Leitsatz (amtlich)

Fährt ein Beschäftigter mit einem Kraftfahrzeug, das er nach dessen Instandsetzung in einer abseits des üblichen Fahrweges gelegenen Reparaturwerkstatt abgeholt hat, von dort aus zur Arbeit, so hat er in der Regel nicht von dieser Stelle aus den Weg nach der Arbeitsstätte iS des RVO § 543 Abs 1 S 1 aF angetreten.

 

Normenkette

RVO § 543 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1942-03-09

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 14. November 1962 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Kläger verunglückte am 15. Juli 1960 gegen 11.15 Uhr mit dem Kraftrad in Hamburg auf der M Straße. Er wohnte damals in H-Bo und war in der zum Gaswerk H-W gehörenden Kokerei K beschäftigt. Den Weg zur Arbeit legte er gewöhnlich mit seinem Kraftrad zurück; dieser Weg führte über die neue Harburger Elbbrücke durch Wilhelmsburg nach Kattwyk . Wenn es dem Kläger nicht möglich war, mit dem Kraftrad zur Arbeit zu fahren, benutzte er dorthin den Fährweg über die Süderelbe. Hierzu war es mehrere Tage vor dem Unfall gekommen, weil das Kraftrad betriebsunfähig geworden war. Der Kläger hatte es deshalb in eine Reparaturwerkstatt, die am Moorburger Elbdeich in der Nähe des Anlegeplatzes der Fähre nach Kattwyk lag, gebracht und von dort nach der Instandsetzung am Unfalltag gegen 11 Uhr wieder abgeholt. Er war aus seiner Wohnung zur Reparaturwerkstatt so zeitig weggegangen, daß er zu seiner um 14 Uhr beginnenden Arbeitsschicht noch mit der Fähre hätte zurechtkommen können, falls das Kraftrad noch nicht fahrbereit gewesen wäre. Er fuhr mit dem Kraftrad die Moorburger Straße, auf der er gekommen war, zurück und wäre auf seinen üblichen Fahrweg zur Arbeitsstätte gestoßen, wenn ihn nicht auf der Moorburger Straße der Unfall durch Zusammenstoß mit einem Kraftwagen betroffen hätte. Der Kläger trug bei dem Unfall erhebliche Verletzungen davon.

Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 23. März 1961 den Entschädigungsanspruch mit der Begründung ab, der Kläger sei nach dem Abholen seines instandgesetzten Kraftrades auf der Rückfahrt von einer eigenwirtschaftlichen Tätigkeit verunglückt.

Die Klage hiergegen hat das Sozialgericht Hamburg durch Urteil vom 1. Februar 1962 abgewiesen.

