Entscheidungsstichwort (Thema)
Grobes Verschulden (§ 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO 1977)
Leitsatz (NV)
1. Im Rahmen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO 1977 muß der Stpfl. grobes Verschulden seines steuerlichen Beraters bei der Anfertigung der Steuererklärung in gleicher Weise vertreten wie das Verschulden eines Bevollmächtigten.
2. Grobes Verschulden i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO 1977 umfaßt Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit.
3. Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Beteiligte die ihm persönlich zuzumutende Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt.
4. Im Revisionsverfahren wird die Entscheidung des FG, daß einen steuerlichen Berater des Stpfl. der Vorwurf trifft, sich grob fahrlässig verhalten zu haben, darauf überprüft, ob eine mögliche Würdigung der Verhältnisse des Streitfalles vorliegt, die nicht den Denkgesetzen oder allgemeinen Erfahrungssätzen widerspricht.
Normenkette
AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 2 S. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) betreibt einen Gemischtwarenladen. Im Streitjahr (1974) ließ sie nach Abbruch des bestehenden Gebäudes ein neues Wohn- und Geschäftshaus errichten, das nach ihren Angaben zu . . . % gewerblich genutzt wird und dessen Baukosten 1974 . . . DM betrugen, so daß die dem gewerblichen Teil zugerechneten Baukosten . . . DM (brutto) und die in diesen enthaltenen Vorsteuerbeträge . . . DM ausmachten.
Die im Rahmen des Gewerbebetriebs anfallenden Vorsteuern wurden von der Klägerin wie in den vorangegangenen Jahren auch im Streitjahr gemäß § 23 Abs. 1 Nr. 1 des Umsatzsteuergesetzes (UStG 1967/73) i.V.m. § 1 Abs. 1 und § 2 der Vierten Verordnung zur Durchführung des Umsatzsteuergesetzes (Mehrwertsteuer) - Durchschnittsatz-Verordnung - (4. UStDV) nach Durchschnittsätzen ermittelt. An der Anfertigung der Umsatzsteuererklärung 1974 wirkte der steuerliche Berater der Klägerin, seinerzeit ein Steuerbevollmächtigter, mit. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) nahm die Veranlagung erklärungsgemäß vor. Der entsprechende Umsatzsteuerbescheid vom 24. Juni 1976 erging endgültig und wurde bestandskräftig.
Mit Schreiben vom 6. April 1977 beantragte die Klägerin beim FA, die Vorsteuern aus den anteiligen Baukosten 1974 nachträglich zum Abzug zuzulassen und den Umsatzsteuerbescheid 1974 gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) zu ändern. Zur Begründung führte sie an, ihr steuerlicher Berater sei seinerzeit der Meinung gewesen, daß die Durchschnittsätze auch die Vorsteuern aus Gebäudeaufwendungen erfaßten. Da seiner Ansicht nach ein Übergang von der Berechnung nach Durchschnittsätzen zur Einzelberechnung nur am Beginn des Kalenderjahres hätte beantragt werden können und ein solcher Antrag für 1974 nicht rechtzeitig gestellt worden war, habe er bei der Abgabe der Umsatzsteuererklärung eine Berücksichtigung der Vorsteuern aus bezogenen Bauleistungen nicht mehr für möglich gehalten.
Das FA lehnte mit Verfügung vom 14. Juni 1978 eine Änderung ab. Der hiergegen eingelegte Einspruch blieb erfolglos.
Die mit dem Antrag erhobene Klage, das FA zum Erlaß eines Änderungsbescheides zu verpflichten, wurde durch das Finanzgericht (FG) mit der Begründung abgewiesen, die Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 lägen nicht vor, weil sich die Klägerin das Fehlverhalten ihres steuerlichen Beraters wie eigenes Verschulden anrechnen lassen müsse und den steuerlichen Berater grobes Verschulden daran treffe, daß die neuen Tatsachen erst nachträglich bekanntgeworden seien. Grobes Verschulden in der Form grober Fahrlässigkeit sei dem steuerlichen Berater aufgrund folgender Umstände anzulasten.
