Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Beschluss vom 20.03.1995; Aktenzeichen L 3 Ar 1223/94)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird der Beschluß des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 20. März 1995 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Der Kläger begehrt Arbeitslosenhilfe (Alhi) für die Zeit vom 23. Oktober bis 7. Dezember 1992, für die die Beklagte den Eintritt einer zwölfwöchigen Sperrzeit festgestellt hat. Seine hiergegen gerichtete Klage wurde vom Sozialgericht (SG) abgewiesen (Urteil vom 27. Januar 1994).

Am 15. Juni 1994 ging beim Landessozialgericht (LSG) ein vom Prozeßbevollmächtigten des Klägers gestellter, am 10. Juni 1994 zur Post gegebener Antrag auf Gewährung von Prozeßkostenhilfe (PKH) ein. Das LSG wies den Prozeßbevollmächtigten des Klägers am selben Tag darauf hin, daß der PKH-Antrag möglicherweise nach Ablauf der Berufungsfrist eingetroffen und deshalb PKH uU abzulehnen sei. Auf Anraten des LSG legte der Prozeßbevollmächtigte des Klägers daraufhin am 16. Juni 1994 Berufung ein und beantragte am 22. Juni 1994 die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumens der Berufungsfrist. Das LSG hat die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ebenso abgelehnt wie eine PKH-Bewilligung (Beschlüsse vom 29. September 1994); die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG hat es unter Hinweis darauf als unzulässig verworfen, daß bereits die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumens der Berufungsfrist abgelehnt worden sei und keine Veranlassung zur Änderung des Rechtsstandpunktes bestehe (Beschluß vom 20. März 1995). Zur Begründung der Entscheidung hat das LSG näher ausgeführt, daß die Berufungsfrist gemäß § 63 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) iVm § 4 Abs 1 Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG) am 14. Juni 1994 abgelaufen sei, ohne daß bis zu diesem Zeitpunkt Berufung eingelegt worden sei. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumens der Berufungsfrist könne auch nicht mit Rücksicht auf den am 10. Juni 1994 abgesandten PKH-Antrag gewährt werden. Eine beantragte und noch ausstehende Entscheidung über einen PKH-Antrag stelle dann jedenfalls kein unverschuldetes Hindernis für die Nichteinlegung eines Rechtsbehelfs dar, wenn ein Anwaltszwang nicht bestehe. Berufung hätte der Kläger auch selbst einlegen können; hierauf hätte ihn sein Prozeßbevollmächtigter bei der Vorsprache am 10. Juni 1994 hinweisen müssen. Da dieser Hinweis schuldhaft unterblieben sei und der Kläger sich das Fehlverhalten seines Prozeßbevollmächtigten zurechnen lassen müsse, sei die verspätet eingelegte Berufung (§ 151 SGG) als unzulässig zu verwerfen (§ 158 SGG).

Mit der Revision rügt der Kläger einen Verstoß gegen § 119 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) und gegen §§ 67, 73, 73a, 151 SGG sowie gegen Art 3 Abs 1, 20 Abs 1 und 103 Abs 1 Grundgesetz (GG). Er beruft sich ua auf die Rechtsprechung aller obersten Gerichtshöfe des Bundes. Danach müsse einem Rechtsmittelführer, der innerhalb der Rechtsmittelfrist die Bewilligung von PKH formgerecht beantragt habe oder ohne Verschulden hieran gehindert gewesen sei, nach der Entscheidung über die PKH Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden, wenn er nach den gegebenen Umständen vernünftigerweise nicht mit der Ablehnung seines Antrags wegen fehlender Bedürftigkeit hatte rechnen müssen. Das LSG hätte deshalb Wiedereinsetzung gewähren und in der Sache entscheiden müssen. Daß die Wiedereinsetzung bereits vor der Verwerfung der Berufung abgelehnt worden sei, hindere das Revisionsgericht nicht an einer anderweitigen Entscheidung.

