Verfahrensgang

LSG Hamburg (Urteil vom 13.06.1990)

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 13. Juni 1990 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Wegen gegenseitiger Erstattungsansprüche ist unter den Beteiligten umstritten, ob der Unfall des H … G … (Verletzter) ein Arbeitsunfall gewesen ist.

Der Verletzte war wegen einer Beschäftigung als Zimmerer Mitglied der Klägerin. Im Juni 1986 half er während seiner Freizeit, das Haus des F … H … (Bauherr), dessen Ehefrau als Schwester seiner Ehefrau seine Schwägerin war (nicht eigene Schwester des Verletzten, wie sie das Landessozialgericht ≪LSG≫ irrtümlich bezeichnete, siehe die Zeugenaussage des Bauherrn vom 2. März 1988 Bl 33 SGA), neu anzustreichen. Am 25. Juni 1986 verfehlte er bei dem Versuch, von der zweiten Lage des Baugerüsts auf die erste zu springen, diese Lage und mußte auf den Boden aufspringen. Dabei zog er sich einen Unterschenkeltrümmerbruch links zu, der eine stationäre Behandlung bis zum 1. Oktober 1986 erfoderlich machte.

Die Klägerin erstattete dem Beklagten im August 1986 eine Unfallanzeige nach § 1503 Reichsversicherungsordnung (RVO). Nachdem der Beklagte daraufhin zunächst ein berufsgenossenschaftliches Heilverfahren eingeleitet hatte, erteilte er dem Verletzten später den Ablehnungsbescheid vom 25. November 1986. Er führte aus, dieser habe keinen Arbeitsunfall erlitten, weil seine unfallbringende Handlung nicht versichert gewesen sei. Es habe sich dabei um eine verwandtschaftliche Gefälligkeit gehandelt, die die Voraussetzungen des § 539 Abs 2 iVm § 1 Nr 1 RVO nicht erfülle. Diesen Bescheid focht der Verletzte nicht an. Dem Begehren der Klägerin, ihr die Kosten für die Behandlung der Unfallfolgen nach § 1504 Abs 1 RVO aF zu erstatten, kam der Beklagte ebenfalls nicht nach.

Dagegen hat das Sozialgericht (SG) Hamburg den Beklagten verurteilt, der Klägerin gemäß § 1504 Abs 1 RVO aF die Aufwendungen zu erstatten, die ihr infolge des Arbeitsunfalls des Verletzten entstanden sind. Die Widerklage des Beklagten auf Verurteilung der Klägerin, ihm die Aufwendungen zu erstatten, die ihm infolge des Unfalls des Verletzten entstanden sind, hat es abgewiesen (Urteil vom 9. November 1988). Auch vor dem LSG Hamburg hat der Beklagte keinen Erfolg gehabt (Urteil vom 13. Juni 1990). Zur Begründung hat das LSG ua ausgeführt, die Voraussetzungen des § 539 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1 RVO und damit des hier noch anzuwendenden § 1504 Abs 1 RVO aF seien erfüllt. Die vom Verletzten verrichteten Arbeiten würden normalerweise in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis und nicht gefälligkeitshalber ausgeführt. Die Hilfeleistung des Verletzten sei auch nicht durch die besonderen Beziehungen geprägt gewesen, die den Verletzten mit dem Bauherrn im Hinblick auf die Schwägerschaft zu dessen Ehefrau verbänden. Sowohl die Gefährlichkeit der Arbeiten als auch die zeitliche Dauer von mehreren Tagen überstiegen Gefälligkeiten, wie sie selbst im Rahmen eines Verwandtschaftsverhältnisses üblich seien. Gemessen daran seien die Beziehungen zwischen dem Verletzten und dem Bauherrn nicht enger gewesen. Die familiären Beziehungen müßten als normal bezeichnet werden. Beide Familien hätten sich etwa einmal in der Woche gesehen und die Schwestern hätten darüber hinaus auch öfter miteinander telefoniert. Nicht wegen der Enge der Beziehungen, sondern wegen der fachlichen Eignung habe der Bauherr den Verletzten um Mithilfe gebeten.

Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt der Beklagte, das LSG sei von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) abgewichen, nach der in Fällen der vorliegenden Art Versicherungsschutz entfalle, weil die unfallbringende Handlung nicht wie in einem Beschäftigungsverhältnis, sondern wesentlich aufgrund familienhaft geprägter Beziehungen erbracht worden sei. Dafür sprächen eindeutig alle Umstände des Einzelfalls. Dabei habe das LSG noch nicht einmal alle entscheidenden Umstände geprüft. Es hätte sich gedrängt fühlen müssen, auch Feststellungen zu der Frage zu treffen, welche Tätigkeiten vom Bauherrn und vom Verletzten schon früher gemeinsam verrichtet worden seien.

Der Beklagte beantragt,

die angefochtenen Urteile aufzuheben, die Klage abzuweisen und die Klägerin zu verurteilen, ihm 1.512,47 DM zu erstatten.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil des LSG für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist unbegründet.

Der Klägerin steht der geltend gemachte Erstattungsanspruch gemäß § 1504 RVO aF zu. Der Verletzte hat einen Arbeitsunfall erlitten, wie SG und LSG zutreffend entschieden haben. Das schließt zugleich die Begründetheit der Widerklage aus.

Der dem Verletzten erteilte Ablehnungsbescheid vom 25. November 1986 steht dem Erstattungsanspruch der Klägerin gegen den Beklagten nicht entgegen, weil der Leistungsanspruch des Verletzten vom Erstattungsanspruch der Krankenkasse wesensverschieden ist, wie schon das LSG zutreffend erkannt und der Senat in seinem Urteil vom 30. April 1991 (2 RU 78/90) näher ausgeführt hat.

