Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankengeld. Rentenübergang. Verzicht auf Rente

 

Leitsatz (redaktionell)

Für den Übergang des Rentenanspruchs nach RVO § 183 Abs 3 genügt das Bestehen eines Rentenanspruchs, ohne daß es auf dessen formelle Feststellung ankommt; der Forderungsübergang tritt deshalb mit dem Zeitpunkt der Zubilligung der Rente (Tag des Rentenbeginns) ein und wird nicht erst durch den Erlaß eines Rentenbescheides bewirkt.

 

Orientierungssatz

Ist ein Rentenanspruch auf die KK übergegangen, so kann der Versicherte nicht mehr auf die übergegangene Rente verzichten, weil er insoweit nicht mehr verfügungsberechtigt ist.

Ebenso ist es dem Rentenversicherungsträger versagt, über den kraft Gesetz übergegangenen Anspruch rückwirkend durch Bescheid zu verfügen.

 

Normenkette

RVO § 183 Abs. 3 Fassung: 1961-07-12

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 07.03.1979; Aktenzeichen L 4 Kr 3/78)

SG Oldenburg (Entscheidung vom 03.11.1977; Aktenzeichen S 6 Kr 22/74)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 7. März 1979 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um einen Rentenübergang.

Der bei der Klägerin und der Beklagten versicherte Beigeladene bezog seit dem 3. Oktober 1968 von der Beklagten Rente, zunächst eine Zeitrente wegen Erwerbsunfähigkeit, seit dem 1. August 1969 Zeitrente wegen Berufsunfähigkeit und seit dem 1. März 1973 eine unbefristete Rente wegen Berufsunfähigkeit. Aufgrund einer Erkrankung war er seit dem 31. Juli 1972 arbeitsunfähig und bezog seit diesem Zeitpunkt von der Klägerin Krankengeld. Die Klägerin zahlte das Krankengeld bis zum 18. Juli 1973. Nachdem der Versicherte beantragt hatte, seine Berufsunfähigkeitsrente in eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit umzuwandeln, entsprach die Beklagte diesem Begehren und gewährte dem Versicherten durch einen Bescheid vom 24. Oktober 1973 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit vom 5. Juni bis zum 31. Dezember 1973. Am 12. November 1973 nahm der Versicherte mit einer Erklärung gegenüber der Beklagten seinen Antrag auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zurück und verzichtete auf diese Leistung. Die Beklagte hob sodann mit Bescheid vom 15. November 1973 ihren Rentenfeststellungsbescheid wieder auf und ordnete die Zahlungseinstellung für die Erwerbsunfähigkeitsrente an.

Mit Schreiben vom 5. November 1973 erhob die Klägerin Anspruch auf die übergegangene Rente. Sie forderte von der Beklagten den Differenzbetrag zwischen der Berufsunfähigkeits- und der Erwerbsunfähigkeitsrente für die Zeit vom 5. Juni bis 18. Juli 1973 in Höhe von 150,60 DM, weil dieser Teil des Rentenanspruchs auf sie nach § 183 Abs 3 Reichsversicherungsordnung (RVO) übergegangen sei. Die Beklagte verweigerte die Erfüllung des Anspruchs. Sie war der Auffassung, der Anspruch des Versicherten auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit sei durch die Rücknahme seines Rentenantrags erloschen.

Das Sozialgericht (SG) Oldenburg hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 3. November 1977): Zwar sei der Anspruch des Versicherten auf Erwerbsunfähigkeitsrente auf die Klägerin übergegangen, diese müsse sich aber nach § 407 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) die Rücknahme des Rentenantrags entgegenhalten lassen.

Auf die zugelassene Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen das Urteil aufgehoben und die Beklagte gemäß der Forderung der Klägerin verurteilt (Urteil vom 7. März 1979): Dem Versicherten sei eine Erwerbsunfähigkeitsrente zugebilligt worden, und mit der Zubilligung sei der Rentenübergang nach § 183 Abs 3 RVO eingetreten. Von diesem Zeitpunkt an sei der Versicherte nicht mehr verfügungsberechtigt und sein Verzicht deshalb unwirksam gewesen. An dieser Rechtslage habe auch die Beklagte mit ihrem Aufhebungsbescheid vom 15. November 1973 nichts ändern können, zumal er der Klägerin weder zugestellt noch sonst zugegangen sei. Schließlich könne sich die Beklagte nicht auf den Schuldnerschutz der §§ 407, 412 BGB berufen, weil ihr alle Fallumstände bekannt gewesen seien.

Gegen dieses Urteil richtet sich die zugelassene Revision der Beklagten. Sie rügt die Verletzung materiellen Rechts. Sie teilt zwar die Auffassung des LSG, daß die Schuldnerschutzvorschriften der §§ 407 und 412 BGB einem Rentenübergang nicht entgegenstünden, meint jedoch, daß der Verzicht des Versicherten die Forderung der Klägerin zunichte gemacht habe. Die Inanspruchnahme von Sozialleistungen stehe in der freien Entscheidung des Versicherten, es bleibe daher diesem überlassen, Leistungsanträge zu stellen oder auch zurückzunehmen. Im Falle der Rücknahme des Rentenantrages sei die klagende Krankenkasse so zu stellen, als ob der Versicherte keinen Antrag eingereicht hätte. In diesem Zusammenhang sei zu beachten, daß die Krankenkasse seit dem 1. Oktober 1974 nicht mehr befugt sei, den Versicherten zur Stellung eines Rentenantrags aufzufordern.

Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils des Landessozialgerichts Niedersachsen - L 4 Kr 3/78 - die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend und weist darauf hin, daß die Beklagte die Rechtswirkungen der Abtretungen verkenne. Die Forderung sei schon wirksam auf die Klägerin übergegangen gewesen, als der Versicherte seinen Rentenantrag zurückzog. Im übrigen sei aber zu beachten, daß der Versicherte durch die Rücknahme des Rentenantrags seine wirtschaftliche Lage nicht verbessert habe, denn ihm verbleibe der die Rentenhöhe übersteigende Betrag des Krankengeldes in jedem Falle.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet.

Die Beklagte ist verpflichtet, den übergegangenen Rentenanspruch an die Klägerin zu zahlen.

Der versicherte Beigeladene bezog seit dem 1. August 1969 eine Rente wegen Berufsunfähigkeit und seit dem 31. Juli 1972 Krankengeld. Das Zusammentreffen dieser beiden Leistungen hatte keine Auswirkungen auf die Ansprüche des Versicherten, weil die Kürzungsregelung des § 183 Abs 5 Satz 1 RVO nur dann eingreift, wenn die Rente wegen Berufsunfähigkeit dem Versicherten während des Bezugs von Krankengeld zugebilligt wird (BSGE 20, 135 ff). Dabei ist unter "Zubilligung" der Rente der Tag des Rentenbeginns zu verstehen (BSGE 19, 28, 29; 20, 135, 137). Da im vorliegenden Rechtsstreit der Beginn der Berufsunfähigkeitsrente zeitlich weit vor dem Beginn der Krankengeldzahlung lag, trat keine Kürzung des Krankengeldanspruchs ein.

Anders ist die Rechtslage, soweit sie das Zusammentreffen des Krankengeldes mit der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit betrifft. Nach § 183 Abs 3 Satz 1 RVO endet der Anspruch auf Krankengeld mit dem Tage, von dem an die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit dem Versicherten von einem Träger der Rentenversicherung zugebilligt wird. Wie der Senat bereits in den Urteilen vom 10. Juli 1979 - 3 RK 87/77, 3 RK 43/78 und 3 RK 3/79 - eingehend dargelegt hat, kann aus dieser Vorschrift nicht entnommen werden, daß der Übergang des Rentenanspruchs den Erlaß eines ohnehin nur deklaratorische Bedeutung besitzenden Rentenbescheides oder die Erfüllung sonstiger zusätzlicher formeller Bedingungen erfordert. Der Regelungsgehalt der Vorschrift erschöpft sich darin, anzuordnen, daß der Krankengeldanspruch mit einem bestimmten Termin - dem Zeitpunkt der Rentenzubilligung - endet. Ihr materiell-rechtlicher Inhalt betrifft mithin das Rechtsverhältnis zwischen der Krankenkasse und dem Versicherten und legt in diesem Rechtsverhältnis den Umfang des Leistungsanspruchs fest. Die Vorschrift betrifft dagegen weder das zwischen dem Versicherten und dem Rentenversicherungsträger bestehende Rechtsverhältnis noch den Ausgleich zwischen dem Rentenversicherungsträger und der Krankenkasse.

Das Rentenversicherungsverhältnis wird erst in § 183 Abs 3 Satz 2 RVO angesprochen. Diese Vorschrift aber befaßt sich ausschließlich mit der Frage, ob über einen bestimmten Zeitpunkt hinaus Krankengeld gezahlt worden ist. Ist das der Fall, dann regelt sie den Übergang des Rentenanspruchs. Sie enthält also lediglich materielles Recht und stellt keinerlei formelle Erfordernisse auf. Dasselbe gilt für § 183 Abs 3 Satz 3 RVO, der im Rahmen des Krankenversicherungsverhältnisses die Freistellung des Versicherten von Rückzahlungsverpflichtungen betrifft. § 183 Abs 3 RVO bietet mithin keinen Anhalt dafür, daß der Übergang des Rentenanspruchs erst durch den Erlaß eines Rentenbescheides bewirkt wird. Dieser Anspruchsübergang setzt vielmehr lediglich das Bestehen des Rentenanspruchs voraus, nicht aber dessen verwaltungsmäßige Feststellung. Er tritt kraft Gesetzes ein, sobald die materiell-rechtlichen Voraussetzungen des § 183 Abs 3 Satz 1 - Ende des Krankengeldanspruchs - und des Satzes 2 dieser Vorschrift - Zahlung von Krankengeld nach diesem Zeitpunkt - erfüllt sind.

