Entscheidungsstichwort (Thema)

Widerspruchsfrist. Unrichtigkeit. Wahlmöglichkeit. Jahresfrist

 

Leitsatz (amtlich)

Eine Rechtsmittel-/Rechtsbehelfsbelehrung ist auch dann insgesamt unrichtig iS von § 66 Abs. 2 SGG, wenn eine der wahlweise zur Verfügung stehenden Möglichkeiten (Widerspruch oder Klage) unzutreffend beschrieben wird.

 

Normenkette

SGG § 84 Abs. 1, § 66 Abs. 2, § 91 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 20.11.1992; Aktenzeichen L 9 J 1145/92)

SG Stuttgart (Urteil vom 23.04.1992; Aktenzeichen S 9 J 991/91)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers werden die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 20. November 1992 und des Sozialgerichts Stuttgart vom 23. April 1992 aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht Stuttgart zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Der Kläger begehrt Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) oder Berufsunfähigkeit (BU). Umstritten ist, ob er die Klagefrist versäumt hat und ob ihm bei einer etwaigen Versäumung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist.

Der Kläger ist griechischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz in A. Am 9. März 1989 beantragte er bei der griechischen Sozialversicherungsanstalt die Gewährung von Invalidenrente. Diesen Antrag lehnte die Beklagte ab. Der ablehnende Bescheid vom 20. November 1990 wurde dem Kläger ausweislich der Zustellungsurkunde am 7. Januar 1991 in A. übergeben. Er enthielt die „Rechtsbehelfsbelehrung”, gegen diesen Bescheid könne innerhalb von drei Monaten nach seiner Bekanntgabe Widerspruch oder Klage erhoben werden.

Der Kläger erhob hiergegen mit einem am 10. März 1991 unterschriebenen Schriftsatz Klage beim Sozialgericht Stuttgart (SG). Die Klageschrift ging dort ausweislich des Eingangsstempels am 16. April 1991 und damit nach Ablauf der dreimonatigen Klagefrist ein. Der Kläger rechtfertigte die Verspätung damit, er habe periodisch Anfälle und liege dann zusammengekrümmt im Bett. Damals habe er einen Rechtsanwalt beauftragt, einen Einspruch aufzusetzen. Die Nachlässigkeit des Betreffenden habe dazu geführt, daß der Einspruch nicht fristgerecht beim SG eingegangen sei. Das SG hat die Klage durch Prozeßurteil abgewiesen. Es hat die Fristversäumnis festgestellt und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 67 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫) versagt, da der Kläger für das Verschulden seines Prozeßbevollmächtigten eintreten müsse (Urteil vom 23. April 1992).

Die Berufung blieb ebenfalls ohne Erfolg (Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg ≪LSG≫ vom 20. November 1992). Das LSG hat die Auffassung des SG bestätigt. Außerdem hat es ausgeführt: Die Beklagte habe zwar in der Rechtsmittelbelehrung die Frist für die Einlegung des Widerspruchs fehlerhaft mit drei Monaten anstatt zutreffend mit einem Monat angegeben (§ 84 Abs. 1 SGG). Hierdurch werde dem Kläger aber nicht die Möglichkeit eröffnet, noch binnen Jahresfrist Klage zu erheben (§ 66 Abs. 2 SGG), denn er habe von der Möglichkeit, Widerspruch einzulegen, ersichtlich keinen Gebrauch gemacht. Seine Klageschrift sei direkt an das SG adressiert worden. Insoweit habe die Belehrung die richtige Frist enthalten.

Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision macht der Kläger geltend, daß es nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl BSG SozR 3-1500 § 66 Nr. 1) auf die Bedeutung eines Fehlers in der Rechtsmittel- oder Rechtsbehelfsbelehrung nicht ankomme. Jeder Fehler löse die Rechtsfolgen des § 66 Abs. 2 SGG aus. Es komme vor allem nicht darauf an, ob der Fehler das Verhalten des Berechtigten real beeinflußt habe.

Der Kläger beantragt dem Sinne nach,

die Urteile des LSG und SG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das SG Stuttgart zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie beruft sich lediglich auf das angefochtene Urteil.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 SGG) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Klägers ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der vorinstanzlichen Urteile und Zurückverweisung der Sache an das SG.

Die Vorinstanzen haben zu Unrecht die Klage als unzulässig angesehen, weil der Kläger die Klagefrist versäumt habe. Die Einlegung der Klage war nämlich wegen eines Fehlers der Rechtsbehelfsbelehrung noch innerhalb eines Jahres nach Bekanntgabe des angefochtenen Bescheides zulässig (§ 66 Abs. 2 SGG).

Der Fehler, der dem angefochtenen Bescheid beigefügten Belehrung, liegt darin, daß dort als Widerspruchsfrist eine Zeit von drei Monaten angegeben worden ist, obwohl die rechtlich zutreffende Frist lediglich einen Monat beträgt (§ 84 Abs. 1 SGG; dazu BSG SozR 3-1500 § 66 Nr. 1 mwN).

