Leitsatz (amtlich)

Ausgleichsrente kann dem Schwerbeschädigten wegen seiner Teilnahme an einem von der Gewerkschaft organisierten Streik zur Verbesserung tariflicher Arbeitsbedingungen ("sozialadäquater" Streik) nicht versagt werden. Das gleiche gilt grundsätzlich auch, wenn der Streik wegen Verletzung der kollektiven Friedenspflicht illegitim ist.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Streikgelder sind bei der Berechnung der Ausgleichsrente ohne Freibeträge voll als sonstiges Einkommen in Anrechnung zu bringen, da es sich bei den Streikgeldern weder um Einkommen iS des EStG § 19 Abs 1 Nr 1 noch um eine laufende zusätzliche Versorgungsleistung iS des BVG § 33 Abs 2 S 2 handelt.

2. BVG § 32 gewährt der Verwaltung zwar Schutz gegen jede mißbräuchliche oder sachlich nicht mehr vertretbare Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen, gibt ihr aber nicht das Recht, in die grundsätzlich dem Schwerbeschädigten überlassene freie Gestaltung seiner Berufs- und Arbeitsverhältnisse einzugreifen und sie aus Gründen der Ersparnis von Versorgungsleistungen einzuengen.

Es läuft den Zielen des BVG § 32 zuwider, vom Schwerbeschädigten ohne Rücksicht auf seine Anlagen und Neigung eine bestimmte Erwerbstätigkeit allein deswegen zu verlangen, weil ihm diese im Vergleich zu anderen Tätigkeiten das höchste Einkommen bietet.

Hat der Schwerbeschädigte einen geeigneten Beruf oder Arbeitsplatz noch nicht gefunden oder stehen ihm vertretbare Gründe zur Seite, seinen Arbeitsplatz zu wechseln und ist er darum vorübergehend ohne Einkommen, dann kann ihm die Ausgleichsrente nicht schon deshalb versagt werden, weil er nicht bereit ist, auf die Dauer eine Tätigkeit auszuüben, die zwar seiner Leistungsfähigkeit entspricht, nicht aber seinen Neigungen und Berufsabsichten gerecht wird.

Läßt der Schwerbeschädigte sich in seinem Verhalten von einer steten Bereitschaft zur Arbeitsleistung und dem ernstlichen Bemühen leiten, einen ihm angemessenen Beruf zu finden und die ihm verbliebene Arbeitskraft nicht länger als nötig ungenützt und auf Kosten der Allgemeinheit brachliegen zu lassen, dann kann sein Verhalten regelmäßig nicht zur Verweigerung der Ausgleichsrente führen.

Der Schwerbeschädigte darf jedoch nicht auf Kosten der Allgemeinheit eigenwillig Berufswünsche durchsetzen wollen, die auch bei verständnisvoller Berücksichtigung seiner berechtigten Interessen objektiv nicht mehr vertretbar sind.

 

Normenkette

BVG § 33 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-07-01, § 32 Abs. 1 Fassung: 1957-07-01; EStG § 19 Abs. 1 Nr. 1

