Entscheidungsstichwort (Thema)

Keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Posteinwurf während eines Poststreiks

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Kann bereits im Zeitpunkt des Einwurfs einer Sendung in den Briefkasten aufgrund besonderer Umstände (hier: Poststreik) nicht auf die Einhaltung der gewöhnlichen Postlaufzeiten vertraut werden und wird für die Beförderung eines fristgebundenen Schriftstücks gleichwohl der Postweg gewählt, so ist es von Verfassungs wegen jedenfalls dann, wenn sichere Übermittlungswege (Gerichtsbriefkasten, Telefax) vorhanden und zumutbar sind, nicht zu beanstanden, daß die Gerichte dieses Verhalten als ein die Wiedereinsetzung ausschließendes Verschulden werten.

2. Besteht Ungewißheit darüber, ob und für wie lange die Gefahr von Verzögerungen andauert, kann der Verfahrensbeteiligte die Sendung zunächst auf den Postweg geben, muß aber dann – und nur dann –, das im Zeitpunkt des Briefeinwurfs bekannte Risiko durch eine Nachfrage nach dem Eingang der Sendung bei Gericht auffangen.

 

Normenkette

GG Art. 20 Abs. 3, Art. 2 Abs. 1; ZPO §§ 233, 234 Abs. 1-2, § 85 Abs. 2

 

Verfahrensgang

BGH (Beschluss vom 09.12.1992; Aktenzeichen VIII ZB 30/92)

 

Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

 

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Auslegung und Anwendung prozessualer Vorschriften über die Gewährung einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (hier: Verzögerung der Briefbeförderung durch Poststreik).

I.

1. a) Die Beschwerdeführerin und Beklagte des Ausgangsverfahrens war vom Landgericht Berlin zur Zahlung von 55.680 DM nebst Zinsen verurteilt worden. Gegen das ihr am 30. März 1992 zugestellte Urteil hat sie mit einem vom 28. April 1992 datierenden Schriftsatz Berufung eingelegt, der am 4. Mai 1992, einem Montag, bei der Gemeinsamen Briefannahmestelle der Justizbehörden in Berlin-Charlottenburg und am 6. Mai 1992 beim Kammergericht eingegangen ist. Das Eingangsdatum wurde den Prozeßbevollmächtigten der Beschwerdeführerin mit einem am 15. Mai 1992 zugegangenen Schreiben mitgeteilt. Mit am 20. Mai 1992 beim Kammergericht eingegangenen Schriftsatz legte die Beschwerdeführerin erneut Berufung ein und beantragte zugleich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Berufungsfrist. Dazu hat sie glaubhaft gemacht: Die gefertigte und unterschriebene Berufungsschrift habe eine Angestellte ihrer Prozeßbevollmächtigten am 28. April 1992 vor der Mittagsleerung in den Briefkasten geworfen. Die Berufung hätte daher unter allen Umständen rechtzeitig bei dem Berufungsgericht eingehen müssen, weil die normale Postlaufzeit in Berlin 24 Stunden betrage. Der verspätete Eingang beruhe darauf, daß am 28. April 1992 in Berlin der Poststreik begonnen habe und die Berufungsschrift offensichtlich im Postamt oder bei der Verteilanlage steckengeblieben sei.

Das Kammergericht hat eine Auskunft der Oberpostdirektion Berlin eingeholt, nach der das Zentrale Briefverteilamt Berlin seit dem 28. April 1992 um 16.00 Uhr und in der folgenden Zeit auch verschiedene Postämter in Berlin bis zum Ende des Arbeitskampfes am 7./8. Mai 1992 bestreikt und die Kastenleerung sowie die Briefbeförderung und -zustellung während dieser Zeit erheblich beeinträchtigt worden seien.

b) Das Kammergericht hat sodann den Wiedereinsetzungsantrag der Beschwerdeführerin zurückgewiesen und ihre Berufung als unzulässig verworfen mit im wesentlichen folgender Begründung:

