Rz. 77

Fiskalische Interessen vermögen i. d. R. die sofortige Vollziehung eines Bescheids nicht zu rechtfertigen (vgl. LSG Hessen, Beschluss v. 12.2.2004, L 10 AL 1212/03 ER, Breithaupt 2005 S. 704; Beschluss v. 9.9.2011, L 9 SO 199/11 B ER). Eine beabsichtigte Verringerung des Verwaltungsaufwands ist in der Regel nicht geeignet, eine Vollzugsanordnung zu rechtfertigen; grundsätzlich erscheint es aber denkbar, dass auch im Rahmen der Sozialleistungsverwaltung fiskalische Interessen geeignet sein können, ein solches besonderes Interesse zu begründen (so LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 18.3.2010, L 5 AS 487/09 B ER). Ein besonderes Interesse an der sofortigen Vollziehung kann bei Geldforderungen bestehen, wenn deren Vollstreckung gefährdet erscheint (vgl. LSG Baden-Württemberg, Beschluss v. 25.8.2003, L 13 AL 2374/03). Allein das öffentliche Interesse am Vollzug eines Gesetzes rechtfertigt den Sofortvollzug nicht (vgl. LSG NRW, Beschluss v. 4.5.2011, L 11 KA 120/10 B ER; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss v. 3.11.2005, L 5 ER 91/05 KA; Krodel, Eilverfahren, B Rn. 146).

 

Rz. 78

Das Interesse eines Beteiligten kann insbesondere bei Regelungen im grundrechtsrelevanten Bereich überwiegen. Erhebliche, unter Umständen irreparable Folgen bei einem Beteiligten sind ebenso zu berücksichtigen wie mögliche andere Maßnahmen der Behörde zur Sicherung des öffentlichen Interesses. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung einer Zulassungsentziehung oder anderer statusbeendend wirkender (auch die Beendigung des Zulassungsstatus deklaratorisch feststellender) Verwaltungsakte stellt als verfahrensrechtliche Annexentscheidung zur Sachentscheidung schon für sich allein einen eigenständigen Eingriff in die Berufsfreiheit des Vertragsarztes (Art. 12 Abs. 1 GG) dar (LSG Baden-Württemberg, Beschluss v. 11.1.2011, L 5 KA 3990/10 ER-B, GuP 2011 S. 40).

 

Rz. 79

Soweit die Auffassung vertreten wird, dass die Behörde auch die Erfolgsaussichten des Hauptsacherechtsbehelfs mit in ihre Abwägung einfließen lassen muss (Kordel, Eilverfahren, B Rn. 148; Keller, SGG, § 86a Rn. 22a), trifft das im Grundsatz zu. Indessen ist zu differenzieren. Die den zu vollziehenden Verwaltungsakt erlassende Ausgangsbehörde wird in der Regel von dessen Rechtmäßigkeit ausgehen und dies in der Abwägung berücksichtigen. Hat sie hingegen Rechtmäßigkeitsbedenken wird sie auch dies in ihre Erwägungen einbeziehen müssen. Insoweit ist es denkbar, dass sie von einer Vollzugsanordnung absieht, weil sich seit Erlass des Verwaltungsakts oder aber von vornherein Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit ergeben (Krodel, a. a. O.). Indessen kann hieraus nicht hergeleitet werden, dass für Gericht und Verwaltung im Rahmen der Abwägung die selben Maßgaben gelten (so aber Krodel, a. a. O.; Keller, a. a. O.). Bezugspunkt der Interessenabwägung ist vornehmlich der dem Bescheid zugrundeliegende Sachverhalt. In diesem Zusammenhang kommt es nicht darauf an, ob und inwieweit Widerspruch und/oder Anfechtungsklage voraussichtlich Erfolg haben werden. Eine derartige prospektive Erfolgsabschätzung ist der sofortigen Vollziehung auf Verwaltungsebene schon deswegen wesensfremd, weil die Verwaltung notwendigerweise davon überzeugt sein muss, dass ihre Regelung rechtmäßig ist, ansonsten diese zu unterbleiben hat (LSG NRW, Beschluss v. 10.11.2010, L 11 KA 87/10 B ER).

 

Rz. 80

Eine defizitäre Versorgungssituation rechtfertigt die sofortigen Vollziehung der erteilten Zulassung durch den Berufungsausschuss nicht. Die unzulängliche Versorgungssituation ist Grundlage für die Sonderbedarfszulassung als solche (§ 31a Ärzte-ZV). Ein darüber hinausgehendes öffentliches oder individuelles Interesse ist damit zunächst nicht verbunden(vgl. Wehrhahn in Breitkreuz/Fichte, SGG, § 86a Rn. 42). Hierzu bedarf es z. B. der Glaubhaftmachung von Umständen, die über jene hinausgehen, die schon die Sonderbedarfszulassung als solche rechtfertigen (vgl. LSG NRW, Beschluss v. 29.10.2010, L 11 KA 64/10 B ER; LSG Schleswig-Holstein, Beschluss v. 15.5.2008, L 4 B 319/08 KA ER), z. B. dass die defizitäre Versorgung zu einer konkreten Gefährdung von Patienten führt (LSG NRW, Beschluss v. 20.5.1996, L 11 Ska 3/96). Allerdings kann nicht angenommen werden, dass jede quantitativ unzulängliche Versorgungssituation dieser Anforderung entspricht (LSG NRW, Beschluss v. 29.10.2010, L 11 KA 64/10 B ER). Eine gegenteilige Auffassung hätte letztlich zur Folge, dass jede Sonderbedarfszulassung und jede Ermächtigung per se für sofort vollziehbar erklärt werden müssten (LSG NRW, Beschluss v. 10.11.2010, L 11 KA 87/10 B ER).

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