Im vorliegenden Rechtsstreit hat der Versicherte seit dem 31. Juli 1972 Krankengeld bezogen, und ihm ist von der Beklagten mit Wirkung ab 5. Juni 1973 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zugebilligt worden. Mit diesem Datum hat demgemäß sein Anspruch auf Krankengeld geendet. Da die Klägerin über dieses Datum hinaus bis zum 18. Juli 1973 Krankengeld an den Versicherten gezahlt hat, ist dadurch der Rentenanspruch des Versicherten auf die Klägerin übergegangen, wie das LSG zutreffend festgestellt hat. An dieser kraft Gesetzes eintretenden Rechtsfolge konnte die Erklärung des Versicherten vom 12. November 1973 nichts ändern. Es muß schon fraglich sein, ob der Kläger noch zu diesem Zeitpunkt seinen Antrag auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit hätte wirksam zurücknehmen können, denn der Rentenversicherungsträger hatte über den Antrag bereits - dem Versicherten gegenüber bindend (vgl BSGE 47, 288, 292) - entschieden, und damit war der Antrag verbraucht. Aber selbst wenn man den Formalakt der Antragstellung als zu diesem Zeitpunkt noch rücknehmbar ansehen wollte, bliebe noch die materiell-rechtliche Wirkung der Rentengewährung bestehen. Zwar hat der Versicherte in seiner Erklärung vom 12. November 1973 auf diesen Anspruch "verzichtet", allein diese Erklärung war unwirksam, weil der Versicherte nicht mehr verfügungsberechtigt war. Das LSG hat in diesem Zusammenhang zutreffend auf die Vorschriften des SGB I hingewiesen, auch wenn diese hier noch keine Anwendung finden.

Soweit der Rentenanspruch mit dem gezahlten Krankengeld zusammenfiel, war er nach § 183 Abs 3 Satz 2 RVO bereits auf die Klägerin übergegangen. Der Rentenübergang geht selbst einer wirksamen Abtretung des Rentenanspruchs vor (vgl BSGE 28, 255, 257). Den übergegangenen Anspruch, den das Gesetz der Klägerin als Ausgleich für das von ihr anstelle der Rente vorgeleistete Krankengeld zubilligt, konnte die Beklagte auch durch ihren Bescheid vom 15. November 1973 nicht mehr beeinflussen. Abgesehen davon, daß dieser Bescheid der Klägerin überhaupt nicht zugegangen ist, worauf das LSG bereits hingewiesen hat, bestand für die Beklagte auch nicht die rechtliche Möglichkeit, den der Klägerin zustehenden materiell-rechtlichen Ausgleichsanspruch durch Verwaltungsakt zu regeln oder durch einseitige Maßnahmen zu vernichten. Wollte man der Auffassung der Beklagten folgen, so würde das bedeuten, ihr als Schuldnerin des Anspruchs die Befugnis zuzubilligen, durch ein in ihrem Belieben stehendes Verwaltungshandeln die geschuldete Forderung zu beseitigen, ohne daß der andere Versicherungsträger als Gläubiger des Anspruchs darauf Einfluß nehmen könnte. Eine derartige Rechtskonstruktion wird jedoch nicht durch gesetzliche Vorschriften gedeckt. Zwar vermag der zulässige Verzicht eines Versicherten einen bestehenden Rentenanspruch zum Erlöschen zu bringen, jedoch tritt in einem solchen Fall diese Rechtswirkung aufgrund der Willenserklärung des Versicherten ein; der Rentenversicherungsträger könnte lediglich jene Rechtswirkung deklaratorisch feststellen. Im vorliegenden Rechtsstreit war der Rentenanspruch im streitigen Umfang kraft Gesetzes auf die Klägerin übergegangen. Nach dem Übergang war die Beklagte nicht in der Lage, durch den Bescheid vom 15. November 1973 rückwirkend über den Anspruch zu verfügen. Im vorliegenden Fall bedarf es keiner Prüfung, wie die Rechtslage bei einem Bescheid über eine zulässige zukünftige Rentenentziehung oder bei einem auf § 1744 RVO beruhenden Bescheid zu beurteilen wäre, weil derartige Sachverhalte hier nicht vorliegen.

Über die Höhe des Anspruchs besteht zwischen den Beteiligten kein Streit, denn die Klägerin hat für die Zeit vom 5. Juni bis zum 18. Juli 1973 nur den Differenzbetrag zwischen der Berufsunfähigkeits- und der Erwerbsunfähigkeitsrente geltend gemacht. In dieser Zeit hatte die Beklagte die Berufsunfähigkeitsrente an den Versicherten gezahlt, ohne von der Krankengeldzahlung Kenntnis zu haben; obwohl die Berufsunfähigkeitsrente rückwirkend ab 5. Juni durch die Rentenumwandlung weggefallen und der Anspruch auf die volle Erwerbsunfähigkeitsrente auf die Klägerin übergegangen ist, muß sie sich die von der Beklagten gezahlten Beträge der Berufsunfähigkeitsrente nach § 407 BGB entgegenhalten lassen, so daß der Klägerin nur der Differenzbetrag zusteht.

Da die Beklagte verpflichtet ist, den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch zu erfüllen, und das LSG in diesem Sinne entschieden hat, war die Revision der Beklagten als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1653752

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