Der steuerliche Berater habe sich in der mündlichen Verhandlung dahin eingelassen, sowohl die Tatsache, daß gebaut worden sei, als auch die teilweise geschäftliche Nutzung des Grundstücks bei der Anfertigung der Umsatzsteuererklärung 1974 gekannt zu haben. Das Unterlassen des Vorsteuerabzuges habe er damit entschuldigt, daß er die Vorschrift des § 2 Abs. 2 der 4. UStDV übersehen habe. Er sei deshalb und weil sich aus § 23 UStG 1967/73 nichts zu der betreffenden Frage habe entnehmen lassen, der Meinung gewesen, weitere Vorsteuern seien nicht abziehbar. Einen Widerruf der Erklärung nach § 23 Abs. 4 UStG 1967/73 habe er - zutreffend - für nicht mehr möglich gehalten, weil die Frist bereits abgelaufen gewesen sei.
Angesichts seiner Kenntnis von der Errichtung und der teilweisen geschäftlichen Benutzung des Gebäudes hätte sich ihm als Fachmann die Frage des anteiligen zusätzlichen Vorsteuerabzuges aufdrängen müssen. Die einschlägigen Vorschriften des § 23 UStG 1967/73 und des § 2 der 4. UStDV seien im Wortlaut klar und eindeutig und ließen, auf den Streitfall bezogen, rechtsirrtümliche Auslegungen nicht zu. Es, das FG, habe sogar die Überzeugung gewonnen, daß der steuerliche Berater der Klägerin entgegen seiner Behauptung die Vorschriften über den zusätzlichen Vorsteuerabzug gekannt habe; denn er habe, wie sich aus der Berechnung der Vorsteuer in der Gewerbesteuerakte für 1974 ergebe, neben den nach Durchschnittsätzen errechneten Vorsteuern die einzeln ermittelten Vorsteuern aus dem Wareneinkauf gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 der 4. UStDV abgezogen. Demgemäß hätte er ebenso mit den unter § 2 Abs. 2 Nr. 2 der 4. UStDV fallenden Vorsteuern aus den Baurechnungen verfahren können. Weswegen dieser Abzug unterblieben sei, habe nicht geklärt werden können, da der steuerliche Berater insoweit keine Gründe genannt habe. Auf Unkenntnis von der Vorschrift lasse sich das Unterlassen jedenfalls nicht zurückführen.
Sollte der Abzug rechtsirrtümlich unterblieben sein, so müsse sich der steuerliche Berater vorwerfen lassen, sich nicht hinreichend informiert und deshalb die ihm obliegende Sorgfaltspflicht erheblich verletzt zu haben. Wenn schon nicht der Blick in das Gesetz die erforderlichen Rechtskenntnisse erbracht hätte, obwohl es sich um eine einfache Materie handele, müßte es für den steuerlichen Berater nahegelegen haben, sich anhand von Kommentaren und durch etwaige Anfragen beim FA zu informieren. Dazu habe um so mehr Anlaß bestanden, als der steuerliche Berater nicht allzu häufig mit der Sonderregelung befaßt gewesen sei.