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 3. April 1959 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Dem Kläger war 1951 Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 vom Hundert (v. H.) gewährt worden. 1953 wurde die Zahlung der Ausgleichsrente eingestellt, weil er Arbeit bei den H.-werken gefunden hatte und sein Monatsverdienst die Einkommensgrenze überstieg. Der Kläger schloß sich, nach Beendigung seines Urlaubs am 5. November 1956, dem Ende Oktober 1956 ausgerufenen Metallarbeiterstreik an und bezog bis zur Beendigung des Streiks im Februar 1957 von seiner Gewerkschaft ein wöchentliches Streikgeld von 29,- DM. Der Beklagte lehnte den Antrag des Klägers, ihm für diese Zeit Ausgleichsrente zu zahlen, durch Bescheid vom 26. Februar 1957 ab, weil die Ausgleichsrente nicht zum Ersatz des durch den Streik entstandenen Verdienstausfalles bestimmt sei. Der Widerspruch wurde zurückgewiesen, weil der Kläger seinen Arbeitsplatz ohne triftigen Grund aufgegeben und die dadurch entstandene Einkommenseinbuße selbst zu vertreten habe. Das Sozialgericht (SG) hob durch Urteil vom 15. Januar 1958 die angefochtenen Bescheide auf, verurteilte den Beklagten, dem Kläger für die Zeit vom 1. November 1956 bis 28. Februar 1957 einen neuen Bescheid über die Ausgleichsrente unter Anrechnung der in dieser Zeit gezahlten Streikgelder als sonstiges Einkommen, nicht aber als Einkünfte aus nicht selbständiger Arbeit (§ 19 Abs. 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes) zu erteilen, wies im übrigen die Klage ab und ließ die Berufung zu. Das Landessozialgericht (LSG) wies mit Urteil vom 3. April 1959 die Berufung des Beklagten zurück und ließ die Revision zu. Der Kläger habe zwar den Grund seines Verdienstausfalls selbst zu vertreten, denn bei der Entscheidung, ob er sich dem Streik anschließen wolle, hindere der kollektive Charakter des Streiks die freie Willensbildung des einzelnen Arbeitnehmers nicht in einem Maße, daß hierdurch das Vertretenmüssen ausgeschlossen werde. Während des Streiks habe dem Kläger aber die Ausübung einer Erwerbstätigkeit bei den H.-werken nicht zugemutet werden können. Das Bundesversorgungsgesetz (BVG) wolle von der Ausgleichsrente nur denjenigen Schwerbeschädigten ausschließen, der seine Wiedereingliederung in den Wirtschaftsprozeß unter Berufung auf seine Beschädigung unterbinde, und verlange deshalb vom Schwerbeschädigten nur eine ihm "zumutbare" Erwerbstätigkeit. Dabei sei nicht nur an die körperliche Zumutbarkeit gedacht, die § 32 Abs. 1 BVG schon mit den Worten "... nicht oder nur in beschränktem Umfang oder nur mit überdurchschnittlichem Kräfteaufwand ausüben können" berücksichtige. Neben dem körperlichen Leistungsvermögen sei noch zu prüfen, ob dem Schwerbeschädigten die Tätigkeit etwa aus nach unserer Rechtsordnung beachtlichen sittlichen, wirtschaftlichen, beruflichen und gesellschaftlichen Gründen nicht zumutbar sei. Das treffe hier zu. Der Streik sei als legale Waffe der Arbeitnehmer in Lohnkämpfen anerkannt; die Beteiligung am Streik sei mithin grundsätzlich nicht rechtswidrig. Es könne einem Arbeitnehmer bei der anerkannten Stellung der Gewerkschaften nicht zugemutet werden, entgegen deren Streikaufforderung weiterzuarbeiten; ebensowenig sei aber auch die Teilnahme am Streik ohne weiteres zumutbar. Die Entscheidung liege beim Arbeitnehmer. Hier habe sich der Kläger dem Streik aus gewerkschaftlichem Solidaritätsgefühl, also aus Überzeugung angeschlossen. Hinzu komme, daß sich der Kläger, wenn er seine Arbeit trotz des Streiks fortgesetzt hätte, gewerkschaftlichen Maßregelungen, Unannehmlichkeiten von Seiten seiner streikenden Kollegen und ihrer Mißachtung als Streikbrecher ausgesetzt hätte. Die Fortsetzung seiner Arbeit sei ihm deshalb während des Streiks nicht zuzumuten gewesen. Dem stehe nicht entgegen, daß das Bundesarbeitsgericht diesen Streik nachträglich für rechtswidrig erklärt habe, denn für die Zumutbarkeit der Erwerbstätigkeit komme es auf subjektive Elemente an; der Kläger sei während des Streiks in gutem Glauben an dessen Rechtmäßigkeit gewesen.

