Orientierungssatz

War der Weg von einem dritten Ort zum Ort der Tätigkeit durch eine notwendige ärztliche Behandlung oder Untersuchung in einer Fachklinik bedingt, so ist bei einem nicht ungewöhnlich langen Weg der Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit gegeben (vgl BSG vom 27.8.1987 - 2 RU 70/85 = SozR 2200 § 550 Nr 76). Insoweit kommt der nicht mehr aufklärungsbedürftigen Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG zu.

 

Normenkette

RVO § 550 Abs 1; SGG § 160 Abs 2 Nr 1, § 161 Abs 2 S 2

 

Verfahrensgang

SG Dortmund (Entscheidung vom 12.10.1988; Aktenzeichen S 21 U 190/87)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um Hinterbliebenenentschädigung aus der Unfallversicherung.

Der Kläger ist Witwer der am 22. März 1986 verstorbenen I.       H. (H.). H. war in M.                  als Leiterin eines Kindergartens beschäftigt und wohnte auch dort. Am 18. März 1986 war sie vor Antritt ihrer Arbeit mit dem Pkw zum Knappschafts-Krankenhaus in D.               gefahren, um sich in der radiologischen Abteilung einer Schilddrüsenbehandlung zu unterziehen. Nach einem mehrstündigen Krankenhausaufenthalt begab sie sich auf den Weg zum Kindergarten, um dort ihre Arbeit aufzunehmen. In M.,     kurz bevor sie den Kindergarten erreichen konnte, stieß ihr Pkw auf einer Straßenkreuzung mit einem Lkw zusammen. Dabei wurde H. so schwer verletzt, daß sie infolge dieser Verletzungen verstarb.

Die beklagte Berufsgenossenschaft (BG) lehnte es ab, dem Kläger Hinterbliebenenentschädigung zu gewähren. H. habe keinen Arbeitsunfall erlitten. Sie habe sich zum Unfallzeitpunkt auf einem rechtlich selbständigen Weg befunden, der ausschließlich durch private Gründe in seiner Länge und Dauer so erheblich gewesen sei, daß er nicht mehr in einem inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit gestanden habe. Während der übliche Weg von ihrer Wohnung zum Kindergarten ca 1,1 km lang gewesen sei, habe die Strecke von B.      zum Kindergarten ca 31 km betragen (Bescheid vom 17. Oktober 1986, Widerspruchsbescheid vom 1. Juli 1987).

Das Sozialgericht (SG) Dortmund hat die Beklagte dagegen verurteilt, dem Kläger wegen des Todes der H. durch Arbeitsunfall am 18. März 1986 Hinterbliebenenentschädigung zu gewähren (Urteil vom 12. Oktober 1988): H. sei auf einem Weg verunglückt, der im inneren Zusammenhang mit ihrer Beschäftigung im Kindergarten gestanden habe. Es sei ein rechtlich selbständiger Weg von einem dritten Ort zum Ort der Tätigkeit gewesen. Allein von dem Zweck der Arbeitsaufnahme sei dieser Weg geprägt gewesen. Dem stehe nicht entgegen, daß der unfallbringende Weg wegen des Krankenhausaufenthalts etwa 30mal so lang gewesen sei, wie der üblicherweise von der Wohnung zum Kindergarten zurückgelegte. Denn der um ca 30 km längere Weg von dem Krankenhaus stelle unter Berücksichtigung der heutigen Straßenverhältnisse keinen ungewöhnlich langen Weg dar. Das Bundessozialgericht (BSG) habe in seinen Urteilen vom 27. August 1987 (2 RU 70/85 und 2 RU 15/87) entschieden, daß die Begrenzung allein nach einem bestimmten Vielfachen der regelmäßig vom häuslichen Bereich zum Arbeitsplatz zurückgelegten Wegstrecke kein geeignetes Abgrenzungskriterium für den erforderlichen inneren Zusammenhang des Weges mit der versicherten Tätigkeit sei.

Mit der - vom SG durch Beschluß zugelassenen - Sprungrevision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts. Aus den Urteilen des BSG vom 27. August 1987 (2 RU 70/85 und 2 RU 15/87) sowie vom 30. März 1988 (2 RU 85/87) ergebe sich im Zusammenhang mit der dort in bezug genommenen Meinung von Brackmann (Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, S 485r II), daß der von H. zurückgelegte Weg nicht in einem angemessenen Verhältnis zu ihrem üblichen Arbeitsweg gestanden habe, weil er 30mal länger als dieser gewesen sei.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Aufgrund der hier zu beachtenden besonderen Umstände - Notwendigkeit einer gezielten Krankenbehandlung außerhalb des Wohnortes - sei der Entscheidung des SG zuzustimmen. Für den erforderlichen inneren Zusammenhang eines Weges mit der versicherten Tätigkeit seien auch Umstände zu berücksichtigen, die den Versicherten zwängen, den Weg zur Arbeit von einem weiter entfernt liegenden dritten Ort aus anzutreten. Dazu gehöre generell der Arztbesuch, der gleichermaßen im Interesse des Arbeitnehmers und seines Arbeitgebers stehe. Da für bestimmte Leiden nur bestimmte Ärzte oder Krankenhäuser zur Verfügung ständen, unterscheide sich die Länge des Weges von der ärztlichen Behandlung zur Arbeitsstätte oftmals zwangsläufig von der üblichen Wegstrecke. Trotzdem seien auch diese längeren Wege vom Arzt zur Arbeitsstätte durch die Absicht geprägt, die Arbeit aufzunehmen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten hat keinen Erfolg.

