Leitsatz (amtlich)

1. Betrifft die Entscheidung des Landessozialgerichts verschiedene prozessual selbständige Ansprüche und wird die Revision nur hinsichtlich der Entscheidung über einen der Ansprüche in der Form des SGG § 164 Abs 2 S 2 begründet, so wird dadurch die Revision gegen die Entscheidung über die anderen Ansprüche nicht zulässig.

2. Eine Revisionsbegründung entspricht nicht dem Formerfordernis des SGG § 164 Abs 2 S 2, wenn der zugelassene Prozeßbevollmächtigte nur auf im Revisionsverfahren vorgelegte Schriftsätze eines beim Bundessozialgericht nicht zugelassenen Bevollmächtigten Bezug nimmt.

3. Auch die verfahrensrechtlichen Vorschriften des Berliner Gesetzes über die sind nicht revisibles Recht im Sinne des SGG § 162 Abs 2 (Fortführung BSG 1955-12-08 8 RV 73/54 = BSGE 2, 106). Wird zur  Ausfüllung einer Lücke dieses Gesetzes außerhalb des Gebietes des LSG Berlin geltendes Recht herangezogen und damit das nicht revisible Landesrecht ergänzt, so ist auch dieses Recht nicht revisibel.

 

Normenkette

SGG § 164 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03; KOVG BE

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 14. Dezember 1954 wird insoweit als unzulässig verworfen, als das Landessozialgericht die Abweisung der Klage auf Feststellung der Nichtigkeit des Bescheids vom 18. April 1952 bestätigt hat. Im übrigen wird die Revision als unbegründet zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Ehemann der Klägerin bezog Rente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) wegen einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 50 v.H. für Folgen einer im ernten Weltkrieg erlittenen Verwundung des linken Beines.

Aus Anlass seines Todes am 21. Februar 1951 erhielt die Klägerin mit Bescheid vom 12. März 1951 ein Sterbegeld, das nach § 18 des Berliner Gesetzes über die Versorgung von Kriegs- und Militärdienstbeschädigten sowie ihren Hinterbliebenen (KVG) vom 24. Juli 1950 (VOBl. für Gross-Berlin S. 318) gewährt wurde. Für die Bewilligung des Sterbegeldes wurde ein Vordruck verwendet, der folgenden Satz enthielt:

"Die Voraussetzungen für die Bewilligung des Sterbegeldes sind im vorliegenden Fall gegeben, da

die Minderung der Erwerbsfähigkeit 50 v.H. betrug, der Tod als Folge der Beschädigung anerkannt worden ist."

Der zweite Halbsatz "der Tod als Folge der Beschädigung anerkannt worden ist" war in dem Bescheid nicht gestrichen. Er wurde erst auf Grund einer Berichtigungsverfügung des Versorgungsamts (VersorgA.) Berlin vom 17. März 1955 gestrichen.

Den Antrag der Klägerin auf Witwenrente lehnte das VersorgA. mit Bescheid vom 18. April 1952 ab, da der Tod ihres Ehemannes keine Schädigungsfolge im Sinne des BVG sei. Nach dem Beerdigungsschein des Standesamts seien Lungenentzündung, Herzmuskelschaden und Arteriosklerose die zum Tode führenden leiden gewesen.

In ihrem Einspruch gab die Klägerin an, ihr Ehemann habe infolge seiner Körperbehinderung beim Passieren der Rolltreppe auf dem Bahnhof Berlin-Friedrichsstrasse einen Passanten berührt und sei dadurch gestürzt. Der Sturz sei die Ursache seines Todes und damit der Tod die mittelbare Folge seiner Kriegsverletzung gewesen.

Das Landesversorgungsamt (LVersorgA.) wies mit Entscheidung vom 14. Februar 1953, zur Post gegeben am 17. Februar 1953, den Einspruch zurück.