Mit der Revision rügt der Beklagte Verletzung des § 32 Abs. 1 BVG. Das LSG habe den Begriff der zumutbaren Erwerbstätigkeit nicht richtig ausgelegt. Wenn es zunächst die Auffassung des Beklagten bestätige, der Kläger habe den Grund für die Einstellung seiner Tätigkeit in der Zeit des Streiks selbst zu vertreten, dann stehe damit die weitere Feststellung des Urteils in Widerspruch, die Teilnahme am Streik sei ebensowenig zumutbar wie das Fernbleiben vom Streik. Das "Vertretenmüssen" und die "Zumutbarkeit" könnten nicht, wie das LSG meine, getrennt voneinander beurteilt werden, denn die "Zumutbarkeit" könne nicht losgelöst vom Gesetz festgestellt werden. Es sei vielmehr vom Sinn und Inhalt des BVG auszugehen. Das Gesetz wolle den Beschädigten davor schützen, daß ihm die Verwaltung eine Erwerbstätigkeit abverlange, der er gesundheitlich, ausbildungs- und leistungsmäßig nicht gewachsen sei oder die ihm nach seiner sozialen Stellung nicht zukomme. Die "Zumutbarkeit" im Sinne des § 32 Abs. 1 BVG beziehe sich auf Tätigkeitsarten, nicht auf innerbetriebliche Verhältnisse; auf Einzelheiten und Eigenarten des Arbeitsverhältnisses komme es nicht an. Das Gesetz enthalte insoweit einen Ausschließungsgrund, als es bestimme, Schwerbeschädigten stehe die Ausgleichsrente nur zu, wenn sie infolge ihres Gesundheitszustandes oder hohen Alters oder aus einem von ihnen nicht zu vertretenden sonstigen Grunde eine ihnen zumutbare Erwerbstätigkeit nicht oder nur in beschränktem Umfang ausüben könnten. Deshalb sei dem Kläger für die Zeit seiner Teilnahme am Streik Ausgleichsrente zu Recht versagt worden. Der Beklagte beantragt, die Klage unter Aufhebung des angefochtenen Urteils abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision des Beklagten zurückzuweisen. Die Fortsetzung seiner Tätigkeit während des Streiks sei nicht zumutbar gewesen, er habe aber auch den Grund der zeitweisen Nichtausübung seiner Erwerbstätigkeit nicht zu vertreten. Mit den Begriffen der Unmöglichkeit und des Verschuldens könne im Streikrecht nicht operiert werden. Deshalb lasse sich auch nicht sagen, der einzelne Arbeitnehmer habe seine Teilnahme am Streik - gleichgültig, ob es sich um einen rechtmäßigen, rechtswidrigen oder wilden Streik handele - zu vertreten. Da somit alle Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVG vorlägen, sei die Revision unbegründet.

Die durch Zulassung (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG); sie ist daher zulässig. Sachlich ist sie nicht begründet.

Rechtsgrundlage des streitigen Anspruchs ist § 32 Abs. 1 BVG idF vom 6. Juni 1956 (BGBl I, 469). Hiernach erhalten Schwerbeschädigte eine Ausgleichsrente, wenn sie infolge ihres Gesundheitszustandes oder hohen Alters oder aus einem von ihnen nicht zu vertretenden sonstigen Grunde eine ihnen zumutbare Erwerbstätigkeit nicht oder nur in beschränktem Umfange ausüben können und ihr Lebensunterhalt nicht auf andere Weise sichergestellt ist. Die Anwendung, die diese Bestimmung in den Urteilen der Vorinstanzen gefunden hat, ist im Ergebnis nicht zu beanstanden.

