Entscheidungsstichwort (Thema)

Wegeunfall. Unterbrechung durch Fahrzeugreparatur

 

Leitsatz (redaktionell)

Dem Unfallversicherungsschutz steht auch nicht entgegen, daß der Versicherte zum Zwecke der Fahrzeugreparatur  die nächstgelegene Reparaturwerkstatt aufsucht und deshalb von dem unmittelbaren Weg zwischen Arbeitsstätte und Wohnung abweicht.

 

Orientierungssatz

Zur Frage, unter welchen Umständen der Versicherungsschutz gemäß RVO § 550 S 1 bei Maßnahmen zur Wiederherstellung der Betriebsfähigkeit eines Beförderungsmittels (hier: Personenkraftwagen) erhalten bleibt.

 

Normenkette

RVO § 550 S. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 27. Januar 1972 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 18. Mai 1971 hinsichtlich der Ansprüche auf Sterbegeld, Kosten für die Überführung des Verstorbenen an den Ort der Bestattung und Überbrückungshilfe als unzulässig verworfen wird.

Die Beklagte hat der Klägerin auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Die im Laufe des Revisionsverfahrens wiederverheiratete Klägerin und ihr früherer Ehemann wohnten in B und waren in dem etwa 8 km davon unterhalb des S Berges (ostwärts D) liegenden Werk L der Firma L Metallwaren AG beschäftigt. Wie üblich, fuhren sie am 2. Januar 1970 mit ihrem Fiat-Personenkraftwagen zur Arbeit; im Fahrzeug befanden sich noch zwei andere Arbeitnehmer. Auf dieser Fahrt trat vor Erreichen des Werkes L ein Schaden am Fahrzeug auf. Der Ehemann der Klägerin und einige Arbeitskollegen schoben daher das Fahrzeug in der Mittagspause vom Betrieb aus zu einer etwa 2 km entfernt nicht auf dem üblichen Weg zwischen Wohnung und Werk liegenden Fiat-Werkstatt nach D. Nach Betriebsschluß ließen sich die Klägerin, ihr Ehemann und die weiteren Mitfahrer zur Reparaturwerkstatt bringen, nahmen den reparierten Kraftwagen dort in Empfang und setzten mit ihm die Fahrt nach B fort. Etwa 300 m bevor sie den üblichen Weg vom Werk nach B erreichten, stießen sie mit einem ihnen schleudernd entgegenkommenden Lastkraftwagen zusammen. Der Ehemann der Klägerin erlitt dabei schwere Verletzungen, an deren Folgen er am 8. Januar 1970 starb. Durch Bescheid vom 12. Mai 1970 lehnte die Beklagte einen Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenentschädigung ab, weil sich der Unfall auf einem Abweg ereignet und daher kein Versicherungsschutz bestanden habe.

Das Sozialgericht (SG) Hannover hat die Beklagte dem Grunde nach verurteilt, der Klägerin Hinterbliebenenentschädigung zu gewähren (Urteil vom 18. Mai 1971). Es hat einen Versicherungsschutz des Ehemannes der Klägerin nach § 550 der Reichsversicherungsordnung (RVO) bejaht. Die Tatsache, daß der Verstorbene nicht den kürzesten Weg zwischen Arbeitsstätte und Wohnung, sondern den ca. 3 km längeren Weg über D benutzt habe, schließe den Versicherungsschutz nicht aus, weil auch dieser Weg unter den gegebenen Umständen mit der beruflichen Tätigkeit des Versicherten zusammengehangen habe. Zwar seien Verrichtungen, die der Instandhaltung des eigenen Beförderungsmittels dienten und die zu diesem Zweck unternommenen Wege grundsätzlich dem unversicherten eigenwirtschaftlichen Bereich zuzurechnen. Etwas anderes gelte jedoch für Maßnahmen des Versicherten zur Wiederherstellung der Betriebsfähigkeit eines Beförderungsmittels, das zur Zurücklegung des Weges nach und von der Arbeitsstätte benutzt werde, wenn sie unvorhergesehen während der Zurücklegung des Weges erforderlich werden. Das sei hier der Fall. Das Fahrzeug des Versicherten sei auf dem Weg zur Arbeit mit einem Schaden liegengeblieben und habe auf der letzten Wegstrecke geschoben werden müssen. Die Reparatur des Fahrzeuges sei die einzige Möglichkeit gewesen, die Betriebsfähigkeit des Fahrzeuges für den Heimweg sicherzustellen. Dem Ehemann der Klägerin sei nicht zuzumuten gewesen, den Weg nach Hause ohne das Fahrzeug anzutreten. Öffentliche Verkehrsmittel seien nicht vorhanden gewesen; bei einer Fahrt mit dem Werksbus hätte er von der Haltestelle bis zur Wohnung noch einige Kilometer Fußweg gehabt.

