Rz. 5

Der Erlass der Forderung ist aus persönlichen oder sachlichen Gründen möglich (allg. Meinung vgl. Kemper, in: Eicher/Luik, SGB II, § 44 Rz. 9). § 44 eröffnet zum einen die Möglichkeit, bei den Rücknahmefolgen den besonderen persönlichen Umständen Rechnung zu tragen (BSG, Urteil v. 25.4.2018, B 14 AS 15/17 R). Zum anderen kann eine Billigkeitsmaßnahme auch dann angezeigt sein, wenn die Anwendung einer in ihrer generalisierenden Wirkung verfassungsgemäßen Regelung im Einzelfall zu Grundrechtsverstößen führen würde und solange nicht die Geltung des Gesetzes unterlaufen wird (BSG, Urteil v. 25.4.2018, B 14 AS 15/17 R; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 29.6.2017, L 7 AS 395/16; Merten, in: BeckOK, SGB II, § 44 Rz. 7). Dies kann dann der Fall sein, wenn die Geltendmachung eines Anspruchs im Einzelfall zwar dem Wortlaut einer Vorschrift entspricht, sie aber nach dem Zweck des zugrunde liegende Gesetzes nicht zu rechtfertigen ist und dessen Wertung zuwider läuft (Kemper, in: Eicher/Luik, SGB II, § 44 Rz. 12). Allerdings ist es nicht Sinn und Zweck der Erlassregelung des § 44, die Folgen eines nicht eingelegten oder erfolglosen Rechtsbehelfs auszugleichen (Kemper, in: Eicher/Luik, SGB II, § 44 Rz. 14).

 

Rz. 6

Bei der Frage, ob die Einziehung aus persönlichen Gründen im Einzelfall "unbillig" wäre, handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff. Es ist dabei auf die besonderen Umstände des Einzelfalles abzustellen. Nach der Gesetzesbegründung soll mit § 44 ein Gleichklang zu den Versicherungsleistungen nach § 76 Abs. 2 Nr. 3 SGB IV hergestellt werden. Fraglich ist, ob dieser Gleichklang wie bei § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB IV zur Folge hat, dass allein die wirtschaftliche Notlage die Annahme einer "Unbilligkeit" rechtfertigt. Im Gegensatz zu den Versicherungsleistungen werden die Leistungen nach dem SGB II nur an Hilfebedürftige gewährt. Eine wirtschaftliche Notlage ist also der Leistungsgewährung immanent. Insofern müssen noch andere, von Hilfebedürftigen nicht zu vertretende Umstände gegeben sein, um die Unbilligkeit zu bejahen. Dies können insbesondere Krankheit, Pflegebedürftigkeit oder externe Gründe sein, wie z. B. ein Unfall.

 

Rz. 7

Unbilligkeit ist dann zu bejahen, wenn der Schuldner sich in einer Notlage befindet und zu besorgen ist, dass die Weiterverfolgung des Anspruchs zu einer Existenzgefährdung führt (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 29.6.2017, L 7 AS 395/16; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 24.10.2016, L 7 AS 882/16 B; LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 21.5.2014, L 3 AS 2383/13; Wendtland, in: Gagel, SGB II, § 44 Rz. 8; Kemper, in: Eicher/Luik, SGB II, § 44 Rz. 10). Eine Unbilligkeit kann auch dann angenommen werden, wenn der Forderungseinzug eine erneute Hilfebedürftigkeit des Leistungsbeziehers zur Folge haben würde (Kemper, in: Eicher/Luik, SGB II, § 44 Rz. 10 m. w. N.).

 

Rz. 8

Unbilligkeit liegt erst dann vor, wenn das Einziehen der Forderung dem Gerechtigkeitsempfinden in unerträglicher Weise widerspricht (LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 21.5.2014, L 3 AS 2383/13). Unzulässig ist der Erlass daher, wenn der Hilfebedürftige den Anspruch selbst durch unrichtige Angaben bzw. vorsätzliches oder grob fahrlässiges Verhalten herbeigeführt hat. Unbilligkeit kann aber angenommen werden, wenn die Forderungseinziehung beim Schuldner erneute Bedürftigkeit hervorruft oder deren Überwindung gefährden würde (Eicher, in: Eicher/Spellbrink, SGB II, § 44 Rz. 14).

 

Rz. 9

Das Vorliegen einer "Unbilligkeit" ist aufgrund einer umfassenden Interessenabwägung festzustellen (LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 21.5.2014, L 3 AS 2383/13; Wendtland, in: Gagel, SGB II, § 44 Rz. 7; Kemper, in: Eicher/Luik, SGB II, § 44 Rz. 9). Auf Seiten des Schuldners sind dabei seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse zu berücksichtigen. Daneben sind die Art und die Höhe des Anspruchs in die Interessenabwägung einzubeziehen (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 29.6.2017, L 7 AS 395/16). Dabei ist abzuwägen, ob das Individualinteresse des Anspruchsschuldners dem Fiskalinteresse überwiegt (Merten, in: BeckOK, SGB II, § 44 Rz. 10). Bei einer nur zeitlich begrenzten Unterdeckung des Regelbedarfs überwiegt das Individualinteresse des Schuldners nicht (Wendtland, in: Gagel, SGB II, § 44 Rz. 8 m. w. N.).

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