Das LSG hat zwar angenommen, der Kläger habe den Grund, "weswegen er die Tätigkeit nicht ausgeübt hat", zu vertreten; es hat aber gleichwohl seinen Anspruch auf Ausgleichsrente bejaht, da eine Ausübung seines Berufs während des Streiks als eine ihm nicht zumutbare Erwerbstätigkeit anzusehen sei. Eine Tätigkeit, die der Schwerbeschädigte - wie hier - Jahre hindurch ausgeübt hat und die er auch weiterhin verrichten kann und will, verliert das Merkmal der Zumutbarkeit nicht dadurch, daß er sich zu ihrer vorübergehenden Einstellung aus Gründen entschließt, die außerhalb der Tätigkeit selbst liegen, nämlich auf dem Gebiet des Arbeitskampfes und der Solidarität der Arbeitnehmer. Die Begründung des LSG geht daher fehl und ist zudem widersprüchlich; denn übt der Schwerbeschädigte eine Tätigkeit, die ihm ihrer Art nach zumutbar ist, aus einem von ihm zu vertretenden Grund nicht aus, so verliert er den Anspruch auf die Ausgleichsrente. Ob die Tätigkeit ihm angesonnen werden kann, ist das Ergebnis eines Werturteils und richtet sich danach, ob der Schwerbeschädigte sie nach ihrer Art wegen seines Gesundheitszustandes, des Alters oder aus sonstigen Gründen nicht auszuüben braucht. Demgemäß versagt das Gesetz dem Schwerbeschädigten die Ausgleichsrente auch dann nicht, wenn er zwar die Eignung zu einer ihm zumutbaren Erwerbstätigkeit hat, sie aber dennoch "aus einem von ihm nicht zu vertretenden sonstigen Grunde" im Einzelfall nicht auszuüben braucht und darum nicht ausüben "kann". Die Erwerbstätigkeit ist also nicht nur zur körperlichen Leistungsfähigkeit, sondern zu den gesamten Umständen in Beziehung zu setzen, die den Schwerbeschädigten veranlassen können, von einer Erwerbstätigkeit überhaupt oder von einer bestimmten Erwerbstätigkeit Abstand zu nehmen. Hat er diese Gründe zu vertreten, hat er keinen Anspruch auf die Ausgleichsrente. Die weite Fassung des Gesetzes "oder aus einem von ihm nicht zu vertretenden sonstigen Grunde" eröffnet somit die Möglichkeit, allen Umständen Rechnung zu tragen, die der versorgungsrechtliche Schutz erfordert, und zwar auch dann, wenn diese Umstände die Eigenart der Tätigkeit selbst nicht betreffen. Das LSG hätte hiernach die Klage abweisen müssen, wenn es der Meinung war, der Kläger habe die Beteiligung am Streik und damit die zeitweise Nichtausübung seiner Erwerbstätigkeit zu vertreten.