§ 1504 RVO in der vor dem 1. Januar 1989 gültig gewesenen Fassung (aF) findet Anwendung, obwohl diese Vorschrift durch Art 5 Nr 36 des Gesundheits-Reformgesetzes (GRG) vom 20. Dezember 1988 (BGBl I 2477) aufgehoben worden ist; denn die Klägerin hat die geltend gemachten Kosten vor dem 31. Dezember 1988 aufgewandt (s auch Art 63 Abs 1 GRG).

Zutreffend auch haben das SG und das LSG erkannt, daß die Voraussetzungen des § 1504 Abs 1 RVO aF für den Klageanspruch erfüllt sind, insbesondere, daß der Verletzte einen Arbeitsunfall iS des § 548 Abs 1 RVO erlitten hat, den der Beklagte nach § 657 Abs 1 Nr 7 RVO entschädigen muß. Der Unfall ereignete sich bei einer nach § 539 Abs 2 RVO versicherten Tätigkeit. Nach dieser Vorschrift sind gegen Unfall ferner Personen versichert, die wie ein nach Abs 1 Versicherter tätig werden.

Dazu hat das LSG in dem angefochtenen Urteil folgende tatsächlichen Feststellungen getroffen, an die das BSG gebunden ist, weil der Beklagte dagegen keine zulässigen und begründeten Revisionsrügen vorgebracht hat (§ 163 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫). Soweit der Beklagte rügt, das LSG habe es fehlerhaft unterlassen aufzuklären, bei welchen konkreten Arbeiten der Bauherr und der Verletzte sich früher schon ohne finanzielles Entgelt geholfen hatten, kommt es darauf im vorliegenden Fall zur Begründung des Erstattungsanspruchs nicht mehr an.

Nach den Feststellungen des LSG waren der Verletzte und der Bauherr familiär verbunden. Weil die Ehefrauen beider verschwistert waren, besuchten sich die Familien etwa einmal in der Woche und die Schwestern telefonierten darüber hinaus noch öfter miteinander. Nachdem die Männer sich früher schon mehrmals ohne finanzielles Entgelt bei nicht näher festgestellten Arbeiten gegenseitig geholfen hatten, plante der Bauherr den Neuanstrich seines Hauses mit Auf- und Abbau eines Schnellgerüsts sowie Verfugen und Anstrich der Außenwände. Dazu rechnete er, die Arbeiten mit einer Hilfskraft in drei Arbeitstagen zu erledigen; 30 Stunden wären tatsächlich erforderlich gewesen. Um die handwerklichen Fähigkeiten des Verletzten nutzen zu können, bat er diesen, ihm zu helfen. Der Verletzte war dazu ohne eine finanzielle Gegenleistung bereit. Material und Werkzeuge stellte der Bauherr zur Verfügung. Nachdem schon 22 Arbeitsstunden geleistet worden waren, verunglückte der Verletzte.

Danach sind alle Voraussetzungen des Versicherungsschutzes nach § 539 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1 RVO erfüllt. Aus den Tatsachen, daß der Bauherr alle Vorbereitungen traf, das Arbeitsmaterial bereitstellte und selbst mitarbeitete, hat das LSG zutreffend geschlossen, daß die Mithilfe des Verletzten nicht unternehmer-, sondern arbeitnehmerähnlich gestaltet war. Zu Recht haben die Vorinstanzen auch entschieden, daß die Mithilfe des Verletzten bei diesen Bauarbeiten iS des § 657 Abs 1 Nr 7 RVO, die die Zuständigkeit des Beklagten begründen, nicht wesentlich durch seine besonderen familiären Beziehungen zu der Ehefrau des Bauherrn und damit auch zu diesem selbst geprägt gewesen sind (s BSG SozR 2200 § 539 Nr 134). Sie sind nicht als die Erfüllung gesellschaftlicher nicht rechtlicher Verpflichtungen anzusehen, die bei besonders engen Beziehungen zwischen Verwandten, Verschwägerten, Freunden oder Nachbarn typisch und üblich sind und denen nachzukommen deshalb – nach Art und Umfang unterschiedlich – erwartet werden kann (s BSG SozR 3-2200 § 539 Nr 6 sowie das Urteil des Senats vom 30. April 1991 – 2 RU 78/90 –). Wenn das LSG hierzu festgestellt hat, daß die Familien des Bauherrn und des Verletzten sich einmal wöchentlich besuchten, dann hat es dies zutreffend als normalen Kontakt angesehen, wie er unter günstigen örtlichen Verhältnissen zwischen miteinander harmonierenden Familien zu bestehen pflegt, wenn die jeweiligen Ehefrauen miteinander verschwistert sind (die Ehemänner sind dann nach § 1590 Abs 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches nicht miteinander verschwägert). Derartige familiäre Beziehungen sind nicht besonders eng. Wenn dazu nicht noch zusätzlich besonders enge freundschaftliche Beziehungen hinzukommen, wofür das LSG aufgrund der Aussage des Zeugen H … im vorliegenden Fall keine Anhaltspunkte hat feststellen können, ist es weder üblich noch typisch oder zu erwarten, daß der Ehemann einer Familie von dem der anderen ohne Entgelt verlangen darf, bei solchen umfangreichen und gefährlichen Bauarbeiten der beschriebenen Art und Dauer mitzuhelfen.

Dabei kommt es nicht mehr darauf an, mit welchen Arbeiten sich die Männer schon früher gegenseitig ohne finanzielles Entgelt geholfen haben. Unter den hier festgestellten Umständen des Einzelfalls müßten gegenseitige Aushilfen jeder Art eher für ein arbeitnehmerähnliches Entgelt im Tauschverhältnis als für eine familienhafte Verpflichtung sprechen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173540

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