Leitsatz

1. Ein PKH-Verfahren, das gleichzeitig neben einem rechtshängigen Hauptsacheverfahren geführt wird, ist entschädigungsrechtlich kein eigenständiges Gerichtsverfahren i.S. von § 198 Abs. 6 Nr. 1 Halbsatz 1 GVG. Dessen Bearbeitung ist dann als verfahrensfördernde Maßnahme des Hauptsacheverfahrens anzusehen, wenn es sich um eine solche handelt, die erkennbar eine verfahrensbeendende Zielrichtung hat.

2. Ist dem Entschädigungskläger aufgrund der unangemessen langen Dauer eines Gerichtsverfahrens ein Nichtvermögensnachteil entstanden, ist allein der Gesichtspunkt, der Entschädigungskläger sei neben der Überlänge des Verfahrens keinen weitergehenden immateriellen Nachteilen ausgesetzt gewesen, im finanzgerichtlichen Verfahren regelmäßig nicht geeignet, dem Entschädigungskläger eine Geldentschädigung zu versagen und ihn auf eine Wiedergutmachung in anderer Weise zu verweisen.

3. Eine bereits geleistete Geldentschädigung für die unangemessene Dauer eines Parallelverfahrens bei demselben Ausgangsgericht steht der Zuerkennung einer weiteren Entschädigung aufgrund der Verzögerungen des anderen Verfahrens regelmäßig nicht entgegen.

 

Normenkette

§ 198 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2, Abs. 4 Satz 1, Abs. 6 Nr. 1 Halbsatz 1 GVG

 

Sachverhalt

Das Ausgangverfahren, in dem der Entschädigungskläger den Erlass der von ihm gezahlten Säumniszuschläge begehrt hatte, begann im November 2016. Im Dezember 2016 beantragte er PKH für dieses Verfahren. Im März 2019 wurde eine Verfahrensverzögerung gerügt. Im März 2020 bewilligte das FG PKH. Im Juli 2022 wurde das Ausgangsverfahren übereinstimmend für erledigt erklärt.

Der Entschädigungskläger sah das Ausgangsverfahren als verzögert an und beanspruchte für erlittene immaterielle Nachteile eine Entschädigung von 1.800 EUR.

 

Entscheidung

Die Entschädigungsklage war aus den unter den Praxis-Hinweisen dargestellten Gründen überwiegend begründet. Dem Entschädigungskläger wurde eine Entschädigung für einen Nichtvermögensnachteil von 1.500 EUR zugesprochen.

 

Hinweis

Bei Entschädigungsklagen wegen überlanger Verfahrensdauer treten immer wieder neue Aspekte auf, die es dem BFH ermöglichen, seine Rechtsprechung zu verfeinern. Dieses Urteil beantwortet zum einen die Frage wie Parallel- und Nebenverfahren zu beurteilen sind (unter 1.–4.). Zum anderen wird das Problem angesprochen, wann eine Wiedergutmachung lediglich durch Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer ohne Entschädigungszahlung ausreichen könnte (5.–6.).

1. Ein PKH-Verfahren, das gleichzeitig neben einem rechtshängigen Hauptsacheverfahren geführt wird, löst keine eigenständigen Entschädigungsansprüche aus. Nach § 198 Abs. 6 Nr. 1 Halbsatz 1 GVG ist Gerichtsverfahren im entschädigungsrechtlichen Sinn jedes Verfahren von der Einleitung bis zum rechtskräftigen Abschluss u.a. "einschließlich eines Verfahrens zur Bewilligung von Prozess- oder Verfahrenskostenhilfe". Es handelt sich damit um einen Annex des Hauptsacheverfahrens, dessen verzögerte Bearbeitung keine Mehrfachentschädigung begründen kann.

2. Hieraus folgt auch, dass Verzögerungen im Verfahren um die PKH-Bewilligung während der Dauer eines gleichzeitig rechtshängig gewordenen Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen sein können, wenn ein Gericht wegen eines solchen Nebenverfahrens die Hauptsache nicht ausreichend zügig bearbeitet. Auf der anderen Seite ist die Bearbeitung eines PKH-Verfahrens dann als verfahrensfördernde Maßnahme des Hauptsacheverfahrens anzusehen, wenn sie erkennbar eine verfahrensbeendende Zielrichtung hat.

3. Ein isoliertes PKH-Verfahren ist demgegenüber ein entschädigungsrechtlich eigenständiges Gerichtsverfahren.

4. Werden parallele, in einem gewissen sachlichen Zusammenhang stehende Streitverfahren vor dem Ausgangsgericht geführt, ist es für einen Entschädigungsanspruch irrelevant, wenn bereits wegen der unangemessenen Dauer des anderen Verfahrens eine Entschädigung bezogen wurde, denn es handelt sich um jeweils gesondert zu betrachtende Gerichtsverfahren i.S.v. § 198 Abs. 6 Nr. 1 Halbsatz 1 GVG.

5. Das Entstehen eines Nichtvermögensnachteils wird in Fällen unangemessener Verfahrensdauer gemäß § 198 Abs. 2 Satz 1 GVGvermutet. Ein wiedergutmachungspflichtiger Nachteil liegt allerdings dann nicht vor, wenn sicher festgestellt wird, dass die unangemessene Verfahrensdauer nicht zu einem Nachteil geführt hat, sei es, dass kein Nachteil vorliegt, oder sei es, dass kein Kausalzusammenhang zwischen Verfahrensdauer und Nachteil gegeben ist. Hierzu ist aber der volle Beweis des Nichtbestehens eines wiedergutmachungspflichtigen Nachteils notwendig; die bloße Erschütterung der gesetzlichen Vermutung genügt nicht.

6. Die schlichte Feststellung der Unangemessenheit der Verfahrensdauer durch das Entschädigungsgericht ist in § 198 Abs. 4 Satz 1 GVG ausdrücklich als eine der Möglichkeiten bezeichnet, Wiedergutmachung auf andere Weise als durch Zuerkennung eines Geldanspruchs zu leisten. Für das Verhältnis zwischen einer "Geldentschädigung" und einem "Feststellungsausspruch" ist dem Gesetze...

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