Der Kläger beantragt,

den Beschluß des LSG, das Urteil des SG und den Sperrzeitbescheid der Beklagten aufzuheben sowie die Beklagte zu verurteilen, ihm Alhi für die Zeit vom 23. Oktober bis 7. Dezember 1992 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie ist der Ansicht, es müsse für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumens der Berufungsfrist zunächst abgeklärt werden, ob den Kläger am verspäteten Zugang des PKH-Antrags am 15. Juni 1994 ein Verschulden treffe. Selbst wenn jedoch die Wiedereinsetzung zu Unrecht abgelehnt worden sei und eine solche nunmehr durch das Bundessozialgericht (BSG) erfolge, sei die Klage unbegründet.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Klägers ist iS der Aufhebung des Beschlusses vom 20. März 1995 und der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Der Beschluß des LSG kann keinen Bestand haben; er beruht auf einer unzutreffenden Auslegung und Anwendung des § 67 SGG. Eine abschließende Entscheidung durch den Senat über die Voraussetzungen dieser Vorschrift und damit die Zulässigkeit der Berufung ist jedoch untunlich, bevor das LSG weitere Tatsachenfeststellungen getroffen hat. Entgegen der Auffassung des LSG kann die Berufung des Klägers jedenfalls zulässig sein, obwohl die Berufungsfrist (§ 151 SGG) versäumt ist.

Der Kläger hat die Berufung nicht innerhalb eines Monats nach Zustellung des SG-Urteils, also bis 14. Juni 1994 (§ 64 Abs 1 und 2 SGG iVm § 63 Abs 1 und 2 SGG sowie § 4 VwZG), eingelegt. Das erstinstanzliche Urteil ist ihm nämlich durch am 11. Mai 1994 zur Post gegebenes Einschreiben übermittelt worden und galt somit am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post, dem 14. Mai 1994, als zugestellt; hieran ändert sich nichts dadurch, daß das Einschreiben bereits am 13. Mai 1994 ausgehändigt worden ist. Auch ist den Anforderungen des § 4 Abs 2 VwZG genügt, wenn – wie hier – der Einlieferungsschein der Rückseite der in der Akte befindlichen Urschrift angeheftet ist (vgl Engelhardt/App, VwVG-VwZG, 4. Aufl 1996, Anm 8 zu § 4 VwZG mwN). Auf die Auswirkungen eines Verstoßes gegen § 4 Abs 2 VwZG (vgl Sadler, VwZG, 1993, RdNr 36 zu § 4) kommt es damit nicht an.

Obwohl mithin am 16. Juni 1994, dem Zeitpunkt der Berufungseinlegung, die Berufungsfrist bereits verstrichen war, könnte dem Kläger Wiedereinsetzung mit der Folge zu gewähren sein, daß das LSG dann bei ansonsten zulässiger und bei einem wöchentlichen Leistungssatz von 295,80 DM mit Rücksicht auf den Wert des Beschwerdegegenstandes (§§ 143, 144 SGG) statthafter Berufung in der Sache hätte entscheiden müssen. Der Kläger könnte nämlich ohne Verschulden gehindert gewesen sein (§ 67 Abs 1 SGG), das Rechtsmittel der Berufung vor dem 16. Juni 1994 einzulegen.

Nach § 67 Abs 1 SGG, der auch für das Berufungsverfahren entsprechend gilt (§ 153 Abs 1 SGG), ist demjenigen auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, der ohne Verschulden gehindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten. Der Antrag ist binnen eines Monats nach Wegfall des Hindernisses zu stellen (§ 67 Abs 2 Satz 1 SGG). Innerhalb der Antragsfrist ist die versäumte Rechtshandlung nachzuholen (§ 67 Abs 2 Satz 3 SGG). Ist dies geschehen, so kann die Wiedereinsetzung auch ohne Antrag gewährt werden (§ 67 Abs 2 Satz 4 SGG).