Hiergegen hat die Klägerin mit Schreiben vom 2. März 1953, beim Versorgungsgericht (VersorgG.) Berlin eingegangen am 25. März 1953, von der Post abgestempelt am 24. März 1953, durch den Reichsbund der Kriegs- und Zivilbeschädigten, Sozialrentner und Hinterbliebenen Deutschlands Klage erhoben. Das VersorgG. hat mit Schreiben vom 26. März 1953 den Bevollmächtigten der Klägerin von dem Eingangstag der Klage verständigt. Mit Schreiben vom 10. Juni 1954 hat die Klägerin durch einen neuen Prozessbevollmächtigten vorsorglich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Klagefrist beantragt. Es treffe sie kein Verschulden, dass der von ihr zunächst bevollmächtigte Reichsbund die Klage zu spät eingereicht habe. Abgesehen davon sei die Klage nicht an eine Frist gebunden; denn es handle sich um die Feststellung der Nichtigkeit des Bescheides vom 18. April 1952, weil durch den Bescheid vom 12. März 1951 der Tod ihres Ehemannes bereits als Schädigungsfolge anerkannt worden sei.

Das Sozialgericht (SG.) Berlin hat mit Urteil vom 14. Juni 1954 die Klage abgewiesen. Der Bescheid vom 18. April 1952 sei nicht nichtig. Die Klage sei nicht fristgerecht erhoben worden. Nach § 4 des Verwaltungszustellungsgesetzes gelte die Entscheidung des LVersorgA. als am 3. Tag nach Aufgabe zur Post, somit als am 20. Februar 1953, zugestellt. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand könne nicht gewährt werden. Die Entscheidung über die Wiedereinsetzung sei nach dem Recht zu beurteilen, das zur Zeit der für die Klägerin laufenden Klagefrist gegolten habe. § 67 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) wirke nicht auf die Zeit vor Inkrafttreten des SGG zurück. Das Verschulden des Prozessbevollmächtigten gelte als Verschulden der Partei selbst.

Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Berufung beim Landessozialgericht (LSG.) Berlin eingelegt. Mit Urteil vom 14. Dezember 1954 hat das LSG. die Berufung zurückgewiesen. Es hat ausgeführt: Die Klage sei als Anfechtungs- und Leistungsklage erhoben worden. Die erstmals im Schreiben vom 10. Juni 1954 beantragte Feststellung der Nichtigkeit des Bescheids vom 18. April 1952 stelle eine nach § 99 Abs. 2 SGG zulässig gewordene Klageänderung dar. Mit Bescheid vom 12. März 1951 sei nur über die Bewilligung von Sterbegeld entschieden worden. Die Frage des ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Tod des Ehemannes der Klägerin und Schädigungsfolgen sei, wie sich aus den Akten ergebe, vor Erlass dieses Bescheids nicht geprüft worden. Die fehlerhafte Begründung der Bewilligung des Sterbegeldes sei nicht in Rechtskraft erwachsen und eine Bindung der Verwaltungsbehörde an diese Begründung nicht eingetreten. Außerdem bestehe kein Zweifel darüber, dass nur der erste Teil der Begründung, die MdE. habe 50 v.H. betragen, die für die Bewilligung des Sterbegelds in Frage kommende gesetzliche Voraussetzung angeben sollte. Es bestehe deshalb auch kein Widerspruch zwischen den Bescheiden vom 12. März 1951 und 18. April 1952.

Die Frage der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei nach dem bis zum 31. Dezember 1953 gültig gewesenen Verfahrensrecht (§§ 131 ff. Reichsversicherungsordnung (RVO) bzw. §§ 54, 55 des Gesetzes über das Verfahren in Versorgungssachen vom 10.1.1922) zu beurteilen. Die Frist für einen Antrag auf Wiedereinsetzung habe nach diesen Vorschriften einen Monat nach Wegfall des Hindernisses bzw. Kenntnis von der Fristversäumung betragen. Die Kenntnis von der Fristversäumung habe der Bevollmächtigte der Klägerin mit der Bestätigung des VersorgG. über den Eingang der Klage am 25. März 1953 erhalten. Der Antrag auf Wiedereinsetzung vom 10. Juni 1954 sei deshalb verspätet.