Die Berufung der Beklagten ist ohne Erfolg geblieben (Urteil des Landessozialgerichts - LSG - Niedersachsen vom 27. Januar 1972). Zur Begründung hat das Berufungsgericht ausgeführt: Es brauche nicht entschieden zu werden, ob der etwa 3 km längere Heimweg über D ein Umweg oder ein Abweg gewesen sei. Habe es sich um einen Umweg gehandelt, dann sei er im Hinblick auf die Länge des üblichen Heimweges von S - 9 km als unwesentlich anzusehen; im übrigen sei er auch wegen des Abholens des für die Heimfahrt erforderlichen Fahrzeuges durch Umstände verursacht worden, die mit dem Heimweg in einem rechtlich wesentlichen Zusammenhang stünden. Das gleiche gelte auch für den Fall, daß ein Abweg angenommen werde. In beiden Fällen sei ein Versicherungsschutz zu bejahen. Schließlich könne die Heimfahrt am Unfalltage tatsächlich und rechtlich auch in zwei Teile getrennt werden, nämlich den ersten, möglicherweise unversicherten Teil der Fahrt mit der Fiat-Werkstatt als Zielpunkt und den zweiten Teil der Fahrt von der Werkstatt in Richtung auf die Wohnung. Auch dann habe für den zweiten Teil der Fahrt Versicherungsschutz bestanden. Denn der Antritt der Heimfahrt von der Werkstatt aus habe mit dem üblichen Heimweg wegen des engen zeitlichen und örtlichen Zusammenhanges - Abholen des Fahrzeuges unmittelbar nach Arbeitsschluß, Nähe der Werkstatt, sofortige Weiterfahrt nach der Entgegennahme des Fahrzeuges - in einem unmittelbaren Zusammenhang gestanden. Unerheblich sei, daß der Ehemann der Klägerin seine Wohnung nach Arbeitsschluß möglicherweise mit einem Werksbus hätte erreichen können. Denn der Versicherungsschutz nach § 550 Satz 1 RVO stelle nicht darauf ab, auf welche zumutbare Weise der Weg von und zur Arbeit zurückgelegt werden könne.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet: Außer den vom LSG erörterten drei Varianten komme noch eine vierte in Betracht. Bei dieser sei die Zäsur nicht in die Fiat-Werkstatt zu legen, sondern zwischen den Wegkreis zur Abholung des Kraftwagens auf der einen Seite und dem normalen Heimweg des Ehemannes der Klägerin von der Arbeitsstätte auf der anderen Seite, der im Augenblick des Unfalls noch nicht erreicht gewesen sei. Der Weg zur Fiat-Werkstatt, der um fast 50 % länger gewesen sei als der normale Heimweg, habe in keinem unfallversicherungsrechtlich relevanten Bezug zum Betrieb gestanden. Er sei nur eine der künftigen Zurücklegung des Weges vom Ort der Tätigkeit dienende Vorbereitungshandlung gewesen und habe eigenwirtschaftlichen Charakter gehabt. Der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung hätte erst wieder eingesetzt, wenn der Ehemann der Klägerin nach dem Abholen des Kraftwagens den normalen Heimweg erreicht hätte.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 27. Januar 1972 und des Sozialgerichts Hannover vom 18. Mai 1971 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie trägt vor, daß der Weg ihres Ehemannes im ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit gestanden habe. Wenn auch das Abholen des reparierten Kraftwagens dem eigenwirtschaftlichen Bereich zuzurechnen sei, so trete diese Verrichtung gegenüber dem aufgrund des § 550 RVO versicherten Zweck so in den Hintergrund, daß sie ihm gegenüber unberücksichtigt bleiben könne. Es sei nicht von entscheidender Bedeutung, ob die Reparaturwerkstatt unmittelbar auf dem üblichen Weg vom Betrieb zur Wohnung oder 2 km abseits davon liege.