Mit der Berufung hat der Kläger geltend gemacht: Er sei bereits im Zeitpunkt des Unfalls nach der Arbeitsstätte unterwegs gewesen; den Weg dorthin habe er erst von der Reparaturwerkstatt aus angetreten. Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 14. November 1962 die Berufung zurückgewiesen und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt: Der Weg, den der Kläger mit seinem Kraftrad nach der Arbeitsstätte üblicherweise zurückgelegt habe, sei ein nach § 543 Abs. 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) versicherter Weg. Dem stehe nicht entgegen, daß ihm unter Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel ein kürzerer Weg nach der Arbeitsstätte zur Verfügung gestanden habe. Da der Kläger für die Zurücklegung des Weges nach und von der Arbeitsstätte aber immerhin nicht auf sein Kraftrad angewiesen gewesen sei, fielen alle mit der Erhaltung der Fahrbereitschaft des eigenen, für die Zurücklegung des Weges nach der Arbeitsstätte benutzten Kraftfahrzeuges zusammenhängenden Verrichtungen in seinen persönlichen Bereich. Das Hinbringen eines solchen Kraftrades zu einer Reparaturwerkstatt sowie das Abholen des instandgesetzten Fahrzeugs von dort stünden daher regelmäßig nicht unter Versicherungsschutz. Zum Abholen müsse auch die Rückfahrt von der Reparaturwerkstatt gerechnet werden. Im vorliegenden Falle wäre daher, da die Werkstatt abseits des üblichen Weges zur Arbeitsstätte gelegen sei, der Kläger auf der Fahrt mit dem Kraftrad erst versichert gewesen, wenn er den üblichen Fahrweg erreicht gehabt hätte. Da die Moorburger Straße nicht zu diesem Wege gehört habe, sei der auf dieser Straße zurückgelegte Weg des Klägers ebenso wie zur Reparaturwerkstatt hin auch von dieser wieder zurück nicht geschützt gewesen. Auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 27. April 1961 - 2 RU 192/58 - könne sich der Kläger nicht mit Erfolg berufen, da dieser Entscheidung ein andersgearteter Sachverhalt zugrunde liege.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Das am 14. November 1962 verkündete Urteil ist dem Kläger am 5. Januar 1963 zugestellt worden. Er hat am 27. Dezember 1962 Revision eingelegt und sie am 25. Januar 1963 begründet. Die Revision bringt vor: Das LSG habe verkannt, daß der Kläger am Unfalltag den Weg nach der Arbeitsstätte nicht von der Wohnung, sondern von der Reparaturwerkstatt aus angetreten habe. Wohl sei in dem Abholen des instandgesetzten Kraftrades eine eigenwirtschaftliche Verrichtung zu erblicken; nachdem aber der Kläger das Fahrzeug ausgehändigt erhalten und mit ihm die Fahrt in Richtung zur Arbeitsstätte angetreten habe, sei er auf dieser ganzen Fahrt nach § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO versichert gewesen. Entgegen der Auffassung des LSG müsse der vorliegende Streitfall nach denselben Grundsätzen beurteilt werden, welche für die Entscheidung des BSG vom 27. April 1961 - 2 RU 192/58 - maßgebend gewesen seien. Es müsse davon ausgegangen werden, daß der Kläger aus einem in seinem privaten Interesse liegenden Grund zu der Reparaturwerkstatt gegangen sei und von dort aus den Weg begonnen habe, dessen Ziel die Arbeitsstätte gewesen sei.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen und des Bescheides der Beklagten vom 23. März 1961 die Beklagte zur Gewährung der Unfallentschädigung zu verurteilen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie pflichtet im wesentlichen den Ausführungen des angefochtenen Urteils bei.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

II

Die Revision ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG); sie ist auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Dem steht nicht entgegen, daß der Kläger das Rechtsmittel eingelegt hat, bevor ihm das Berufungsurteil zugestellt war (vgl. Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 9. Aufl., S. 669 § 135 IV 1; RGZ 110, 170). Die Revision ist somit zulässig. Sie hatte jedoch keinen Erfolg.