Die Klägerin müsse sich das Versäumnis ihres Bevollmächtigten anrechnen lassen. Revision wurde zugelassen.

Nach Bewilligung des Armenrechts hat die Klägerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen Versäumung der Revisionsfrist beantragt und Revision eingelegt. Sie beantragte Feststellung der Nichtigkeit des Bescheids des VersorgA. vom 18. April 1952 und Gewährung der Witwenrente ab 1. Juli 1951. Hilfsweise beantragte sie festzustellen, dass die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen Versäumung der Klagefrist nach § 67 SGG zu beurteilen und hiernach Wiedereinsetzung zu gewähren sei.

Die Revision rügt, dass das LSG. die Wiedereinsetzung nach den bis zum 31. Dezember 1953 gültig gewesenen Vorschriften statt nach dem SGG beurteilt habe. Im übrigen besieht sie sich auf Schriftsätze in den Vorinstanzen und auf die Ausführungen im Armenrechtsgesuch.

Der Beklagte beantragte Zurückweisung der Revision.

Die Revision ist infolge Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie ist form- und fristgerecht eingelegt worden (§ 164 Abs. 1, § 166 SGG). Die Revisionsfrist betrug ein Jahr seit Zustellung des angefochtenen Urteils, da die Rechtsmittelbelehrung des LSG. unvollständig und damit unrichtig ist (§ 66 SGG). Es fehlt der Hinweis, dass die Revision einen bestimmten Antrag enthalten muss (BSG. 1 S. 227). Da die Revision innerhalb der Jahresfrist eingelegt wurde, bedurfte es keiner Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Revisionsfrist.

Die Revision ist nur teilweise formgerecht gemäß § 164 Abs. 2 SGG begründet worden. Die Klägerin hat in den Vorinstanzen verschiedene Klagen erhoben: Mit der ersten Klage begehrte sie Aufhebung eines Verwaltungsaktes, nämlich des Bescheides vom 18. April 1952 (§ 54 Abs. 1, § 218 Abs. 5 SGG), im Laufe des Verfahrens vor dem SG. erhob sie außerdem Klage auf Feststellung der Nichtigkeit des gleichen Bescheids (§ 55 Abs. 1 Nr. 4 SGG). Gleichzeitig mit beiden Klagen hat die Klägerin als Leistung Hinterbliebenenrente verlangt (§ 54 Abs. 4 SGG). Eine solche Klagenhäufung, die hier als Klageänderung anzusehen ist, da sie nach Erhebung der Klage erfolgte, ist infolge Einwilligung des Beklagten zulässig, §§ 56, 99 SGG.

Aufhebungsklage und Klage auf Feststellung der Nichtigkeit sind gegen den gleichen Bescheid gerichtet. Sie sind ihrem rechtlichen Inhalt nach jedoch grundsätzlich verschiedene Klagen (vgl. BSG. 5 S. 121), die sich in ihrer Begründung sogar gegenseitig ausschließen. Nach den Anträgen in der mündlichen Verhandlung vor dem SG. und LSG. hat die Klägerin die Ansprüche im Verhältnis von Hauptantrag und Hilfsantrag geltend gemacht, indem sie im Hauptantrag die Feststellung der Nichtigkeit des Bescheids und hilfsweise Wiedereinsetzung in den vorigen Stand begehrte. Der Hilfsantrag ist dahin zu vorstehen, dass zunächst Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Klagefrist erbeten wurde, um die Zulässigkeit der Aufhebungsklage herbeizuführen. Dieses Verhältnis der beiden Klageansprüche hatte die Wirkung, dass zunächst über die Feststellungsklage zu entscheiden war. Nur, wenn diese unzulässig oder unbegründet war, brauchte noch eine Entscheidung über die Aufhebungsklage zu ergehen. Die Vorinstanzen haben die Nichtigkeit des Bescheides vom 18. April 1952 verneint. Sie mussten deshalb auch über den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und die Aufhebungsklage entscheiden. Sie haben Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen Versäumung der Klagefrist abgelehnt und damit die Aufhebungsklage als unzulässig angesehen. Entsprechend dieser Entscheidung der Vorinstanzen über zwei prozessual selbständige Ansprüche ergab sich für die Revision die Notwendigkeit, soweit sich ihre Rügen nicht gegen das Verfahren oder das Urteil als Ganzes richteten, die Angriffe gegen jeden Teil der Entscheidung gesondert in der Form des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG zu begründen. Sie musste eine Gesetzesverletzung sowohl bei der Abweisung der Feststellungsklage, als auch bei der Entscheidung über die Wiedereinsetzung und die Aufhebungsklage in der Form des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG rügen (vgl. Baumbach, ZPO, 25. Aufl., Anm. 2 zu § 554; Rosenberg, ZPO, 7. Aufl., § 93 IV 2 d und e, S. 443 f.).