Das Wiedereinsetzungsgesuch sei nicht innerhalb der Zweiwochenfrist gestellt worden und damit unzulässig. Diese Frist habe am 5. Mai 1992 begonnen und sei am 19. Mai 1992 abgelaufen, so daß der erst am 20. Mai 1992 eingegangene Wiedereinsetzungsantrag verspätet sei. Dem Bevollmächtigten habe aufgrund der Meldungen in Presse, Rundfunk und Fernsehen bekannt sein müssen, daß jedenfalls ab den Nachmittagsstunden des 28. April 1992 ein störungsfreier Postverkehr nicht mehr gewährleistet gewesen sei. Dies hätte ihn, wenn er sich schon nicht zu einer erneuten Berufungseinlegung, gegebenenfalls durch Telefax, entschlossen habe, jedenfalls am 4. Mai 1992 veranlassen müssen, sich durch Rückfrage bei dem Berufungsgericht zu vergewissern, ob die Berufungsschrift tatsächlich noch innerhalb der Rechtsmittelfrist bei Gericht eingegangen sei. Dann hätte er am 5. Mai 1992 erfahren, daß die Berufungsfrist versäumt worden sei.

Der Wiedereinsetzungsantrag sei aber in jedem Falle auch unbegründet. Das Verschulden des Bevollmächtigten der Beschwerdeführerin an der Versäumung der Frist sei darin zu sehen, daß er die Berufung nur durch einfachen Brief eingelegt und sich nicht eines schnelleren Kommunikationsmittels – mittels Telefax oder durch unmittelbaren Einwurf der Berufungsschrift in den Gerichtsbriefkasten – bedient habe. Denn mit einem störungsfreien Postverkehr habe der Bevollmächtigte schon am Vormittag des 28. April 1992 nicht mehr rechnen können, weil bereits Tage zuvor in den Medien, so etwa in zwei Berliner Tageszeitungen vom 25. April 1992, über die bevorstehenden Arbeitskampfmaßnahmen berichtet worden sei.

c) Der Bundesgerichtshof hat mit dem angegriffenen Beschluß (NJW 1993, 1332) die sofortige Beschwerde gegen die Entscheidung des Kammergerichts zurückgewiesen und hierzu im wesentlichen ausgeführt:

Zu Recht habe das Berufungsgericht angenommen, daß die Wiedereinsetzung nicht innerhalb der zweiwöchigen Frist des § 234 Abs. 1 ZPO beantragt worden sei. Die Frist beginne gemäß § 234 Abs. 2 ZPO mit der Behebung des Hindernisses. Das Hindernis sei behoben, sobald das Fortbestehen der Verhinderung nicht mehr unverschuldet sei. Dies sei nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in dem Zeitpunkt der Fall, in dem der verantwortliche Anwalt bei Anwendung der von ihm zu erwartenden Sorgfalt die eingetretene Säumnis hätte erkennen können. Der danach maßgebliche Zeitpunkt sei spätestens der 5. Mai 1992. Aus der vom Berufungsgericht eingeholten Auskunft der Oberpostdirektion ergebe sich, daß am 28. April 1992 nachmittags noch nicht aus dem Briefkasten entleerte oder jedenfalls noch nicht verteilte Post von der um 16 Uhr beginnenden Bestreikung des Zentralen Briefverteilamtes habe betroffen sein können. Dem Berufungsgericht sei auch darin zuzustimmen, daß diese dem Bevollmächtigten bekannten Umstände ihn bei Aufbringung der zu erwartenden Sorgfalt zu einer Rückfrage bei dem Berufungsgericht hätten veranlassen müssen. Zwar werde eine Nachfragepflicht desjenigen Rechtsanwalts, der ein Schriftstück entsprechend den postalischen Bestimmungen und so rechtzeitig zur Post gegeben habe, daß es bei regelmäßiger Beförderungszeit – hier von einem Tag – den Empfänger fristgerecht erreicht hätte, grundsätzlich verneint. Etwas anderes müsse aber gelten, wenn bei dem Anwalt nach der Aufgabe des Schriftstücks zur Post Zweifel an dessen rechtzeitigem Eingang bei Gericht entstanden sein müßten. Denn eine Pflicht zur Nachfrage bestehe nur deshalb und dann nicht, weil und wenn der Rechtsanwalt bei rechtzeitiger Briefaufgabe von dem fristgerechten Eingang bei Gericht ausgehen dürfe. Das sei nicht mehr der Fall, wenn sich für den Rechtsanwalt nachträglich Zweifel an einer ordnungsgemäßen Postbeförderung ergeben hätten oder jedenfalls hätten ergeben müssen. Es liege hier nicht anders als bei der Frage einer schuldhaften Fristversäumung (§ 233 ZPO): Zwar dürfe dem Bürger oder seinem Bevollmächtigten eine Verzögerung bei der Post grundsätzlich nicht als Verschulden angerechnet werden, gleichviel, ob diese Verzögerung auf der Nachlässigkeit eines Bediensteten oder einer zeitweise besonders starken Beanspruchung der Leistungsfähigkeit der Post (z.B. vor Feiertagen) oder einer zeitweise verminderten Dienstleistung der Post (z.B. an Wochenenden) beruhe. Das schließe es aber auch nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nicht aus, ein Verschulden bei verspäteter Postzustellung deswegen anzunehmen, weil die Verzögerung voraussehbar gewesen sei. Ebenso verhalte es sich mit der Pflicht zur Nachfrage nach dem Eingang fristgebundener Schriftsätze bei Gericht: Bestehe sie grundsätzlich nicht, weil auf Einhaltung der regelmäßigen Beförderungszeiten vertraut werden dürfe, so liege es gerade anders, wenn ein solches Vertrauen nicht mehr gerechtfertigt sei.

Hätte der Bevollmächtigte am 4. Mai 1992 bei dem Berufungsgericht nachgefragt, so hätte er allerdings die Auskunft bekommen, daß die Berufung (noch) nicht eingegangen sei, aber selbst bei noch rechtzeitigem Eingang am 30. April 1992 bei der Gemeinsamen Briefannahmestelle nicht notwendigerweise schon zum Berufungsgericht hätte gelangt sein müssen. Das hätte den Bevollmächtigten indessen veranlassen müssen, bei der Geschäftsstelle des Berufungsgerichts um einen Rückruf am nächsten Tage zu bitten oder von sich aus am 5. Mai 1992 erneut beim Berufungsgericht nachzufragen. Am 5. Mai 1992 hätte sodann festgestanden, daß die Berufung nicht bis zum 30. April 1992 zur Gemeinsamen Briefannahmestelle habe gelangt sein können. Denn das Berufungsgericht gehe inzident davon aus, daß die Beförderung von der Gemeinsamen Briefannahmestelle bis zum Berufungsgericht nicht länger als zwei Tage dauere. Somit habe die Frist gemäß § 234 Abs. 2 ZPO am Tag nach dem 5. Mai 1992 (§ 222 Abs. 1 ZPO) in Verbindung mit § 187 Abs. 1 BGB) begonnen und sei am 19. Mai 1992 abgelaufen (§ 188 Abs. 2 BGB).

Unter diesen Umständen komme es nicht mehr darauf an, ob den Bevollmächtigten ein Verschulden an der Fristversäumung deshalb getroffen habe, weil er sich am 28. April 1992 eines schnelleren Kommunikationsmittels hätte bedienen oder die Berufung am 30. April 1992 erneut hätte einlegen müssen.

2. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG. Sie macht geltend: Das Bundesverfassungsgericht habe wiederholt entschieden, daß im Rahmen der verfahrensrechtlichen Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dem Bürger Verzögerungen der Briefbeförderung oder -zustellung durch die Deutsche Bundespost nicht als Verschulden angerechnet werden dürften. Diese Grundsätze würden im Beschluß des Bundesgerichtshofs nicht beachtet. Dieser lasse in seinem Beschluß keine Zweifel daran erkennen, daß die Postlaufzeit innerhalb von Berlin höchstens 24 Stunden betrage. Bei Berücksichtigung dieser üblichen Postlaufzeit wäre ein am Vormittag des 28. April 1992 eingeworfener Brief unter normalen Umständen am folgenden Tag, also am 29. April 1992, bei dem Berufungsgericht eingegangen. Auf die Einhaltung dieser üblichen Postlaufzeit habe sie, die Beschwerdeführerin, vertrauen können. Bis zum Nachmittag des 28. April 1992 sei nicht klar gewesen, ob überhaupt gestreikt werde, geschweige denn, an welchen Orten und in welchem Umfange. Auch in den folgenden Tagen sei nicht etwa das gesamte Postwesen in Berlin bestreikt worden. Vielmehr sei es lediglich zu punktuellen Streiks gekommen, so daß teilweise Sendungen zugestellt worden seien, teilweise nicht. Die vom Bundesgerichtshof angenommene Sorgfaltspflicht, beim Berufungsgericht Rückfrage zu nehmen, verstoße gegen die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das für einen Rechtsanwalt, der ein Schriftstück entsprechend den postalischen Bestimmungen und so rechtzeitig zur Post gegeben habe, daß es bei regelmäßiger Beförderungszeit den Empfänger fristgerecht erreicht hätte, eine Nachfragepflicht verneine.

3. Das Bundesverfassungsgericht hat der Klägerin und Beschwerdegegnerin des Ausgangsverfahrens sowie dem Bundesministerium der Justiz Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Ferner wurde von der Deutschen Bundespostdienst Direktion, Berlin, eine Auskunft eingeholt u.a. zu den Frage, auf welche Weise die Deutsche Bundespost 1992 in Berlin ihre Kunden über die im Normalfall geltenden Postlaufzeiten informiert hat, wie die Postlaufzeiten im April 1992 für die Beförderung eines einfachen Briefs innerhalb Berlins im Normalfall bemessen waren und in welcher Weise über die Auswirkungen des Poststreiks im Frühjahr 1992 die Öffentlichkeit unterrichtet wurde.

II.

Obwohl die Verfassungsbeschwerde bereits am 20. Januar 1993 erhoben worden ist, gelten für deren Annahme zur Entscheidung und für das weitere Verfahren nunmehr gemäß Art. 8 des Fünften Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht vom 2. August 1993 (BGBl. I S. 1442), die durch dieses Gesetz mit Wirkung vom 11. August 1993 (vgl. Art. 10 des genannten Gesetzes) neugefaßten Vorschriften der §§ 93a bis 93d BVerfGG.

Die gesetzlichen Voraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG für eine Annahme der Verfassungsbeschwerde liegen nicht vor. Zwar hat der Bundesgerichtshof in dem angegriffenen Beschluß den Vorschriften über die Gewährung einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, hier §§ 233, 234 Abs. 1 und 2 ZPO, eine Auslegung gegeben, die den verfassungsrechtlichen Anforderungen (dazu unten 1.) nicht genügt (dazu unten 2. a). Jedoch kommt der Verfassungsbeschwerde weder grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu, noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt. Der Beschwerdeführerin entsteht durch die Versagung der Entscheidung zur Sache kein besonders schwerer Nachteil, denn es ist deutlich abzusehen, daß sich die Ablehnung der Weidereinsetzung in den vorigen Stand im Ergebnis als tragfähig erweist (vgl. BVerfGE 90, 22 = NJW 1994, 993 und unten 2. b).