Nach ständiger und gefestigter Rechtsprechung aller obersten Gerichtshöfe des Bundes (vgl nur BSG SozR 3-1500 § 67 Nr 5 mwN) ist ein Rechtsmittelführer, der innerhalb der Rechtsmittelfrist die Bewilligung von PKH formgerecht beantragt hat oder hieran ohne sein Verschulden gehindert war (BSG SozR 1750 § 117 Nr 1 und Nr 3 mwN), bis zur Entscheidung über den Antrag so lange als ohne sein Verschulden an der Einlegung des Rechtsmittels verhindert anzusehen, als er nach den gegebenen Umständen vernünftigerweise nicht mit der Ablehnung seines Antrags aus dem Grunde der fehlenden Bedürftigkeit rechnen muß. Dies gilt unabhängig von der Frage, ob Gerichtskosten entstehen, das Rechtsmittel einem Anwaltszwang unterliegt oder der Amtsermittlungsgrundsatz gilt (BSG SozR 3-1500 § 67 Nr 5 mwN). Entgegen der Ansicht des LSG fehlt es mithin an den Voraussetzungen des § 67 SGG nicht schon deshalb, weil der Kläger auch ohne seinen Anwalt hätte Berufung einlegen können und sich evtl einen fehlenden Hinweis seines Anwalts auf diese Möglichkeit zurechnen lassen müßte. Der Kläger war nicht gehalten, vorsorglich selbst Berufung einzulegen, weil hierdurch die Vorschriften über die PKH ausgehöhlt würden (BSG aaO).

Ihm kann auch nicht vorgehalten werden, er sei nicht wegen Bedürftigkeit an der Einlegung der Berufung gehindert gewesen, weil er ohnedies bereits einen Prozeßbevollmächtigten zur Stellung eines PKH-Antrags eingeschaltet habe, der dann auch Berufung hätte einlegen können. Im PKH-Antrag ist jedenfalls deutlich zum Ausdruck gebracht worden, daß sich die Vertretung des Klägers zunächst auf das PKH-Verfahren beschränkt hat (vgl zu dieser Voraussetzung in anderem Zusammenhang: BSGE40, 111 ff =SozR 1500 § 160a Nr 8); diese Beschränkung ist auch wirtschaftlich nachvollziehbar. Durch die Beantragung von PKH mag zwar ein Gebührenanspruch des Prozeßbevollmächtigten gemäß § 116 Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte (BRAGebO) bereits entstanden sein; dieser ist jedoch mit Rücksicht auf den in § 51 BRAGebO zum Ausdruck kommenden Rechtsgedanken erheblich unter dem Gebührenrahmen für die Einlegung der Berufung selbst anzusetzen. Dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers war deshalb nicht zuzumuten, bereits vor der Entscheidung über den PKH-Antrag Berufung einzulegen. Es war auch nicht mit der Ablehnung des PKH-Antrags wegen fehlender Bedürftigkeit zu rechnen. Bei einem Einkommen von bis zu 1.300,-- DM (Alhi in Höhe von 285,-- DM wöchentlich = 1.235,-- DM monatlich) wäre PKH unter Festsetzung von Raten in Höhe von 150,-- DM zu gewähren gewesen (§ 115 Zivilprozeßordnung ≪ZPO≫ in der bis 31. Dezember 1994 geltenden Fassung); die Kosten der Prozeßführung hätten auch im Hinblick auf § 116 BRAGebO iVm § 134 BRAGebO in jedem Fall (in der bis 30. Juni 1994 und in der ab 1. Juli 1994 geltenden Fassung) vier Monatsraten überstiegen (§ 115 Abs 3 ZPO).

Für die Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag des Klägers wegen Versäumens der Berufungsfrist kommt es deshalb entgegen der Ansicht des LSG darauf an, ob der formgerecht eingereichte PKH-Antrag noch innerhalb der Berufungsfrist beim LSG eingereicht wurde oder ob der Kläger auch hieran ohne sein Verschulden gehindert war (BSG SozR 1750 § 117 Nrn 1 und 3).