Die Revision ist nur insoweit formgerecht begründet worden, als sie sich gegen die Ablehnung der Wiedereinsetzung und somit gegen die Abweisung der Aufhebungsklage richtet und Gesetzesverletzungen bei dieser Entscheidung behauptet. Dagegen fehlt die nach § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG zwingend vorgeschriebene Angabe der vorletzten Rechtsnorm, soweit die Revision sich gegen die Entscheidung über die Feststellungsklage wendet.

Die Bezugnahme auf das Armenrechtsgesuch des nicht nach § 166 Abs. 2 SGG vor dem BSG. zugelassenen Rechtsbeistandes der Klägerin, das Ausführungen zur Nichtigkeit des Bescheides vom 18. April 1952 enthält, entspricht nicht der Vorschrift des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG. Die Revisionsbegründung muss erkennen lassen, dass der zugelassene Prozessbevollmächtigte den Prozeßstoff geprüft hat, welche Teile des Urteils sie angreift und mit welchen Gründen. Durch bloße Bezugnahme auf das Armenrechtsgesuch eines nicht zugelassenen Vertreters und auf dessen Schriftsätze in den Vorinstanzen wird dem nicht genügt (BGHZ. 7 S. 170, Lindenmaier-Möhring, Nr. 21 zu § 519 ZPO, RGZ. 145 S. 266, JW. 34 S. 2975 Nr. 10, 35 S. 1246 Nr. 10, 36 S. 1292 Nr. 10, NJW. 51 S. 442 Nr. 9, vgl. auch BSG. vom 17.1.1958 - 11/8 RV 1126/55 -). Das Bundessozialgericht (BSG.) konnte daher das Urteil des LSG., soweit es die Abweisung der Klage auf Feststellung der Nichtigkeit des Bescheids bestätigt hat, nicht nachprüfen. Die Revision war insoweit wegen fehlender Begründung als unzulässig zu verwerfen (§ 169 Abs. 1 Satz 2 SGG).

Die Revision ist nicht begründet, soweit sie eine Verletzung des Gesetzes bei der Entscheidung über den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen Versäumung der Klagefrist rügt.

Das BSG. hat bereits entschieden (BSG. 1 S. 44), dass die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach den bis zum 31. Dezember 1953 gültig gewesenen Verfahrensvorschriften zu beurteilen ist, wenn die Fristversäumung und der Wegfall des Hindernisses vor dem Inkrafttreten des SGG liegen. Das LSG. hat festgestellt, dass nach Berliner Recht die Frist zur Erhebung der Klage einen Monat nach Zustellung der angegriffenen Entscheidung betrug, dass der Eingangstag der Klage beim VersorgG. und damit die Verspätung dem Bevollmächtigten der Klägerin mit Erhalt des Schreibens des SG. vom 26. März 1953 bekannt geworden, und dass Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erst am 10. Juni 1954 beantragt worden ist. Aus diesen nicht angegriffenen und deshalb für das Revisionsgericht nach § 163 SGG bindenden Feststellungen ergibt sich, dass sowohl die Fristversäumnis als auch der Fortfall des Hindernisses vor dem Inkrafttreten des SGG liegen. Als Hindernis war die Unkenntnis des Bevollmächtigten und der Klägerin von der Verspätung des Klageeingangs anzusehen. Mit der Kenntnis vom Eingangstag der Klage (27. oder 28. März 1953) war dieses Hindernis fortgefallen. Das SGG ist in Berlin am 1. Januar 1954 in Kraft getreten, Art. III des Gesetzes zur Übernahme des SGG vom 20. November 1953, GVBl. S. 1419. Somit war die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht nach § 67 SGG, sondern nach dem vor Inkrafttreten des SGG in Berlin geltenden Recht zu beurteilen. Das LSG. hat demnach zu Recht über den Wiedereinsetzungsantrag nicht nach § 67 SGG entschieden.