Mit der - vom FG wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassenen - Revision beantragt die Klägerin, unter Aufhebung der Vorentscheidung das FA zu verpflichten, einen Änderungsbescheid 1974 zu erlassen, in dem die Vorsteuern in Höhe von . . . DM aus den anteiligen Baukosten nachträglich zum Abzug zugelassen werden. Sie rügt Verletzung des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 sowie Verstoß gegen den klaren Akteninhalt und macht geltend, die eine Berichtigung ausschließende Regelung in § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 erstrecke sich nicht auf das grobe Verschulden eines steuerlichen Beraters. Es liege insoweit auch keine ausfüllungsbedürftige Regelungslücke im Gesetz vor. Ein Verstoß gegen den klaren Akteninhalt sei gegeben, weil von einem groben Verschulden des steuerlichen Beraters unter den gegebenen Umständen nicht gesprochen werden könne. Grobes Verschulden umfasse Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit. Das FG habe festgestellt, daß der steuerliche Berater die Vorschrift des § 2 Abs. 2 Nr. 2 der 4. UStDV übersehen habe. Angesichts dessen brauche Vorsatz nicht weiter in Betracht gezogen zu werden. Aber auch grobe Fahrlässigkeit liege nicht vor. Im Steuerrecht gelte der strafrechtliche Fahrlässigkeitsbegriff, bei dem es auf die persönliche Vorwerfbarkeit ankomme. Danach könnten Fehler, die üblicherweise unterliefen und mit denen immer gerechnet werden müsse (Vergessen, Übersehen, bloße Nachlässigkeiten), allenfalls als leicht fahrlässiges Verhalten gewürdigt werden.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen. Es ist den Ausführungen der Klägerin entgegengetreten.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet; sie war zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Entgegen der Annahme der Klägerin hat das FG zu Recht entschieden, daß das FA nicht verpflichtet ist, einen geänderten Umsatzsteuerbescheid 1974 zu erlassen.
1. Aufgrund des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO 1977 sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, daß die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekanntwerden. Im vorliegenden Fall stellen zwar die von der Klägerin in ihrem Schreiben an das FA vom 6. April 1977 geschilderten Umstände (Leistungsbezüge beim Bau eines gemischtgenutzten Wohn- und Geschäftshauses, in Rechnung gestellte Vorsteuer) nachträglich bekannt gewordene Tatsachen in diesem Sinne dar, d.h. Tatsachen, von denen das FA erst nach der Veranlagung für das Streitjahr Kenntnis erhalten hat. Diese Tatsachen sind auch geeignet, zu einer niedrigeren Umsatzsteuer zu führen. Dennoch ist eine Änderung der Veranlagung für das Streitjahr ausgeschlossen, weil der Klägerin schuldhaftes Verhalten ihres steuerlichen Beraters zuzurechnen ist und dem steuerlichen Berater grobe Fahrlässigkeit bei der Erstellung der Umsatzsteuererklärung 1974 angelastet werden kann.
2. Nach der Rechtsprechung des BFH (Urteile vom 3. Februar 1983 IV R 153/80, BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324; vom 28. Juni 1983 VIII R 37/81, BFHE 139, 8, BStBl II 1984, 2; vom 25. November 1983 VI R 8/82, 140, 18, BStBl II 1984, 256) muß der Steuerpflichtige im Rahmen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO 1977 grobes Verschulden seines steuerlichen Beraters bei der Anfertigung der Steuererklärung in gleicher Weise vertreten wie das Verschulden eines Bevollmächtigten. Der erkennende Senat schließt sich dieser Rechtsprechung an.
3. Die Würdigung des Verhaltens des steuerlichen Beraters der Klägerin durch das FG als grobe Fahrlässigkeit hält der Revision stand. Das FG hat nicht verkannt, daß grobes Verschulden i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO 1977 Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit umfaßt und daß grobe Fahrlässigkeit anzunehmen ist, wenn der Beteiligte die ihm persönlich zuzumutende Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt (vgl. Urteile in BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324, und in BFHE 139, 8, BStBl II 1984, 2). Ob diese Voraussetzungen gegeben sind, ist Tatfrage (zuletzt BFH-Urteil vom 30. Oktober 1986 III R 163/82, BFHE 148, 208, BStBl II 1987, 161). Die Ausführungen des FG dazu, daß den steuerlichen Berater der Klägerin der Vorwurf trifft, sich grob fahrlässig verhalten zu haben, stellen eine mögliche Würdigung der Verhältnisse des Streitfalles dar, die nicht den Denkgesetzen oder allgemeinen Erfahrungssätzen widerspricht und an die der Senat daher gebunden ist (vgl. Urteil in BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324).
Fundstellen
Haufe-Index 415153 |
BFH/NV 1988, 273 |