Rz. 9

Nach Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ist ein Kind bzw. Jugendlicher in Obhut zu nehmen, wenn eine dringende Gefahr für das Kindeswohl die Inobhutnahme erfordert. Die Polizeigesetze der Länder enthalten Regelungen, wonach die Polizei Minderjährige, die sich der Obhut der Sorgeberechtigten entzogen haben, in Gewahrsam nehmen kann, um sie den Sorgeberechtigten oder dem Jugendamt zuzuführen (vgl. § 35 Abs. 2 PolG NRW, Art. 17 PAG Bayern, § 32 HSOG Hessen). Die polizeirechtliche Ingewahrsamsnahme ist danach jedoch nur dann zulässig, wenn das Jugendamt nicht vor Ort präsent ist. Sie haben das Ziel, die Minderjährigen unverzüglich den Sorgeberechtigten oder dem Jugendamt zuzuführen. Der Gefahrenbegriff des Polizei- und Ordnungsrechts wird durch die spezifischen Gegebenheiten der Kinder- und Jugendhilfe näher bestimmt und ausgefüllt. Die Gefahr muss in Bezug auf das physische und psychische Wohl des Kindes bestehen. Eine dringliche Gefahr erfordert zum einen eine hinreichend konkrete Gefährdung des Kindeswohls. Ein Gefahrenverdacht oder einzelne Indizien für das Vorliegen einer Gefahr reichen nicht. Jedoch gebieten solche Verdachtsmomente, weitere Ermittlungen durchzuführen. Die Gefahr muss eine in etwa gleiche Intensität erreicht haben, wie § 1666 Abs. 1 Satz 1 BGB es voraussetzt (vgl. dazu: 2. Beschlussempfehlung und 2. Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vom 1.8.2005, BT-Drs. 15/5616 S. 11; Röchling, in: LPK-SGB VIII, § 42 Rz. 59). Diese Gefahrenlage wird interpretiert als eine Gefährdung, welche eine erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen und seelischen Wohls des Kindes oder Jugendlichen erwarten lässt (BGH, Beschluss v. 15.12.2004, XII ZB 166/03, zum Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts, weil der Tochter der Beschwerdeführerin in Gambia mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Beschneidung droht – mit Hinweis auf BGH, Beschluss v. 14.7.1956, IV ZB 32/56; Olzen, in: Münchner-Kommentar zum BGB, 4. Aufl., § 1666 Rz. 49).

 

Rz. 10

Das erforderliche Maß der Gefahr kann nicht abstrakt generell festgelegt werden. Denn der Begriff der Kindeswohlgefährdung erfasst eine Vielzahl von möglichen, sehr unterschiedlichen Fallkonstellationen. Erforderlich ist daher seine Konkretisierung mittels Abwägung der Umstände des Einzelfalls durch den mit dem Fall befassten Tatrichter. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind dabei umso geringere Anforderungen zu stellen, je schwerer der drohende Schaden wiegt (BGH, Beschluss v. 6.2.2019, XII ZB 408/18; BGH, Beschluss v. 23.11.2016, XII ZB 149/16). Die Annahme einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit muss in jedem Fall auf konkreten Verdachtsmomenten beruhen. Eine nur abstrakte Gefährdung genügt nicht. Schließlich muss der drohende Schaden für das Kind erheblich sein. Selbst bei hoher Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines nicht erheblichen Schadens sind Maßnahmen nach § 1666 BGB nicht gerechtfertigt. In solchen Fällen ist dem elterlichen Erziehungs- und Gefahrabwendungsprimat der Vorrang zu geben (BGH, Beschluss v. 23.11.2016, XII ZB 149/16 m. w. N.).

 

Rz. 11

§ 1666 Abs. 1 Satz 1 BGB nennt im Wortlaut diejenigen Verhaltensweisen des Sorgeberechtigten oder eines Dritten, die geeignet sind, eine Gefährdung des Kindeswohls herbeizuführen. Es handelt sich dabei um die missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, die Vernachlässigung des Kindes, unverschuldetes Versagen der Eltern oder das Verhalten eines Dritten. Eine Gefährdung des Kindeswohls ist insbesondere dann anzunehmen, wenn beweiskräftige Anhaltspunkte vorliegen für

  • sexuellen Missbrauch,
  • Kindesmisshandlung,
  • Vernachlässigung bei der Ernährung und der Pflege,
  • schwere Erziehungsdefizite, wie etwa entwürdigende Erziehungsmethoden,
  • Anhalten zum Betteln oder zur Prostitution oder Gestattung eines solchen Verhaltens,
  • Verweigern lebensnotwendiger ärztlicher Behandlung.
 

Rz. 12

Der Begriff der gegenwärtigen Gefahr setzt voraus, dass das Umschlagen der Gefahrenlage in eine Schädigung mit großer Wahrscheinlichkeit unmittelbar bevorsteht. Eine dringende Gefahr liegt selbstverständlich dann vor, wenn und soweit eine Gefahr für Leib oder Leben eines Kindes oder Jugendlichen besteht. Die Gefahr muss die Inobhutnahme erfordern. Die hinreichende Wahrscheinlichkeit verlangt einerseits nicht Gewissheit, dass der Schaden eintreten wird. Andererseits genügt die bloße Möglichkeit eines Schadenseintritts grundsätzlich nicht zur Annahme einer Gefahr. Die "dringende Gefahr" besteht zwar nicht schon bei einer "bevorstehenden" oder "drohenden" Gefahr, aber auch nicht erst bei einer "unmittelbar bevorstehenden Gefahr" (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 18.5.2017, 12 B 528/17 Rz. 6 und 8). Der Gesetzeswortlaut hebt ferner die Erforderlichkeit hervor, doch muss die Maßnahme allen Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes genügen. Sie muss ein legitimes Ziel verfolgen; sie muss geeignet, erforderlich und unter Abwägung der Grundrechte des Kindes und der Personensorgeberechtigten angemessen sein.

 

Rz. 13

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