Das Verfahren vor den Berliner Versorgungsgerichten und dem Oberversorgungsgericht Berlin war vor Einführung der Sozialgerichtsbarkeit im Berliner KVG vom 24. Juli 1950 geregelt. § 50 Abs. 2 KVG hatte gleichseitig das Gesetz über das Verfahren in Versorgungssachen vom 10. Januar 1922 außer Kraft gesetzt. Nach § 49 KVG galten die Vorschriften der RVO über Fristen (§§ 124 bis 134) sinngemäß und damit auch § 131 RVO über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung von gesetzlichen Verfahrensvorschriften.

§ 49 KVG - und damit § 131 RVO - ist durch § 4 des Kriegsopferversorgungsgesetzes vom 12. April 1951 (GVBl. für Berlin S. 317) mit Wirkung vom 1. Oktober 1950 aufgehoben worden, ohne dass die hier in Frage kommende Vorschrift des § 131 RVO durch eine den gleichen Rechtsbehelf betreffende anderweitige Vorschrift ersetzt worden wäre. Erst mit der Einführung des SGG am 1. Januar 1954 ist § 67 SGG, der die gleiche Materie regelt, in Berlin in Kraft getreten.

In dem für die zeitliche Anwendung des Verfahrensrechts maßgeblichen Zeitpunkt (Wegfall des Hindernisses der Unkenntnis durch das Schreiben vom 26.3.1953, also 27. oder 28.3.1953) war somit in Berlin überhaupt keine Verfahrensvorschrift in Geltung, die eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Versäumung von Verfahrensfristen in Prozessen vor den Berliner Versorgungsgerichten betraf.

Das LSG. hat diese, offenbar durch ein Versehen des Gesetzgebers entstandene Lücke im Verfahrensrecht nicht dahin gedeutet, dass in Berlin bis zum Inkrafttreten des SGG eine Wiedereinsetzung überhaupt nicht möglich gewesen sei, sondern es hat in der Erwägung, dass in allen Gerichtsbarkeiten der Bundesrepublik aus rechtsstaatlichen Gründen dem Richter die verfahrensrechtliche Möglichkeit gegeben ist, die Folgen einer unverschuldeten Versäumung von Verfahrensfristen zu beheben, diese Gesetzeslücke durch analoge Anwendung anderer Vorschriften ausgefüllt. Es hat den Wiedereinsetzungsantrag nach § 131 RVO geprüft und auch auf die ähnliche Regelung im Gesetz über das Verfahren in Versorgungssachen von 1922 hingewiesen.

Der Senat hatte zu prüfen, ob diese Rechtsanwendung revisibles Recht im Sinne des § 162 Abs. 2 SGG betrifft. Er hat die Frage verneint.

Nach § 162 Abs. 2 SGG sind revisibel die Vorschriften des Bundesrechts und sonstige im Bezirk des Berufungsgerichts geltende Vorschriften, deren Geltungsbereich sich über den Bereich des Berufungsgerichts hinaus erstreckt. Eine Unterscheidung zwischen Revisibilität materiellen Rechts und der verfahrensrechtlichen Vorschriften, wie sie § 56 Abs. 1 Satz 1 und 2 des Gesetzes über das Bundesverwaltungsgericht trifft, kennt das SGG nicht.

