Leitsatz (redaktionell)

1. Weist das SG die Klage wegen Mangels einer Prozeßvoraussetzung ab, dann darf es den Klageanspruch nicht mehr sachlich prüfen. Soweit es ihn sachlich - wenn auch nur hilfsweise - für unbegründet hält, ist seine Entscheidung unbeachtlich. Notwendige Sachaufklärung:

2. Das Gericht darf die Wiedereinsetzung ohne eine nach Lage des Falles notwendige Sachaufklärung nicht verweigern. Es muß angebotene oder den Umständen nach naheliegende Beweise erheben und auch Zeugen vernehmen.

 

Normenkette

SGG § 141 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 67 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 103 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 1. April 1955 wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die Klägerin ist die Witwe des Soldaten F L., der durch Urteil des Feldkriegsgerichts der 69. Inf. Div. vom 17. April 1942 wegen Brandstiftung als Volksschädling zum Tode verurteilt worden war und an dem das Todesurteil am 23. April 1942 vollstreckt worden ist. Das Versorgungsamt Berlin lehnte die Versorgungsansprüche der Klägerin durch Bescheid vom 15. Oktober 1951 ab, weil der Tod des Ehemannes nicht die Folge einer militärischen Dienstleistung sei und auch die Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Buchst. d des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) nicht gegeben seien. Der Einspruch der Klägerin blieb erfolglos. Die Einspruchsentscheidung des Landesversorgungsamts Berlin vom 16. Mai 1953 wurde der Klägerin mittels eingeschriebenen Briefes zugestellt, der am 16. Mai 1953 zur Post gegeben worden war. Mit Schriftsatz vom 30. Juni 1953, der an demselben Tage beim Landesversorgungsamt Berlin und am 2. Juli 1953 beim Versorgungsgericht Berlin einging, erhob die Klägerin Klage gegen den Einspruchsbescheid und beantragte, ihr gegen die Versäumung der Klagefrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Sie führte dazu aus, daß ihr einziges Kind beim Baden ertrunken sei. Dadurch sei sie in größte Verzweiflung geraten und habe sich wegen eines Nervenleidens zu Dr. W in Behandlung begeben müssen. Auf dessen Empfehlung habe sie sich an die Deutsche Liga für Menschenrechte gewandt und nach Erörterung mit ihr die Klage eingereicht. Die Klägerin erbot sich, auf Erfordern ein Attest des Dr. W über den Sachverhalt beizubringen, der zu der Versäumung der Klagefrist geführt hat. Das Sozialgericht Berlin, auf welches der beim Versorgungsgericht Berlin anhängige Fall mit dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes vom 3. September 1953 (SGG) gemäß dessen § 218 Abs. 5 übergegangen war, wies mit Urteil vom 30. August 1954 die Klage als unzulässig ab. Es sah die Klage als verspätet an. Ein Grund zur Gewährung der Wiedereinsetzung sei nicht vorhanden. Die Klägerin habe am 30. Juni die Klage erhoben; sie hätte dies auch schon zwei Wochen früher tun können. Sie hätte auch einen Dritten mit der Klageerhebung betrauen oder notfalls die Klageerhebung zu Protokoll der Antragsstelle des Versorgungsgerichts erklären können.

Das Urteil wurde der Klägerin am 7. September 1954 zugestellt. Mit Schriftsatz vom 14. September 1954 legte sie dagegen Berufung ein, die am 17. September 1954 beim Landessozialgericht einging. Ihr Angriff richtete sich im wesentlichen gegen die Ablehnung der Wiedereinsetzung. Sie reichte eine eidesstattliche Erklärung der Frau E. M. ein, in welcher diese u. a. bekundet, daß die Klägerin in den Monaten April/Juni 1953 so stark unter nervlichen Depressionen gelitten habe, daß sie sich über die Tragweite einzelner Handlungen nicht im klaren sein konnte und in einer Art Dämmerzustand dahinlebte. Noch vor dem 17. Juni 1953 sei die Klägerin nach deren Erzählung auf dem Arbeitsamt völlig zusammengebrochen und habe mehrere Stunden bewußtlos auf der Unfallstation des Arbeitsamts gelegen. Später sei die Klägerin in der Nervenklinik B im Waldhaus gewesen. Zur sachlichen Begründung ihrer Versorgungsansprüche führte die Klägerin an, daß inzwischen durch Beschluß der 4. Großen Strafkammer bei dem Landgericht Berlin vom 26. Oktober 1954 das Todesurteil gegen ihren verstorbenen Ehemann aufgehoben worden sei.