Der Senat ist jedoch zu der Auffassung gelangt, daß die Teilnahme eines Schwerbeschädigten an einem gewerkschaftlich organisierten Streik um bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen von ihm nicht im Sinne des § 32 Abs. 1 BVG zu vertreten ist und daß daher die Nichtausübung der Erwerbstätigkeit während des Streiks den Anspruch auf Ausgleichsrente nicht ausschließt. Mit dem in dieser Vorschrift enthaltenen Erfordernis, der Schwerbeschädigte dürfe den besonderen Grund für die Nichtausübung der Erwerbstätigkeit nicht zu vertreten haben, hat das Gesetz einen allgemeinen Rechtsbegriff aufgestellt, der der Auslegung aus dem Zusammenhang der Rechtsordnung und den besonderen Zielsetzungen des Versorgungsrechts bedarf. Wer ein Handeln oder Unterlassen zu vertreten hat, muß für die Folgen seines Verhaltens einstehen. Für den Anspruch auf Ausgleichsrente bedeutet dies, daß der Schwerbeschädigte den Anspruch verliert, wenn er sich anders verhält, als es nach den Zielen und Wertvorstellungen, die der hier anwendbaren Norm zugrunde liegen, von ihm verlangt werden muß. Daraus ergibt sich die allgemeine Fragestellung, welche Rücksichten der Schwerbeschädigte aus seiner Stellung als Versorgungsberechtigter auf den Staat nehmen muß, wenn seine Entscheidungen im Berufsleben mit einer Minderung oder dem Verlust des Einkommens verbunden sind und sein Verhalten somit für den Anspruch auf Versorgung von Bedeutung wird. Die Antwort läßt sich nur aus den Grundsätzen ableiten, auf denen der versorgungsrechtliche Schutz des Schwerbeschädigten und besonders die Gewährung der Ausgleichsrente beruht. Die Ausgleichsrente ist dazu bestimmt, dem Schwerbeschädigten einen begrenzten Schadensausgleich zu bieten, wenn es ihm nicht gelingt, durch seine Erwerbstätigkeit oder in anderer Weise das im Gesetz bestimmte, nach der Minderung der Erwerbsfähigkeit gestaffelte Einkommen zu erzielen und dadurch seinen Lebensunterhalt zu sichern. Die Ausgleichsrente ist somit eine subsidiäre, dem Erwerbsvermögen des Schwerbeschädigten nachgeordnete Hilfe. Diese Regelung wurde nicht nur getroffen, weil es notwendig erschien, mit den begrenzten Mitteln zunächst den in ihrem Lebensunterhalt am meisten bedrohten Schwerbeschädigten zu helfen, sondern auch, um - mit behördlicher Unterstützung - die Schwerbeschädigten nachdrücklich zu eigenem Erwerbsstreben anzuhalten, damit es ihnen gelinge, sich möglichst vollständig in das Wirtschaftsleben einzugliedern und ihre Lebenshaltung durch eigene Arbeit zu sichern. Das Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter (SchwBG) vom 16. Juni 1953 (BGBl I, 389) gab ihnen den zu ihrer Existenzsicherung und Selbstbehauptung im Berufskampf erforderlichen Schutz (§§ 3, 9, 12, 14 SchwBG) und war geeignet, ihnen das Bewußtsein der Bestätigung ihrer persönlichen Würde und der ungeschmälerten Bedeutung ihrer Tätigkeit für Volkswirtschaft und Volksgesamtheit zu vermitteln. Der Schwerbeschädigte würde aber den versorgungsrechtlich erwünschten und erstrebten Anreiz zur Aufnahme und Aufrechterhaltung einer seinem Leistungsvermögen entsprechenden Erwerbstätigkeit verlieren, könnte er nicht, soweit die Berufswahl, ein notwendiger oder doch vertretbarer Berufswechsel und sein Bemühen um bessere Arbeitsbedingungen versorgungsrechtlich von Bedeutung sind, mit einer verständnisvollen Beachtung seiner Berufsabsichten und Berufswünsche rechnen, die nicht nur seiner besonderen Schutzbedürftigkeit, sondern auch der durch Art. 12 des Grundgesetzes (GG) geschützten freien Berufswahl und der freiheitlich gestalteten Ordnung unseres Arbeits- und Wirtschaftslebens (Art. 9 Abs. 3 GG) entspricht. Zwar kann das Recht auf die freie Wahl des Berufs- und des Arbeitsplatzes (vgl. Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG) durch die Ablehnung einer Ausgleichsrente nicht unmittelbar verletzt werden. Eine solche Maßnahme kann aber dem Zwang zu einem bestimmten Verhalten nahekommen. Soweit es daher für die Bewilligung einer Ausgleichsrente auf die Beurteilung der im Berufsleben getroffenen Entscheidungen des Schwerbeschädigten - zu denen auch die sich aus dem Koalitionsrecht ergebenden Maßnahmen gehören - ankommt, ist davon auszugehen, daß § 32 BVG der Verwaltung zwar Schutz gegen jede mißbräuchliche oder sachlich nicht mehr vertretbare Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen gewährt, ihr aber nicht das Recht gibt, in die grundsätzlich dem Schwerbeschädigten überlassene freie Gestaltung seiner Berufs- und Arbeitsverhältnisse einzugreifen und sie aus Gründen der Ersparnis von Versorgungsleistungen einzuengen. So würde es den Zielen des § 32 BVG zuwiderlaufen, vom Schwerbeschädigten ohne Rücksicht auf seine Anlagen und Neigungen eine bestimmte Erwerbstätigkeit allein deswegen zu verlangen, weil ihm diese im Vergleich zu anderen Tätigkeiten das höchste Einkommen bietet. Hat er einen geeigneten Beruf oder Arbeitsplatz noch nicht gefunden oder stehen ihm vertretbare Gründe zur Seite, seinen Arbeitsplatz zu wechseln und ist er darum vorübergehend ohne Einkommen, so kann ihm die Ausgleichsrente nicht schon deshalb versagt werden, weil er nicht bereit ist, auf die Dauer eine Tätigkeit auszuüben, die zwar seiner Leistungsfähigkeit entspricht, nicht aber seinen Neigungen und Berufsabsichten gerecht wird. Läßt er sich in seinem Verhalten von einer steten Bereitschaft zur Arbeitsleistung und dem ernstlichen Bemühen leiten, einen ihm angemessenen Beruf zu finden und die ihm verbliebene Arbeitskraft nicht länger als nötig ungenützt und auf Kosten der Allgemeinheit brachliegen zu lassen, so wird sein Verhalten regelmäßig nicht zur Verweigerung der Ausgleichsrente führen können. Vielfach wird allerdings die Ernsthaftigkeit seines Arbeitswillens gerade an seiner Bereitschaft gemessen werden können, vorübergehend auch eine seinen Wünschen nicht ganz entsprechende Tätigkeit zu übernehmen. Er wird sich seiner Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit bewußt bleiben und bedenken müssen, daß auch das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit durch das Gebot begrenzt ist, die Rechte anderer nicht zu verletzen (Art. 2 Abs. 1 GG). Er darf daher nicht auf Kosten der Allgemeinheit eigenwillig Berufswünsche durchsetzen wollen, die auch bei verständnisvoller Berücksichtigung seiner berechtigten Interessen objektiv nicht mehr vertretbar sind. Im Einzelfall mag die Abgrenzung schwierig sein, ob eine dem Schwerbeschädigten zumutbare Erwerbstätigkeit im Sinne des § 32 BVG verneint werden kann oder ob er sie nur deswegen ablehnen darf, weil er sie aus einem von ihm nicht zu vertretenden "sonstigen Grunde" nicht zu übernehmen braucht. Auch in diesem Falle "kann" er sie im Sinne des § 32 BVG nicht ausüben. Es kommt dann regelmäßig auf die ernste Arbeitsbereitschaft des Schwerbeschädigten an, die ein unumgängliches Erfordernis für den Anspruch auf Ausgleichsrente ist und der Forderung des Gesetzes auf Ausübung einer zumutbaren Erwerbstätigkeit zugrunde liegt.