Für die materiell-rechtlichen Vorschriften des Berliner KVG hat das BSG. bereits entschieden, dass sie nicht revisibles Recht im Sinne des § 162 Abs. 2 SGG sind (BSG. 2 S. 106). Gleiches muss nach der Auffassung des Senats auch für die verfahrensrechtlichen Vorschriften des KVG gelten.

Das KVG hatte das Verfahren vor den Berliner Versorgungsgerichten nicht durch Übernahme von in anderen Bundesländern geltenden Vorschriften geregelt, sondern bewusst und gewollt ein in mehrfachen Vorschriften abweichendes eigenständiges Verfahrensrecht für Berlin geschaffen. Wesentliche Abweichungen dieser Art sind: Beschränkung der Vertretung vor den Versorgungsgerichten (§ 44 Abs. 3 KVG), Ausschluss von Personen, die nicht die Befähigung zum Richteramt oder zum höheren Verwaltungsdienst besitzen, vom Vorsitz bei den Versorgungsgerichten (§ 45 KVG), Besetzung des Oberversorgungsgerichts mit vier (statt zwei) ehrenamtlichen Beisitzern (§ 46 KVG), anderweitige Regelung der Berufungsausschlussgründe (§ 45 Abs. 2 KVG), Zulassungsberufung zum Oberversorgungsgericht bei grundsätzlicher Bedeutung (§ 45 Abs. 2 KVG). Soweit das KVG hinsichtlich einzelner Regelungen auf Vorschriften der RVO, also auf revisibles Recht nach Art. 125 GG, verwies, ist anzunehmen, dass es dieses Recht nur als Länderrecht übernehmen wollte (vgl. Baumbach, ZPO, 25. Aufl. Anm. 1 B und 3 C zu § 549; BGHZ. 10 S. 367 [371], BVerwG. 1 S. 76). Dieses Berliner Verfahrensrecht ist auch nicht Bundesrecht im Sinne des Art. 125 Nr. 2 GG geworden, weil das Berliner Gesetz nicht lediglich das frühere reichsgesetzliche Verfahrensgesetz (RVO und Gesetz über Verfahren in Versorgungssachen vom 10.1.1922) abgeändert, sondern neues Verfahrensrecht geschaffen hat, wenn auch unter Heranziehung einzelner Gedanken des früheren Reichsrechts. Die Verfahrensvorschriften des Berliner KVG sind daher nicht revisibles Recht.

Sind aber schon die Verfahrensbestimmungen des Berliner KVG, deren unmittelbare Anwendung, insbesondere die des § 131 RVO, sich durch die Aufhebung des § 49 KVG im vorliegenden Falle verbietet, nicht revisibles Recht, so kann auch eine nur zur Ausfüllung einer Gesetzeslücke im KVG herangezogene Vorschrift der RVO und des Verfahrensgesetzes aus 1922 durch diese Übernahme nicht revisibles Recht geworden sein. Diese Rechtsanwendung betrifft genau so wenig revisibles Recht, als wenn ein Ländergesetz ausdrücklich einzelne Vorschriften des Bundesrechts als Landesrecht übernimmt. Betraf demnach schon die frühere Verweisung des § 49 KVG auf die RVO kein revisibles Recht, so kann eine zur Ausfüllung einer Gesetzeslücke erfolgte lediglich entsprechende Anwendung solcher Vorschriften erst recht nicht revisibel sein (vgl. hierzu BVerwGE. 1 S. 76, Deutsches Verwaltungsblatt 56 S. 234, DÖV 58 S. 27, 57 S. 911).

Der Senat konnte aus diesen Gründen nicht nach § 162 Abs. 2 SGG prüfen, ob das LSG. bei der Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag § 131 RVO und das Verfahrensgesetz von 1922 zutreffend angewendet; hat (vgl. BSG. 3 S. 77). Die Revision ist daher, soweit sie die Aufhebungsklage betrifft, unbegründet. Sie war insoweit zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 35

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