Obwohl das LSG angenommen hat, daß der Kläger im Zeitpunkt des Unfalls mit seinem Kraftrad nach seiner Arbeitsstätte in Kattwyk unterwegs war, hat es den Versicherungsschutz nach § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO aF mit Recht verneint, weil diese Fahrt mit der versicherten Tätigkeit des Klägers in dem K. Gaswerk nicht in einem rechtlich wesentlichen inneren Zusammenhang stand. Das LSG ist zwar zutreffend davon ausgegangen, daß der Kläger unter Versicherungsschutz nach dieser Vorschrift auch auf dem Wege stand, den er mit seinem Kraftrad regelmäßig von seiner Wohnung in Hamburg-B. aus durch die Cuxhavener und B. Straße, weiter über die Harburger Elbbrücke durch Wilhelmsburg bis zum K. Gaswerk zurücklegte, und daß er, um den Versicherungsschutz zu wahren, jedenfalls nicht schlechthin auf den kürzeren Fährweg über die Süderelbe, den er benutzte, wenn er nicht mit seinem Kraftrad fahren konnte, angewiesen war. Auf jenem Fahrweg befand sich der Kläger aber noch nicht, als er mit seinem Kraftrad verunglückte. Er wollte ihn vielmehr erst erreichen. Damit ist jedoch noch nicht, wie in dem angefochtenen Urteil zutreffend ausgeführt ist, die Frage nach dem Versicherungsschutz des Klägers auf der zum Unfall führenden Fahrt ohne weiteres gegenstandslos geworden. Nach den vom LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen hatte der Kläger sich von seiner Wohnung aus zu Fuß nach der am Moorburger Elbdeich in der Nähe der Anlegestelle der Süderelb-Fähre gelegenen Kraftfahrzeugwerkstatt begeben, um sein Kraftrad, das sich dort seit einigen Tagen zur Reparatur befand, für die Fahrt nach der Arbeitsstätte in Kattwyk abzuholen. Von seinem regelmäßig benutzten Fahrweg war er also abgezweigt und auf einer Seitenstraße, der Moorburger Straße, zu der abseits gelegenen Werkstatt gelangt. Von dort aus fuhr der Kläger mit dem abgeholten Kraftrad auf derselben Straße, auf der er zu Fuß gekommen war, zurück. Bei diesem Sachverhalt hat das LSG mit Recht angenommen, daß der Kläger auf dieser Fahrt, die festgestelltermaßen in Richtung zur Arbeitsstätte auf der üblichen Straßenführung über die Harburger Elbbrücke fortgesetzt werden sollte, nicht etwa deshalb nach § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO aF geschützt gewesen sei, weil sie mit der Wiederherstellung der Fahrbereitschaft des für die Zurücklegung des Weges nach und von der Arbeitsstätte benutzten Beförderungsmittels zusammenhing. Derartige Verrichtungen wie das Abholen eines reparierten Kraftfahrzeuges aus der Werkstatt sind in der Regel nicht der versicherten betrieblichen Sphäre des Beschäftigten zuzurechnen, und zwar selbst dann nicht, wenn das Beförderungsmittel ausschließlich der Zurücklegung dieser Wege dient (vgl. BSG 16, 77, 78 und 245, 247).