Sie ist zulässig, weil das SG sie gemäß § 161 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Beschluß zugelassen hat. Daran ist der Senat gemäß § 161 Abs 2 Satz 2 SGG gebunden (s BSG SozR 1500 § 160 Nr 21 und § 161 Nr 27), obwohl - entgegen der Meinung des SG und der Beklagten - der nicht mehr klärungsbedürftigen Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG zukommt, wie im nachfolgenden anhand der bereits vorliegenden Rechtsprechung des Senats aufzuzeigen ist.

Die Revision ist unbegründet. Dem Kläger steht der geltend gemachte Anspruch auf Hinterbliebenenentschädigung zu, weil seine Ehefrau infolge eines Arbeitsunfalls iS des § 550 Abs 1 iVm § 548 Abs 1 und § 539 Abs 1 Nr 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) gestorben ist (§ 589 Abs 1, § 590 RVO). Das hat das SG zu Recht erkannt.

Nach § 550 Abs 1 RVO gilt als Arbeitsunfall auch ein Unfall auf einem mit einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit.

Das SG hat für den Senat bindend die tatsächlichen Feststellungen getroffen (§§ 163, 161 Abs 4 SGG), daß H. auf dem Weg von einer Schilddrüsenbehandlung in der radiologischen Abteilung des Knappschafts-Krankenhauses in D. zur Aufnahme ihrer versicherten Tätigkeit im Kindergarten in M. verunglückte. Sie hatte sich von 8.00 Uhr bis 12.30 Uhr im Krankenhaus aufhalten müssen.

H. hatte sich also nicht von ihrer Wohnung, sondern von einem sogenannten dritten Ort aus auf dem Weg zum Ort der Tätigkeit befunden, als sie verunglückte. Die Dauer ihres Krankenhausaufenthalts war so erheblich, daß der vorangegangene Weg von der Wohnung zum Krankenhaus eine selbständige Bedeutung im privaten, unversicherten Bereich der H. erlangt hatte (Urteile des Senats vom 27. August 1987 - 2 RU 70/85 - in BSGE 62, 113 = SozR 2200 § 550 Nr 76 und - 2 RU 15/87 - in BAGUV RdSchr 101/87 = HV-Info 1987, 1845 = USK 87121, jeweils mwN). Allein der festgestellte zeitliche Umfang des Krankenhausaufenthalts ist so bedeutsam für die Beurteilung des vorangegangenen Weges, daß es entgegen der Meinung der Beklagten schon deshalb sozialversicherungsrechtlich dahinstehen kann, ob H. sich dazu hatte beurlauben lassen oder nicht.

Indessen genügt es nach der Rechtsprechung des Senats zur Begründung des Versicherungsschutzes nicht allein, daß der Ort der versicherten Tätigkeit Ausgangs- und Endpunkt des Weges ist. § 550 Abs 1 iVm § 548 Abs 1 RVO setzt vielmehr voraus, daß sich ein Arbeitsunfall bei der versicherten Tätigkeit ereignet. Dazu ist in der Regel erforderlich, daß das Verhalten, bei dem sich der Unfall ereignet, einerseits zur versicherten Tätigkeit zu rechnen ist, und daß diese Tätigkeit andererseits den Unfall herbeigeführt hat. Zunächst muß also eine sachliche Verbindung mit der Betriebstätigkeit und dem Unternehmen bestehen, der sogenannte innere Zusammenhang, der es rechtfertigt, das betreffende Verhalten der versicherten Tätigkeit zuzurechnen.

Auf dem Wege von der eigenen Wohnung zur Arbeitsstätte wird grundsätzlich ein innerer Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit angenommen, weil der Versicherte diesen Weg wegen seiner Tätigkeit im Unternehmen zurücklegen muß. Dieser Zurechnung ist im Bereich des Wegeunfallversicherungsschutzes eigentümlich, daß der Natur der Sache nach ein zweiter, eigenwirtschaftlicher oder privater Handlungszweck vorliegt, der versicherungsunschädlich ist. Regelmäßig dient der Weg dem Versicherten zugleich dazu, den seinen persönlichen Interessen dienenden privaten Bereich zu verlassen. Trotzdem besteht nach § 550 RVO Unfallversicherungsschutz.