Zwar ist der PKH-Antrag beim LSG erst einen Tag nach Ablauf der oben näher bezeichneten Berufungsfrist eingegangen; jedoch liegt es im Hinblick darauf, daß er bereits am 10. Juni 1994 zur Post gegeben worden ist, nahe, den verspäteten Zugang beim LSG nicht auf ein Verschulden des Klägers zurückzuführen. Maßgeblich ist insoweit, ob das Schriftstück den postalischen Bestimmungen entsprechend richtig frankiert und so rechtzeitig zur Post gegeben war, daß es nach den organisatorischen betrieblichen Vorkehrungen der Post bei regelmäßigem Betriebsablauf den Empfänger fristgemäß erreicht hätte (vgl nur Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl, § 67 RdNr 6 mwN). Dabei ist vorliegend zu beachten, daß nach Aktenlage uU Streikmaßnahmen die Beförderung der Post behindert haben. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) dürfen Verzögerungen der Briefbeförderung oder -zustellung durch die Deutsche Bundespost in diesem Fall bei der Entscheidung über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht als Verschulden des Bürgers gewertet werden (BAG EzA § 233 ZPO Nr 15; BAG AP Nr 31 zu § 233 ZPO 1977; BAG, Urteil vom 27. Januar 1993 – 5 AZR 397/92 –, unveröffentlicht; Urteil vom 8. Juni 1994 – 10 AZR 453/93 –, unveröffentlicht). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) und des Bundesfinanzhofs (BFH) kann demgegenüber das Vertrauen des Bürgers auf die Einhaltung der gewöhnlichen Postlaufzeit aufgrund besonderer Umstände, insbesondere durch Poststreik, erschüttert sein, so daß hieraus besondere Sorgfaltspflichten resultieren könnten bzw uU sicherere Übermittlungswege gewählt werden müßten (BGH NJW 1993, 1332 f und 1333 f; BFH, Urteil vom 14. Dezember 1994 – II R 35/92 –, NV 1995, 698 f; vgl auch BVerfG NJW 1995, 1210 f). Der Senat läßt offen, welcher Rechtsprechung er folgt, solange die genauen Umstände des vorliegenden Falles nicht geklärt sind. Eine Einschaltung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes nach dem Gesetz zur Wahrung der Einheit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes ist bei dem gegenwärtigen Sachstand nicht erforderlich.

Der erkennende Senat ist zwar revisionsrechtlich nicht gehindert, den zur Beurteilung der Wiedereinsetzung relevanten Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln; er hält es jedoch für tunlich, daß die noch fehlenden Ermittlungen von dem ortsnäheren LSG nachgeholt werden (so auch BSGE 72, 158, 163 = SozR 3-1500 § 67 Nr 7), zumal bei Zulässigkeit der Berufung ohnedies eine endgültige Entscheidung durch den Senat mangels tatsächlicher Feststellungen des LSG zum geltend gemachten Anspruch des Klägers nicht möglich ist.

Diesem Vorgehen steht auch nicht entgegen, daß das LSG bereits vor dem mit der Revision angefochtenen Beschluß vom 20. März 1995 mit gesondertem Beschluß vom 29. September 1994 eine Wiedereinsetzung abgelehnt hat. Soweit eine Ablehnung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumens der Berufungsfrist durch das Berufungsgericht erfolgt ist, ist in der Rechtsprechung anerkannt, daß keine Unanfechtbarkeit dieser Entscheidung iS des § 202 SGG iVm § 548 ZPO anzunehmen ist (BSG SozR 3-1500 § 67 Nr 5 mwN). Vielmehr unterliegt der Beurteilung des Revisionsgerichts auch die Ablehnung der Wiedereinsetzung (BSG aaO). Dabei spielt es keine Rolle, ob die Ablehnung der Wiedereinsetzung in der mit der Revision angefochtenen Entscheidung selbst oder aber in einem dieser Entscheidung vorausgehenden Beschluß erfolgt ist (BVerwGE 13, 141, 144 f); das Revisionsgericht kann in beiden Fällen selbst Wiedereinsetzung gewähren. Zwangsläufig darf es dann aber auch die Entscheidung des Berufungsgerichts über die Unzulässigkeit der Berufung aufheben und die Sache zur Überprüfung einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand an das Berufungsgericht zurückverweisen. Mit der erfolgten Aufhebung der Berufungsentscheidung ist die dieser Entscheidung vorausgehende Zwischenentscheidung über die Ablehnung der Wiedereinsetzung ebenfalls aufgehoben. Das LSG wird nunmehr erneut über die Wiedereinsetzung und damit über die Zulässigkeit der Berufung und ggf deren Begründetheit sowie über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 782259

DÖV 1998, 42

SozSi 1997, 394

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