Rz. 34

Diese Variante setzt im Gegensatz zur Variante "höhere Gewalt" voraus, dass die Gericht bzw. die Behörde aktiv darüber belehren, dass kein Rechtsbehelf gegeben ist. Ein finales Handeln etwa in dem Sinn, dem Betroffenen bewusst den Rechtsweg abzuschneiden, ist nicht erforderlich. Ausreichend ist die Tatsache der negativen Belehrung, gleichgültig, ob sie von einer bestimmten Motivation getragen wird oder aber schlicht rechtsirrig oder versehentlich erfolgt. Hierzu BSG, Urteil v. 17.9.2008, B 6 KA 28/07 R, SozR 4-1300 § 44 Nr. 17: Allerdings reicht es nicht aus, dass ein Kläger im Fall einer Drittanfechtung aus der Rechtsbehelfsbelehrung gegenüber dem originären Bescheidadressaten den Umkehrschluss hatte ziehen können, er selbst sei nicht anfechtungsberechtigt. Ebenfalls nicht ausreichend ist, wenn die Beklagte (hier: Kassenärztliche Vereinigung) in Rundschreiben o. ä. an Bezirksstellen die Ansicht vertreten hatte, Rechtsbeziehungen bestünden allein zwischen ihr und den delegierenden Ärzten, und Widersprüche anderer Delegationspsychotherapeuten als unzulässig verworfen hatte. Solche Vorgänge stehen einer schriftlichen Erklärung an den Kläger selbst, wie sie § 66 Abs. 2 Satz 1 HS 2 voraussetzt, nicht gleich. Eine analoge Anwendung dieser Vorschrift scheidet aus; denn es fehlt – abgesehen von der Frage, ob sie als nichtanalogiefähige Ausnahmeregelung angesehen und ob überhaupt eine Regelungslücke angenommen werden kann – an einer gewichts- und interessenmäßig vergleichbaren Situation.

Demzufolge gilt für jeden, der zuverlässig Kenntnis von einem Urteil erhält, die Einjahresfrist; ein später eingelegtes und begründetes Rechtsmittel ist daher wegen Verwirkung i. d. R. unzulässig (BSG, Beschluss v. 29.7.1996, 4 BA 49/95). Einschränkend ist anzumerken, dass Bekanntgabe im Sinne des § 37 Abs 1 SGB X die zielgerichtete Mitteilung des Verwaltungsaktes durch die Behörde ist (Krasney, in: Kasseler Kommentar, Stand 2009, § 37 SGB X Rn 3). Übertragen auf Urteile bedeutet dies, dass nicht jedes (zufällige) Bekanntwerden (z. B. durch Presseveröffentlichung) ausreicht, vielmehr das Bekanntwerden von einer finalen Bekanntgabeabsicht getragen werden muss. Erhält daher ein Rentenversicherungsträger im Rahmen einer Betriebsprüfung nach § 28p SGB IV Kenntnis von einem Bescheid der Einzugsstelle, ist darin keine Bekanntgabe i. S. d. § 37 SGB X zu sehen (zutreffend LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 5.4.2011, L 11 KR 658/09, hierzu Rieker, jurisPR-SozR 16/2011 Anm. 4).

 

Rz. 35

Die negative Belehrung kann dadurch berichtigt werden, dass die Entscheidung erneut und mit zutreffender Belehrung zugestellt wird (Zeihe, SGG, § 66 Rn. 67). Einer Belehrung, dass ein Rechtsbehelf nicht gegeben sei, ist es nicht gleichzustellen, wenn anstelle des statthaften Rechtsbehelfs ein anderer – fristgebundener – Rechtsbehelf genannt wird (so aber LSG Sachsen, Urteil v. 3.11.2010, L 1 AL 127/10; Keller, SGG, § 66 Rn. 13b; ablehnend Zeihe, SGb 1998 S. 321, 322). Das überzeugt nicht. Der Bürger kann in diesem Fall nicht darauf vertrauen, dass er ohne Einhaltung einer Frist einen Rechtsbehelf gegen eine behördliche oder gerichtliche Entscheidung einlegen kann.

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