II

Der Senat hat im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs. 2 SGG).

Die Revision der Beklagten ist im wesentlichen unbegründet.

Bei einer zugelassenen Revision ist die Zulässigkeit der Berufung auch ohne Antrag des Revisionsbeklagten von Amts wegen zu prüfen, da es sich dabei um eine unverzichtbare Prozeßvoraussetzung handelt, von der die Rechtswirksamkeit des Verfahrens als ganzes abhängt (BSG 1, 227; 2, 225; 3, 124 und 234; 15, 65).

Die Berufung der Beklagten war, soweit sie im Rahmen des Antrags der Klägerin auf Gewährung von Hinterbliebenenentschädigung das Sterbegeld, die Kosten für die Überführung des Verstorbenen an den Ort der Bestattung und eine Überbrückungshilfe (§ 589 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 4 RVO) betraf, nach § 144 Abs. 1 Nr. 1 und 2 SGG unzulässig, da es sich dabei um einmalige Leistungen und um eine laufende Leistung für einen Zeitraum bis zu drei Monaten handelt. Weil das LSG, obwohl die Berufung hinsichtlich dieser Ansprüche unzulässig war, trotzdem in der Sache selbst entschieden hat, war die Revision mit der Maßgabe zurückzuweisen, daß die Berufung gegen das Urteil des SG wegen der Ansprüche auf Sterbegeld, Überführungskosten und Überbrückungshilfe als unzulässig verworfen wird. Mit dieser Entscheidung verstößt der Senat nicht gegen den Grundsatz, daß auch im Revisionsverfahren das angefochtene Urteil nicht zum Nachteil des Rechtsmittelklägers geändert werden darf, wenn er nicht zugleich Rechtsmittelbeklagter ist. Durch die teilweise Verwerfung der Berufung wird die Beklagte nicht in eine ungünstigere Lage versetzt als durch das von ihr angegriffene, die Berufung als unbegründet zurückweisende Urteil des LSG (BSG 2, 225, 228; SozR Nr. 40 zu § 215 SGG; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 7. Aufl. S 250 b).

Einen Anspruch der Klägerin auf Gewährung von Witwenrente hat das LSG im Ergebnis zu Recht bejaht. Der Ehemann der Klägerin stand auf der zum Unfall führenden Fahrt nach § 550 Satz 1 RVO unter Versicherungsschutz.

Der erkennende Senat hat zwar einerseits ausgesprochen, daß Beschäftigte, die mit dem eigenen Fahrzeug zur Arbeitsstätte zu fahren pflegen, nicht auch bei jeder zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Fahrbereitschaft des benutzten Fahrzeuges erforderlichen Verrichtung unfallversicherungsrechtlich geschützt sind (BSG 16, 77, 78; BSG VersR 1970, 900; Brackmann, aaO S 486 m II; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl. Anm. 4 zu § 550). Andererseits hat der Senat aber auch entschieden, daß bei Maßnahmen zur Wiederherstellung der Betriebsfähigkeit des Beförderungsmittels, die unvorhergesehen während der Zurücklegung des Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit notwendig werden und ohne die der Weg nicht fortgesetzt werden kann, Versicherungsschutz besteht. In solchen Fällen bleibt der ursächliche Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit selbst dann erhalten, wenn aus Gründen, die mit der Erhaltung oder Wiederherstellung der Betriebsfähigkeit des Beförderungsmittels zusammenhängen, der eigentliche Weg nach oder von dem Ort der Tätigkeit verlassen oder die Verrichtung im häuslichen Bereich vorgenommen wird (BSG 16, 245; SozR Nr. 63 zu § 543 RVO aF; Urteil vom 30. Januar 1970 - 2 RU 198/67 - und vom 30. November 1972 - 2 RU 119/72 -).

Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG, an die das Revisionsgericht gebunden ist (§ 163 SGG), war das vom Ehemann der Klägerin für den Weg zur Arbeit benutzte Kraftfahrzeug während der Zurücklegung dieses Weges schadhaft geworden. Es konnte nicht mehr mit eigener Kraft zur Reparaturwerkstatt gefahren, sondern mußte während der Mittagspause dorthin geschoben werden. Unerheblich ist, daß der Ehemann der Klägerin die Wiederherstellung der Betriebsfähigkeit des Kraftwagens nicht selbst unternahm, sondern damit die nächstgelegene Fiat-Werkstatt in D beauftragte. Ebenso wie er selbst unfallversicherungsrechtlich geschützt gewesen wäre, wenn er die Reparatur am Fahrzeug vor Antritt des Rückweges selbst durchgeführt und dabei, etwa beim Ausprobieren des instandgesetzten Fahrzeuges, den eigentlichen Heimweg kurzzeitig verlassen hätte, ging der Versicherungsschutz nicht dadurch verloren, daß er nach dem Abholen seines reparierten Kraftfahrzeuges aus der Werkstatt einen anderen als den üblichen, aber unmittelbar nach Hause führenden Weg fuhr.

Für die Erhaltung des Versicherungsschutzes bei Maßnahmen zur Wiederherstellung der Betriebsfähigkeit eines Beförderungsmittels hat der Senat allerdings gefordert, daß keine Umstände vorliegen, nach denen dem Versicherten zuzumuten wären, den Weg ohne das betriebsunfähige Beförderungsmittel etwa zu Fuß oder mit einem öffentlichen Verkehrsmittel fortzusetzen; auch dürfe die Wiederherstellung der Betriebsfähigkeit nach Art und Zeitaufwand nicht in einem Mißverhältnis zur Dauer des Weges im ganzen stehen (BSG 16, 245, 247). Diese Erfordernisse betrafen Fälle, in denen der Versicherte auf dem Weg nach oder von dem Ort der Tätigkeit oder vor Antritt dieser Wege die erforderlich gewordenen Instandsetzungsarbeiten selbst ausführte und dabei durch die Art und den Zeitaufwand der Verrichtungen zur Erhaltung oder Wiederherstellung des Beförderungsmittels der ursächliche Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit hätte gelöst werden können, so daß auf dem anschließenden Weg Versicherungsschutz nicht mehr bestanden haben würde. Wenn jedoch - wie hier - die Reparatur des Fahrzeuges von einer Werkstatt durchgeführt wird, von der es der Versicherte nach Betriebsschluß unverzüglich abgeholt und mit ihm den Heimweg fortgesetzt, kommt es grundsätzlich nicht darauf an, wie lange die Reparatur gedauert hat und ob es dem Versicherten zuzumuten wäre, ohne das reparierte Fahrzeug abzuholen, etwa mit dem Werksbus, nach Hause zu fahren. Allenfalls könnte es erheblich sein, ob es sich bei der mit der Reparatur beauftragten Werkstatt um die für das entsprechende Fahrzeug nächstgelegene geeignete Werkstatt gehandelt hat, da andernfalls beim Abholen des Fahrzeuges unverhältnismäßig lange zusätzliche Wege oder Umwege gefahren werden müßten (vgl. SozR Nr. 63 zu § 543 RVO aF), für die es möglicherweise an dem ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit fehlen könnte. Im vorliegenden Fall hat das LSG jedoch festgestellt, daß die vom Ehemann der Klägerin in Anspruch genommene Werkstatt in D in der weiteren Umgebung von D und B. die einzige Fiat-Werkstatt gewesen ist, so daß der Versicherungsschutz auch nicht deshalb ausgeschlossen war, weil der Weg über die Werkstatt nach Hause wie die Revision meint, fast 50 % länger gewesen ist, als der übliche Heimweg.

Die Revision der Beklagten war daher hinsichtlich des Anspruchs auf Witwenrente als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1646866

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