Zu vertreten hat hiernach der Schwerbeschädigte die Handlungen, die sich nicht mehr in den Rahmen einer angemessen betätigten eigenverantwortlichen Gestaltung des Berufs- und Arbeitsverhältnisses einfügen lassen oder aus denen sich ergibt, daß ihm die ernstliche Arbeitsbereitschaft fehlt.

Die Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall ergibt, daß der Kläger bereits im Jahre 1953 seinen ernsten Arbeitswillen durch Aufnahme des Berufs als Feinblechner bei den H.-werken bewiesen und durch seine Tätigkeit in diesem Unternehmen bis zum Tage des Anschlusses an den Metallarbeiterstreik bekräftigt hat. Ebenso hat er nach Beendigung des Streiks seine Erwerbstätigkeit sogleich wiederaufgenommen. Auch für die Annahme, daß der schwerbeschädigte Kläger während des Streiks etwa aushilfsweise in einem anderen Betrieb eine geeignete Tätigkeit hätte ausüben können, die ihm trotz der unbestimmten Streikdauer auch zuzumuten war, ergibt sich kein Anhalt. Die Beteiligung an dem organisierten Metallarbeiterstreik fällt weder aus dem Rahmen der Handlungen, die ihm versorgungsrechtlich zu eigenverantwortlicher Entscheidung überlassen sind, noch kann sie als ein Ausdruck für die Aufgabe der in § 32 BVG vorausgesetzten Arbeitsbereitschaft gewertet werden. Der Streik ist die gemeinsam und planmäßig durchgeführte Arbeitseinstellung einer größeren Anzahl von Arbeitnehmern innerhalb eines Berufes oder Betriebes zu einem Kampfzweck mit dem Willen zur Fortsetzung der Arbeit nach Erreichung des Kampfziels oder Beendigung des Arbeitskampfes; der Streik bedeutet in der Regel nicht die Kündigung der Arbeitsverträge durch die Arbeitnehmer (BAG 1, 303 f = AP Nr. 1 zur Art. 9 GG "Arbeitskampf"; BSG 1, 120; BAG 6, 321, 358; Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, 6. Aufl., II. Bd. S. 610). Auch in seiner Durchführung durch die Arbeitnehmer ist er ein Kollektivakt, der in der gemeinschaftlichen Durchführung des Streikbeschlusses besteht (BAG 1, 304; Hueck/Nipperdey aaO S. 616). Im Spannungsfeld der durch die Tarifpartner vertretenen Interessengruppen ist die Drohung mit dem Streik und notfalls auch der Streik selbst eine kaum entbehrliche, jedenfalls in unserer freiheitlichen Arbeits- und Wirtschaftsordnung nicht verbotene Kampfmaßnahme zur Durchsetzung arbeitsrechtlicher Forderungen (vgl. Art. 9 Abs. 3 GG, § 49 Abs. 2 Satz 3 des Betriebsverfassungsgesetzes vom 11. Oktober 1952 - BGBl I 681 -). Der gewerkschaftliche, auf die Verbesserung tariflicher Arbeitsbedingungen gerichtete und somit "sozialadäquate" Streik ist daher legitim und begründet die Rechtmäßigkeit des Handelns auch der einzelnen Arbeitnehmer, die sich an dem Streik beteiligen (BAG 6, 323, 358). Der organisierte Arbeitnehmer ist schon durch seine Verbandszugehörigkeit gehalten, dem Streikaufruf Folge zu leisten. Das Kollektiv erwartet von ihm, daß er sich mit ihm solidarisch erklärt und damit Forderungen unterstützt, die nur im Wege des Kollektivhandelns durchgesetzt werden können, also ohne Rücksicht darauf, ob er sie persönlich billigt. Unerheblich ist somit, ob der gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer bei individueller Entscheidungsfreiheit an dem Streik nicht teilgenommen hätte. Der Streik bringt den Schwerbeschädigten in eine besonders schutzbedürftige Lage. Daher ordnet § 19 Abs. 5 SchwBG an, daß Schwerbeschädigte, denen lediglich aus Anlaß eines Streiks oder einer Aussperrung gekündigt worden ist, nach Beendigung des Streiks oder der Aussperrung wieder einzustellen sind. Diese Vorschrift ist zwar dazu bestimmt, von dem Schwerbeschädigten Nachteile nach dem Streik abzuwenden; sie will aber auch vermeiden, daß der Schwerbeschädigte durch die Furcht vor Gegenmaßnahmen in seiner Handlungsfreiheit behindert wird. Damit setzt sie die Streikfreiheit des Schwerbeschädigten voraus. Es kann nicht angenommen werden, daß das Versorgungsrecht von einer weniger einsichtsvollen Beurteilung der Lage des Schwerbeschädigten ausgeht und seiner Schutzbedürftigkeit und den anerkannten Tatsachen des Arbeitslebens weniger Rechnung tragen will als das Schwerbeschädigtengesetz. Die Beteiligung an dem organisierten sozialadäquaten Streik als einer legitimen Kampfmaßnahme ist daher der freien Entscheidung des Arbeitnehmers - ohne Beeinträchtigung seiner Rechtsstellung als Versorgungsempfänger - überlassen. Das muß um so mehr gelten, als er in aller Regel keinen Einfluß auf den Ausbruch und die Durchführung des Streiks hat und der Einkommensverlust ihn ohne Rücksicht darauf trifft, ob er mit dem Streik einverstanden ist oder nicht. Sein Verhalten ist weder rechtswidrig und schuldhaft, noch auch in der Regel ursächlich für den Einkommensausfall. Dieser beruht vielmehr auf der Wirkung einer Kollektivmaßnahme. Das Versorgungsrecht nimmt im übrigen bei der Neuberechnung der Rente die durch den Streik erzielten Einkommenserhöhungen nicht von der Anrechnung aus; wenn der Staat aus dem Streik, d. h. aus dem Mittel, das zu der Einkommenserhöhung geführt hat, Vorteile zieht, kann er die Nachteile, die dem Versorgungsberechtigten aus der Beteiligung am Streik entstehen, nicht diesem allein aufbürden wollen.