In diesem Rahmen hängt der hier umstrittene Versicherungsschutz gegen Wegeunfälle entscheidend davon ab, ob der Weg zur Arbeitsstätte von einem dritten Ort rechtlich wesentlich von dem Vorhaben der Versicherten bestimmt war, die versicherte Tätigkeit am Ort der Tätigkeit aufzunehmen (Urteile des Senats vom 27. August 1987 aaO). Das muß im vorliegenden Fall nach den tatsächlichen Feststellungen des SG ohne Einschränkung bejaht werden.

Richtig ist allerdings, daß der erforderliche innere Zusammenhang nur unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls angenommen werden darf. Der Senat hat bereits darauf hingewiesen (Urteile vom 27. August 1987 aaO), daß Brackmann (aaO Band II S 485r II und S 485s) in Auswertung der Rechtsprechung des BSG dafür insgesamt ein angemessenes Verhältnis zu dem üblichen Weg des Versicherten nach und von dem Ort der Tätigkeit fordert. Er verweist dabei insbesondere auf die Urteile des BSG vom 11. Oktober 1973 (2 RU 1/73) und vom 2. Februar 1978 (8 RU 48/77), in denen der Aufenthalt am dritten Ort dem Zusammensein mit der Verlobten und im zweiten Fall der Pflege eines Sohnes diente.

Indessen ist der Revision nicht zu folgen, daß die hier festgestellten Umstände der Annahme des erforderlichen inneren Zusammenhangs entgegenstehen. Der Senat hat bereits mit aller Deutlichkeit entschieden (Urteile vom 27. August 1987 aaO), daß eine entfernungsmäßige Begrenzung des inneren Zusammenhangs allein nach einem bestimmten Vielfachen der regelmäßig vom häuslichen Bereich zum Ort der Tätigkeit zurückgelegten Wegstrecke als Kriterium ungeeignet ist. Das gilt besonders für solche Versicherte, die nahe zum Ort der Tätigkeit wohnen, wie H. im vorliegenden Fall (s die Urteile des Senats vom 27. August 1987 aaO mit eingehender Begründung). Zutreffend hat deshalb das SG die Tatsache für unerheblich gehalten, daß der unfallbringende Weg von ca 31 km das 30fache der Wegstrecke zwischen der Wohnung der H. und dem Kindergarten betrug. Unter diesen Umständen ist der erforderliche innere Zusammenhang nach anderen Kriterien zu beurteilen. Maßgeblich ist hier, ob der längere Weg vom dritten Ort bei den herrschenden Verkehrsverhältnissen für einen Autofahrer als ungewöhnlich lang einzuschätzen ist. Entscheidend ist auch, ob der längere Weg mit dem benutzten Pkw eine derartige Fahrtdauer erfordert, daß deshalb das Vorhaben, sich zum Ort der Tätigkeit zu begeben, nicht mehr als rechtlich wesentlich für die Wahl des längeren Weges angesehen werden kann. Dabei ist auch das Motiv für den Aufenthalt am dritten Ort zu berücksichtigen. Zwecke allgemeinen privaten Interesses, des Vergnügens oder der allgemeinen Erholung stehen der Aufnahme und Leistung der versicherten Arbeit weniger nahe als notwendige ärztliche Spezialbehandlungen in einer Fachklinik. Auf diesen Umstand hat der Senat ebenfalls schon hingewiesen (Urteile vom 27. August 1987, aaO). Zwar hat der Senat auch in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß Maßnahmen, die der Erhaltung der Gesundheit und daher auch zugleich der Erhaltung der Arbeitskraft des Versicherten dienen, grundsätzlich dem unversicherten persönlichen Lebensbereich zuzurechnen sind und nicht schon deshalb als unter Versicherungsschutz stehende Tätigkeiten anzuerkennen sind, weil sie zugleich auch Interessen des Unternehmens dienen (SozR Nr 75 zu § 542 RVO aF mwN). Daran ist auch weiterhin grundsätzlich festzuhalten. Aber der Senat hat zu keiner Zeit übersehen, daß solche Maßnahmen eben auch dem Interesse des Unternehmens dienen und deshalb wenigstens mittelbar von Bedeutung sein können. Darauf weist der Kläger zutreffend hin.

Jedenfalls dann, wenn es sich, wie im vorliegenden Falle, um eine notwendige ärztliche Behandlung oder Untersuchung in einer Fachklinik handelt, ist dies ein Umstand, der nicht ungewöhnlich lange Wege von der Fachklinik zum Ort der Tätigkeit zusätzlich in Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit bringt. Zusammen mit der Absicht des Versicherten, die Arbeit aufzunehmen, stellt er den Weg vom dritten Ort rechtlich wesentlich in den inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit. Diese Fallgestaltung lag schon den beiden Urteilen des Senats vom 27. August 1987 (aaO) zugrunde, wie das SG zutreffend erkannt hat.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1660263

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