Dieser Fehler ist nicht deshalb unbeachtlich, weil die angegebene Frist länger war als die gesetzliche und der Kläger auch diese Frist versäumt hat. Dies hat der erkennende Senat bereits in dem soeben zitierten Urteil entschieden. Hierauf wird verwiesen.

Der Fehler wird aber auch nicht dadurch unbeachtlich, daß er das Widerspruchsverfahren betrifft, während der Kläger das alternativ mögliche Klageverfahren gewählt hat. Der Bescheid enthält nämlich nicht etwa zwei getrennte Belehrungen, eine für den Rechtsbehelf des Widerspruchs und eine für das Rechtsmittel der Klage, sondern eine einheitliche Belehrung über die vom Gesetz (vgl § 78 Abs. 2 SGG alter Fassung) eingeräumte Wahlmöglichkeit und die bei den einzelnen Alternativen zu beachtenden Vorschriften. Jeder Fehler, der eine dieser Alternativen betrifft, enthält nicht nur einen unrichtigen Hinweis auf das einzuhaltende Verfahren, sondern verfälscht zugleich die dem Betroffenen vom Gesetz eingeräumte Auswahl. Er wählt dann nicht mehr zwischen den beiden vom Gesetz beschriebenen Verfahrensgängen, sondern zwischen einem fehlerhaft beschriebenen und einem richtig beschriebenen Verfahrensgang.

Die Notwendigkeit einer solchen einheitlichen Betrachtung wird besonders dann deutlich, wenn man sich den Fall betrachtet, daß die Beklagte den durchaus nicht fernliegenden Fehler begangen hätte, ihrem Bescheid irrtümlicherweise die für Inlandszustellungen geltende Belehrung beizufügen. In ihr wäre dann dem Kläger eröffnet worden, daß er sowohl für die Klage als auch für den Widerspruch nur einen Monat Zeit habe (§§ 84 Abs. 1 und 87 Abs. 1 SGG). Unter dem Gesichtspunkt der Fristwahrung hätte es dem Kläger dann als unbedeutend erscheinen können, welchen Weg er wählt, obwohl dies uU für ihn entscheidend gewesen wäre. Er würde dann – sofern er die Fristversäumnis erkannt hätte – uU von einer Anfechtung abgesehen haben, obwohl er noch rechtzeitig hätte Klage erheben können. Hätte er nicht erkannt, daß die Monatsfrist abgelaufen war, würde er eine Entscheidung über die Wahl zwischen Widerspruch und Klage getroffen haben, bei der ihm die Unterschiede des Fristablaufs nicht bekannt gewesen wären; er hätte – legt man die Auffassung des LSG zugrunde – die Frist gewahrt, wenn er sich für die Klage entschieden hätte, dagegen nicht, wenn er Widerspruch eingelegt hätte.

Dieses Fallbeispiel verdeutlicht den engen Zusammenhang zwischen der Belehrung über den Widerspruch und der Belehrung über die Klage bei Bestehen einer Wahlmöglichkeit. Auf die angesprochenen Auswirkungen auf das Verhalten des Betroffenen kommt es jedoch letztlich nicht an. Der erkennende Senat hat allgemein und für alle Fälle entschieden, daß im Interesse einer Rechtsmittelklarheit und im Hinblick auf Ermittlungsschwierigkeiten nicht entscheidend ist, ob der Fehler Einfluß auf das Verhalten des Widerspruchsführers oder Klägers hatte (BSG a.a.O.).

Dementsprechend hat auch der im vorliegenden Fall in der Rechtsbehelfs-/Rechtsmittelbelehrung enthaltene Fehler bei der Angabe der Dauer der Widerspruchsfrist unabhängig von dem Einfluß dieses Fehlers auf das Verhalten des Klägers zur Folge, daß dieser nach § 66 Abs. 2 SGG noch innerhalb eines Jahres wirksam Klage erheben konnte. Diese Frist hat er eingehalten.

Bei dieser Sachlage war nicht näher darauf einzugehen, ob dem Kläger nicht auch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren gewesen wäre, weil er nicht über die Möglichkeit informiert worden ist, daß er Klage fristwahrend auch in seiner Heimatstadt A. beim griechischen Sozialversicherungsträger, dem für Sozialversicherung zuständigen Gericht oder der deutschen Konsularbehörde (Art. 86 EWG-Verordnung 1408/71; § 91 SGG) einlegen konnte (s dazu BSG SozR 1300 § 66 Nr. 2).

Da die Klagefrist somit gewahrt ist, war in der Sache über das Begehren des Klägers auf Aufhebung des angefochtenen Bescheides und Gewährung von BU- oder EU-Rente zu entscheiden. Hierfür fehlt es jedoch an den erforderlichen Tatsachenfeststellungen, die das BSG nicht selbst nachholen kann (§ 163 SGG). Da dem Kläger für die Durchsetzung seines Anspruchs die gesetzlich vorgesehenen zwei Tatsacheninstanzen zur Verfügung stehen sollten, war die Sache an das SG zurückzuverweisen (vgl dazu Meyer-Ladewig, SGG-Komm, 5. Aufl 1993, § 170 RdNr. 8 mwN).

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1049495

Breith. 1996, 444

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