Aus dem Gesagten ergibt sich bereits, daß die Teilnahme an einem legitimen gewerkschaftlich organisierten Streik die ernstliche Arbeitsbereitschaft des Arbeitnehmers nicht beseitigt. Der Streik wird durchgeführt, um sobald als möglich die Arbeit zu günstigeren Bedingungen oder, wenn diese sich als nicht durchsetzbar erweisen, zu den früheren Bedingungen wiederaufzunehmen. Ähnlich der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses durch Kündigung zwecks Begründung eines neuen, in seinen Bedingungen günstigeren Arbeitsverhältnisses bleibt auch beim Streik - ohne Wechsel des Arbeitsplatzes und ohne Kündigung des Arbeitsvertrages - der versorgungsrechtlich relevante Wille des Arbeitnehmers auf Fortsetzung der Erwerbstätigkeit gerichtet. Abgesehen hiervon ist der Einzelwille beim Streik aber auch nicht in seiner Vereinzelung als Individualhandeln, sondern als Kollektivhandeln zu bewerten (Hueck/Nipperdey aaO S. 616). Darum kann es für den versorgungsrechtlichen Anspruch des Schwerbeschädigten nicht grundsätzlich darauf ankommen, ob der Arbeitskampf wegen Verletzung der Friedenspflicht illegitim ist, was das Bundesarbeitsgericht für den hier zu beurteilenden Streik angenommen hat (BAG 6, 321 ff). Der tarifwidrig, besonders unter Verletzung der Friedenspflicht ausgerufene Streik stellt zwar eine Verletzung des durch vertragliche Bindungen eingeschränkten Streikrechts dar und kann darum auch die Verpflichtung zum Schadensersatz begründen (BAG 6, 358 f). Insoweit kann jedoch zunächst nur von einem schuldhaft rechtswidrigen Handeln des Kollektivs, das durch die Tarifvertragspartei vertreten wird, die Rede sein, das darum auch für sein Verhalten einzustehen hat. Der einzelne Arbeitnehmer ist hingegen regelmäßig weder in der Lage, den kollektiven Willen maßgebend zu beeinflussen, noch zu erkennen, ob der Streikaufruf der Gewerkschaft gegen die übernommenen Bindungen verstößt. Deshalb kann auch beim illegitimen Streik versorgungsrechtlich nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, der einzelne Arbeitnehmer übe im Sinne von § 32 Abs. 1 BVG wegen seiner Beteiligung am Streik eine ihm zumutbare Erwerbstätigkeit aus einem von ihm zu vertretenden Grunde nicht aus (vgl. Groß ZfS 1953, 105 ff; Roeckner/Bluschke, Bundesversorgungsgesetz Bd. I § 32 Erl. 3 d; Wilke, Komm. z. BVG § 32 zu II; van Nuis-Vorberg, Das Recht der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen, 2. Aufl., Teil IV S. 50). Hier jedenfalls hat das LSG festgestellt, es könne kein Zweifel darüber bestehen, daß der Kläger wegen der Rechtmäßigkeit des Streiks in gutem Glauben war. An diese von der Revision nicht angegriffene Feststellung ist das BSG gebunden. Die Rechtswidrigkeit des Streiks ist daher von dem Kläger nicht zu vertreten.

Ob der wilde, d. h. der von einer tariffähigen Partei nicht gebilligte und darum nicht sozialadäquate Streik (vgl. Hueck/Nipperdey aaO S. 642 § 49 unter VII und S. 616 Note 41) eine grundsätzlich andere Beurteilung erfahren muß, weil er nicht von einem gesetzlich anerkannten Gesamtwillen getragen wird, und ob er als individuelle, dem Arbeitsvertrag zuwiderlaufende Arbeitsniederlegung mit meist geringer Aussicht auf Erfolg versorgungsrechtlich zu vertreten ist, war hier nicht zu entscheiden.

Der Rechtsauffassung des erkennenden Senats steht die Rechtsprechung des 7. Senats zur Auswirkung des Streiks auf Ansprüche aus der Arbeitslosenversicherung (vgl. BSG 1, 115; 2, 164; 11, 79, 86) nicht entgegen, denn die Entscheidungen des 7. Senats betreffen nur die hier unerhebliche Frage, ob das versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnis im Sinne des § 99 Abs. 1 Satz 3 AVAVG durch den Streik unterbrochen wird.

Hiernach hat das LSG mit Recht den Anspruch des Klägers auf die Ausgleichsrente bejaht. Es hat hierbei nicht mehr zu der auch von der Revision nicht erörterten Frage Stellung genommen, ob die Streikgelder bei der Berechnung der Ausgleichsrente ohne Freibeträge voll als sonstiges Einkommen in Anrechnung zu bringen sind, wie das SG entschieden hat. Diese Auffassung des SG ist nicht zu beanstanden, da es sich bei den Streikgeldern weder um Einkommen im Sinne des § 19 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 des Einkommensteuergesetzes noch um eine laufende zusätzliche Versorgungsleistung im Sinne des § 33 Abs. 2 Satz 2 BVG handelt.

Nach alledem erweist sich die Revision als unbegründet; sie muß nach § 170 Abs. 1 Satz 2 SGG zurückgewiesen werden, denn wenn auch der von der Revision beanstandete Widerspruch in den Gründen des angefochtenen Urteils eine Gesetzesverletzung darstellt, so hat das LSG doch im Ergebnis zutreffend den streitigen Anspruch des Klägers auf Ausgleichsrente bejaht.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 230

NJW 1963, 2189

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