1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verbietet es Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip, aus dem für bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten die Gewährleistung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes abzuleiten ist (BVerfGE 54, 277 ≪291≫; 80, 103 ≪107≫; 85, 337 ≪345≫), bei der Anwendung der verfahrensrechtlichen Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand eine Verzögerung der Briefbeförderung durch die Deutsche Bundespost als Verschulden anzurechnen (BVerfGE 50, 1 ≪3≫; 51, 146 ≪149≫; 51, 352 ≪354≫; 53, 25 ≪28≫). Für die Beförderung von Briefen hat die Deutsche Bundespost das gesetzliche Monopol. Der Bürger kann darauf vertrauen, daß die nach ihren organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen für den Normalfall festgelegten Postlaufzeiten eingehalten werden. Versagen diese Vorkehrungen, so darf das dem Bürger, der darauf keinen Einfluß hat, im Rahmen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht als Verschulden zur Last gelegt werden (vgl. BVerfGE 40, 42 ≪45≫; 41, 23 ≪27≫; 53, 25 ≪29≫; 62, 334 ≪337≫; st. Rspr.). Differenzierungen danach, ob die Verzögerung auf einer zeitweise besonders starken Beanspruchung der Leistungsfähigkeit der Post, etwa vor Feiertagen, oder auf einer verminderten Dienstleistung, etwa an Wochenenden, oder auf der Nachlässigkeit eines Bediensteten beruht, sind daher unzulässig (BVerfGE 54, 80 ≪84≫; Beschluß der 1. Kammer des Ersten Senats vom 27. Februar 1992, NJW 1992, 1952).

a) Im Verantwortungsbereich des Absenders liegt es danach allein, das zu befördernde Schriftstück so rechtzeitig und ordnungsgemäß zur Post zu geben, daß es nach deren organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen bei normalem Verlauf der Dinge den Empfänger fristgerecht erreichen kann (vgl. BVerfGE 62, 334 ≪337≫).

Die Bundespost trifft regelmäßig Vorkehrungen dafür, daß sie ihren Kunden eine normale Beförderungsdauer für Briefsendungen in Aussicht stellen kann; Ausnahmen gab es allerdings in den neuen Bundesländern in der ersten Zeit nach der Wiedervereinigung (vgl. dazu Beschluß der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. November 1992 – 2 BvR 1198/92 –). Gibt die Post die normalen Postlaufzeiten öffentlich – etwa durch Aushang in den Postämtern – bekannt, so schafft sie hierdurch einen besonderen Vertrauenstatbestand. Auf die Einhaltung der so bekanntgegebenen Beförderungszeiten kann der Postkunde in der Regel solange vertrauen, bis die Post eine Gefahr möglicher Verzögerung in vergleichbarer Weise bekannt gibt, oder erhebliche Verzögerungen offenkundig sind.

Fehlt es an einer öffentlichen Bekanntmachung der für den Normalfall geltenden Postlaufzeiten, so erhält der Postkunde einen ähnlich zuverlässigen Vertrauenstatbestand, wenn er sich bei der Post aktuell nach der für seine Sendung geltenden Laufzeit erkundigt. Unterläßt ein Kunde dies und gründet er seine Berechnung des Zugangs der Sendung auf allgemeine Erfahrungen, so entschuldigt dies eine Fristversäumung regelmäßig, wenn er dabei von einer normalen Laufzeit ausgeht, die auch die Post auf Anfrage mitgeteilt hätte. Dieses auf allgemeine Erfahrungen gestützte Vertrauen in die Einhaltung regulärer Postlaufzeiten kann allerdings Einschränkungen erfahren (vgl. dazu BVerfGE 40, 42 ≪45≫; 50, 1 ≪4≫; 51, 146 ≪150≫; 51, 352 ≪355≫). Das ist der Fall, wenn der Kunde davon Kenntnis haben muß, daß außergewöhnliche Ereignisse die konkrete Gefahr von Verzögerungen bei der Briefzustellung begründen.

