500.000 EUR

(40 %)[1)]
USt (16 %) 120.000 EUR 200.000 EUR 80.000 EUR
– Vorsteuer 0 EUR 120.000 EUR 120.000 EUR
= verbleibende USt) 120.000 EUR 80.000 EUR - 40.000 EUR

Im geänderten Umsatzsteuerbescheid sind die Steuer erhöhenden neuen Tatsachen (steuerpflichtige Umsätze) und die Steuer mindernden neuen Tatsachen (Vorsteuern) aus der Steuererklärung wie folgt zu berücksichtigen:

USt (16%) It. Schätzung (60%) 120.000 EUR
+ neue Tatsache (§ 173 Abs. 1 Nr. 1 AO) (40 %) 80.000 EUR
zusammen (100%) 200.000 EUR
abzüglich Vorsteuer It. Schätzung 0 EUR  
+ neue Tatsache (§ 173 Abs. 1 Nr. 2 AO)    
(40 % von 120.000 EUR) + 48.000 EUR  
  48.000 EUR - 48.000 EUR
festzusetzende USt   152.000 EUR

Beispiel 2:

  Schätzung Erklärung Differenz
stpfl. Umsätze 1.000.000 EUR 1.500.000 EUR

500.000 EUR

(33,33 %)[2)]
USt (16 %) 160.000 EUR 240.000 EUR 80.000 EUR
– Vorsteuer 50.000 EUR 250.000 EUR 200.000 EUR
= verbleibende USt) 110.000 EUR - 10.000 EUR 120.000 EUR

Im geänderten Umsatzsteuerbescheid sind die Steuer erhöhenden neuen Tatsachen (steuerpflichtige Umsätze) und die Steuer mindernden neuen Tatsachen (Vorsteuern) aus der Erklärung wie folgt zu berücksichtigen:

USt (16%) It. Schätzung (66,67 %) 160.000 EUR
+ neue Tatsache (§ 173 Abs. 1 Nr. 1 AO) (33,33 %) 80.000 EUR
zusammen (100%) 240.000 EUR
abzüglich Vorsteuer It. Schätzung 50.000 EUR  
+ neue Tatsache (§ 173 Abs. 1 Nr. 1 AO)    
(33,33 % von 200.000 EUR) + 66.667 EUR  
  116.667 EUR - 116.667 EUR
festzusetzende USt   123.333 EUR
 

2. Berücksichtigung materieller Fehler gemäß § 177 AO

Nach dem BFH-Urteil vom 10.4. 2003 (V R 26/02, BStBl 2003 II S. 785), können, wenn nachträglich sowohl Steuer erhöhende Tatsachen (Umsätze) als auch Steuer mindernde Tatsachen (Vorsteuerbeträge) bekannt werden und die Steuer erhöhenden Tatsachen zur Änderung eines Steuerbescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO führen, die Steuer mindernden Tatsachen sowohl gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO als auch gemäß § 177 AO zu berücksichtigen sein. Mit dieser Entscheidung hat der BFH für die Umsatzsteuer sein Urteil vom 19.10.1995 (a.a.O.) fortentwickelt.

Fortsetzung Beispiel 1:

Für eine Änderung nach § 177 Abs. 1 AO kommt noch in Betracht:

Vorsteuerbeträge lt. Erklärung 120.000 EUR
bereits im Schätzungsbescheid berücksichtigt - 0 EUR
bereits nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 AO berücksichtigt - 48.000 EUR
verbleibender Vorsteuerbetrag = materieller Fehler 72.000 EUR

Änderungsrahmen:

a) Änderungsobergrenze 120.000 EUR Steuerfestsetzung lt. Schätzung
  + 80.000 EUR Änderung zu Ungunsten
  200.000 EUR  
     
b) Änderungsuntergrenze 120.000 EUR Steuerfestsetzung lt. Schätzung
  - 48.000 EUR Änderung zu Gunsten
  72.000 EUR  

Da durch die materiell zutreffende Umsatzsteuer (80.000 EUR lt. Steuererklärung) die Obergrenze nicht über- und die Untergrenze nicht unterschritten wird, ist der verbleibende Vorsteuerbetrag (materieller Fehler) in voller Höhe gemäß § 177 Abs. 1 AO zu berücksichtigen. Im Ergebnis wird dadurch die Umsatzsteuer entsprechend der Steuererklärung festgesetzt.

Fortsetzung Beispiel 2:

Für eine Änderung nach § 177 Abs. 1 AO kommt noch in Betracht:

Vorsteuerbeträge lt. Erklärung 250.000 EUR
bereits im Sc...

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