Ebensowenig ist der Versicherungsschutz aber auch unter dem vom Kläger geltend gemachten Gesichtspunkt zu rechtfertigen, daß die von der Werkstatt aus angetretene Fahrt mit dem reparierten Kraftrad nicht dem unversicherten Abholen des Kraftrades zugerechnet werden dürfe, weil sie zweck- und zielbestimmt auf das Erreichen der Arbeitsstätte gerichtet gewesen sei. Unter der vom LSG für die rechtliche Beurteilung des vorliegenden Streitfalles als gegeben angesehenen Voraussetzung, daß sich der Kläger mit dem instandgesetzten Kraftrad ohne Unterbrechung an seinen Beschäftigungsort in Kattwyk begeben wollte, diente die Fahrt wenigstens so lange, als er sich noch auf der Moorburger Straße, d. h. noch nicht auf seinem üblichen Fahrweg (Cuxhavener und Buxtehuder Straße), befand, dem Zweck, die Zurücklegung des Weges nach der Arbeitsstätte erst zu ermöglichen, also gewissermaßen vorzubereiten. Jedenfalls war der Kläger auf diesem Teil der Fahrt noch im Begriff, das Kraftrad nach der Instandsetzung wieder herbeizuschaffen, damit er seine Absicht, sich auf dem Landfahrweg zur Arbeit zu begeben, verwirklichen konnte. Solange die Fahrt auf diesen Zweck gerichtet war, trat nach Auffassung des erkennenden Senats demgegenüber der Umstand, daß die Arbeitsstätte Ziel der Fahrt war, in den Hintergrund und mußte als rechtlich unwesentlich unberücksichtigt bleiben. Für die gegenteilige Ansicht beruft sich die Revision zu Unrecht auf das Urteil des 2. Senats des BSG vom 27. April 1961 (SozR RVO § 543 aF Bl. Aa 25 Nr. 32). Dafür, daß in dem jener Entscheidung zugrunde liegenden Fall der Zusammenhang des unfallbringenden Weges mit der versicherten Tätigkeit bejaht wurde, war maßgebend, daß sich die Versicherte von ihrer Wohnung aus zu einer in anderer Richtung als die Arbeitsstätte gelegenen Wäscherei begeben, sich dort eigenwirtschaftlich betätigt und anschließend den Weg zu ihrer Beschäftigungsfirma angetreten hatte. Bei diesem Sachverhalt trat der Umstand, daß dem Zwischenaufenthalt der Versicherten in der Wäscherei ein von der Wohnung aus zurückgelegter Weg vorangegangen war, in seiner rechtlichen Bedeutung für die Beurteilung der Zusammenhangsfrage im Sinne des § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO aF zurück. Der Weg, auf dem die Versicherte zur Arbeitsstätte gelangen wollte und auf dem sie verunglückte, stellte sich unter den dort gegebenen Umständen nicht als ein bloßer Rückweg von der Wäscherei dar, sondern wurde zurückgelegt, ohne daß auf ihn Gründe von wesentlichem Einfluß gewesen wären, die nicht mit der versicherten Tätigkeit der Betroffenen zusammengehangen hatten. Die gleiche Rechtslage ergab sich mit besonderer Deutlichkeit in einem weiteren, vom 2. Senat des BSG am 30. August 1963 - 2 RU 243/61 - entschiedenen Streitfall. Dort hatte sich der Versicherte, dessen Arbeitszeit um 14.30 Uhr begann, gegen 11 Uhr von seiner Wohnung aus zu einem nahegelegenen Laubengrundstück begeben, in der Gartenlaube etwa eineinhalb Stunden bei Frühstück und Zeitunglesen verbracht und anschließend den unfallbringenden Weg nach der Arbeitsstätte angetreten. Den beiden Fällen sind besondere Umstände eigentümlich, die es rechtfertigen, einen von einer anderen Stelle als der Wohnung aus angetretenen Weg nach der Arbeitsstätte als versicherungsrechtlich geschützt anzusehen. Nach den gemeinsamen Merkmalen der gegebenen Sachverhalte waren die Versicherten nicht auf demselben Weg, den sie zum Ort ihrer privaten Betätigung von der Wohnung aus zurückgelegt hatten, zurückgekehrt; Art und Umfang ihres Zwischenaufenthaltes ließen es nach der Verkehrsanschauung als gerechtfertigt erscheinen, den vom Aufenthaltsort aus angetretenen Weg zur Arbeitsstätte nach dessen Zielrichtung und nicht nach der vorausgegangenen Tätigkeit rechtlich zu charakterisieren. Im vorliegenden Fall hingegen sind Umstände, die zu einer solchen - ausnahmsweisen - Schlußfolgerung berechtigen könnten, nicht gegeben. Abgesehen davon, daß der Kläger nach dem Verlassen der Reparaturwerkstatt mit dem Kraftrad auf demselben Weg zurückgefahren ist, auf dem er von seiner Wohnung her zu Fuß gekommen war, handelte es sich bei der Fahrt mit dem abgeholten Fahrzeug um einen Weg, der mit der vorangegangenen Verrichtung des Klägers in der Reparaturwerkstatt, und zwar einschließlich seines Weges von der Wohnung zu der Werkstatt, noch rechtlich wesentlich zusammenhing. Bei einem so gearteten Sachverhalt ist lediglich deshalb, weil die unfallbringende Fahrt des Klägers zur Arbeitsstätte führen sollte, nach der Verkehrsanschauung nicht die Annahme gerechtfertigt, daß die Fahrt durch diese Zielrichtung das rechtliche Gepräge erhalten und demzufolge der Kläger nicht schon von der Wohnung, sondern erst von der Reparaturwerkstatt aus den Weg zur Arbeitsstätte angetreten habe.

Nach Lage dieses Falles war daher die Fahrt im Zeitpunkt des Unfalls noch durch die vorangegangenen, dem persönlichen und somit unversicherten Lebensbereich des Klägers zuzurechnenden Verrichtungen gekennzeichnet und rechtlich charakterisiert. Als Arbeitsunfall im Sinne des § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO aF ist nach alledem der Unfall des Klägers auf der Moorburger Straße nicht anzusehen. Die Revision mußte daher als unbegründet zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380017

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