b) Durfte ein Postkunde im Zeitpunkt des Einwurfs seiner Sendung in den Briefkasten nach diesen Maßstäben auf die Einhaltung der normalen Postlaufzeit vertrauen, so kann von ihm nicht verlangt werden, daß er sich gleichwohl – etwa durch einen Anruf bei Gericht – Gewißheit über den Eingang des Schriftstücks verschafft, um gegebenenfalls auf andere Weise für einen rechtzeitigen Zugang sorgen zu können (vgl. BVerfGE 53, 25 ≪30≫; 62, 334 ≪337≫). Die Anforderungen, die von Verfassungs wegen an die Erlangung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt werden dürfen, sind daher im Regelfall überspannt, wenn das Unterlassen einer derartigen Nachfrage als Verschulden im Sinne des § 233 ZPO gewertet wird. Ebensowenig geht es an, hierin eine Sorgfaltspflichtverletzung des Absenders zu erblicken, die das “Hindernis” im Sinne von § 234 Abs. 2 ZPO “behebt” und damit die Zweiwochenfrist für die Stellung des Wiedereinsetzungsantrags in Lauf setzt (zum “Anlaß” für die Wahrnehmung eigener Interessen als Wegfall des Hindernisses für die Stellung eines Wiedereinsetzungsantrags, vgl. BVerfGE 42, 120 ≪127≫; 86, 280 ≪285≫).

c) Wählt ein Bürger in einer Situation, in der er nach den zu a) dargestellten Maßstäben ausnahmsweise nicht auf die Einhaltung normaler Postlaufzeiten vertrauen durfte, für die Beförderung eines fristgebundenen Schriftstücks gleichwohl den Postweg, obwohl sichere Übermittlungswege (Einwurf in den Gerichtsbriefkasten am Ort, Benutzung eines – auch in den Räumen der Post angebotenen – Telefaxgeräts) zumutbar sind, so ist es von Verfassungs wegen grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn die Gerichte dies als ein die Wiedereinsetzung ausschließendes Verschulden werten.

Ist allerdings in einer solchen Situation nicht von vornherein bekannt, ob und für wie lange sich die konkrete Gefahr von Verzögerungen verwirklichen wird, muß der Postkunde nicht immer einen anderen Übermittlungsweg einschlagen. Er kann die Sendung zunächst auf den Postweg geben. Er ist aber dann – und nur dann – regelmäßig gehalten, das ihm im Zeitpunkt des Briefeinwurfs bekannte Risiko durch eine Nachfrage nach dem Eingang der Sendung bei Gericht aufzufangen.

2. Danach ist die angegriffene Entscheidung jedenfalls im Ergebnis verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

a) Der Bundesgerichtshof geht davon aus, eine die Frist des § 234 Abs. 1 ZPO in Lauf setzende Nachlässigkeit des Prozeßbevollmächtigten sei auch dann zu bejahen, wenn dieser zwar im Zeitpunkt der Aufgabe eines fristgebundenen Schriftstücks zur Post keine Zweifel an dessen rechtzeitigem Eingang bei Gericht haben mußte, wenn aber nach diesem Zeitpunkt Umstände eingetreten sind, die bei ihm solche Zweifel hervorgerufen haben oder hätten hervorrufen müssen. Diese Auffassung steht mit den oben aufgezeigten verfassungsrechtlichen Maßstäben nicht in Einklang. Hätte im Zeitpunkt der Aufgabe der Berufungsschrift zur Post kein Anlaß bestanden, aufgrund eines außergewöhnlichen Ereignisses mit Verzögerungen bei der Briefbeförderung zu rechnen, so hätte der Prozeßbevollmächtigte der Beschwerdeführerin, indem er das Schriftstück zwei Tage vor Ablauf der Berufungsfrist zur Post gegeben hat, die normalen Postlaufzeiten beachtet und alles getan, um einen rechtzeitigen Eingang bei Gericht sicherzustellen. In einem solchen Fall wäre es von Verfassungswegen zu beanstanden, wenn ihm im Hinblick auf nachträglich eingetretene oder bekanntgewordene Ereignisse die Zweifel an eine rechtzeitigen Beförderung begründeten, im Rahmen des Wiedereinsetzungsverfahrens eine Pflicht zur Nachfrage bei Gericht auferlegt und ein Unterlassen dieser Nachfrage als Verschulden angerechnet würde.

b) Eine solche Situation war jedoch im vorliegenden Fall nicht gegeben.

Ein Fall, in dem das Vertrauen in die Einhaltung der regelmäßigen Laufzeiten nur durch eine öffentliche Bekanntmachung der Bundespost hätte erschüttert werden können, lag nicht vor. Die von der Kammer eingeholte Auskunft bei der Direktion Berlin der Deutschen Bundespost hat ergeben, daß die Bundespost ihre Kunden im Jahr 1992 über die regelmäßigen Postlaufzeiten nicht im Wege einer öffentlichen Bekanntmachung, sondern nur auf Anfrage informiert hat.

Der Prozeßbevollmächtigte der Beschwerdeführerin hatte schon, als er am 28. April 1992 die Berufungsschrift zur Post gab, Anlaß, mit Verzögerungen bei der Briefbeförderung infolge des Arbeitskampfes im Bereich des öffentlichen Dienstes zu rechnen. Bereits am 24. April war es am Nachmittag bei der Bundespost zu einzelnen Arbeitsniederlegungen gekommen. Am 27. April wurde der Streit auf 320 Postämter des Bundesgebietes ausgedehnt; seit dem 28. April befanden sich 8500 Postbedienstete im Ausstand. Jedenfalls seit dem 25. April 1992 waren der Streik und seine ständige Verschärfung sowie die einzelnen Arbeitskampfmaßnahmen – auch im Bereich der Postdienste – Gegenstand einer eingehenden Berichterstattung in Presse, Funk und Fernsehen.

Nach allem bestand hier schon im Zeitpunkt des Einwurfs der Berufungsschrift in den Briefkasten die konkrete Gefahr, daß der bereits ausgebrochene Streik im öffentlichen Dienst Verzögerungen bei der Zustellung der Sendung zur Folge haben konnte. Der Prozeßbevollmächtigte konnte daher in dieser Situation nicht mehr – unverschuldet – darauf hoffen, seine Sendung werde zugestellt werden können, bevor der Streik auch in Berlin noch weiter ausgedehnt werde. Vertraute er die Berufungsschrift in dieser Erwartung dennoch ohne weiteres dem Postweg an, so mußte er das dabei eingegangene Risiko durch eine Nachfrage bei Gericht auffangen. Hierzu erhielt er besonderen Anlaß, nachdem die Deutsche Bundespost einen Tag nach Einwurf seiner Sendung in den Briefasten in einer von den Medien publizierten Presseerklärung bekanntgegeben hatte, das für den Westteil Berlins zuständige zentrale Briefeingangs- und abgangsamt werde bestreit, es könnten derzeit 2,5 Millionen Briefsendungen vom Vortag nicht bearbeitet werden, und die Kunden würden gebeten, ihre Sendungen während des Streiks nur an den Schaltern abzugeben. Hätte er am 30. April 1992 als dem letzten Tag der Berufungsfrist eine solche Nachfrage angestellt, so hätte er erfahren, daß die Berfungsschrift noch nicht beim Kammergericht eingegangen war. Er hätte dann durch Benutzung des in seiner Kanzlei vorhandenen Telefaxgeräts oder durch Einwurf der Berufungsschrift in den Gerichtsbriefkasten die Berufungsfrist noch wahren können.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Unterschriften

Graßhof, Kirchhof, Sommer

 

Fundstellen

NJW 1995, 1210

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