Das Landessozialgericht Berlin wies die Berufung der Klägerin mit Urteil vom 1. April 1955 zurück. Nach seiner Auffassung versagte das Sozialgericht der Klägerin mit Recht die Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Klagefrist. Der Zusammenbruch der Klägerin könne nicht besonders schwer gewesen sein, da die Klägerin wenige Stunden danach ohne fremde Hilfe vom Arbeitsamt in ihre sehr entfernt liegende Wohnung zurückkehren konnte. Der Zustand der Klägerin könne sich in den nächsten sechs Wochen nicht geändert haben, da sie erst Mitte Juli 1953 ein Krankenhaus aufsuchen mußte. Im übrigen bestätigt das Landessozialgericht die hilfsweise angestellten Erwägungen des Sozialgerichts, wonach die Ansprüche der Klägerin auch sachlich nicht begründet sind. Es ließ die Revision gegen das Urteil nicht zu. In der Rechtsmittelbelehrung erwähnte es nicht, daß die Revisionsbegründung, soweit Verfahrensmängel gerügt werden, die Tatsachen und Beweismittel bezeichnen muß, die den Mangel ergeben.

Gegen das am 12. Mai 1955 zugestellte Urteil hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 8. Juni 1955, eingegangen beim Bundessozialgericht am 10. Juni 1955, Revision eingelegt und beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils nach den bisher diesseits gestellten Anträgen zu erkennen.

Mit Schriftsatz 6. Juli 1955, der beim Bundessozialgericht am 7. Juli 1955 einging, hat die Klägerin die Revision begründet. Sie bringt darin das Begehren zum Ausdruck,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Berlin zurückzuverweisen.

Sie hält die Revision gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 SGG für statthaft. Sie begründet das Vorliegen eines wesentlichen Verfahrensmangels damit, daß das Landessozialgericht den Sachverhalt, der ihren Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtfertigt, nicht genügend aufgeklärt habe. Die Annahme des Landessozialgerichts, der Gesundheitszustand der Klägerin in der Zeit zwischen den Gang zum Arbeitsamt und dem Arztbesuch im Juli 1953 habe Sich nicht erheblich geändert, beruhe auf einer falschen Würdigung des Sachverhalts. Wenn das Landessozialgericht ausführt, die Klägerin hätte ebensogut am letzten Tage der Klagefrist die erforderlichen Anträge stellen können, so hätte es die angebotenen Beweise erheben müssen, um sich Klarheit zu verschaffen. Eine Beweisaufnahme hätte dann ergeben, daß die Klägerin infolge eines unabwendbaren Zufalls nicht in der Lage gewesen sei, die Klagefrist einzuhalten. Das Landessozialgericht hätte die Wiedereinsetzung gewähren und sachlich über die Ansprüche der Klägerin entscheiden müssen. Schließlich habe das Landessozialgericht auch den Kausalzusammenhang zwischen Tod und Schädigung verkannt ( § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG ). Das Todesurteil sei eine mit dem militärischen Dienst zusammenhängende Strafmaßnahme, die als offensichtliches Unrecht anzusehen sei, nachdem das Landgericht Berlin höchstens eine Freiheitsstrafe für angemessen gehalten habe.

Der Beklagte hat beantragt,

die Revision zu verwerfen.

Er hält die Revision für unzulässig, da das Landessozialgericht der Klägerin mit Recht die Wiedereinsetzung versagt habe und daher von einem Verfahrensmangel nicht die Rede sein könne. Auf § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG könne sich die Klägerin für die Statthaftigkeit der Revision nicht berufen, denn das Landessozialgericht habe die sachliche Prüfung des Versorgungsfalls nur hilfsweise vorgenommen. Die hierzu geäußerten Erwägungen trügen den Urteilstenor nicht, so daß insoweit auch nicht von einer Gesetzesverletzung im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG gesprochen werden könne.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung waren die Beteiligten nicht vertreten, obgleich ihnen Ort und Zeit der mündlichen Verhandlung unter Hinweis auf § 110 Satz 2 SGG mitgeteilt worden war.

Die Klägerin hat die Revision fristgerecht eingelegt. Ob der Antrag der Klägerin in der Revisionsschrift vom 8. Juni 1955 als ein "bestimmter Antrag" in Sinne des § 164 Abs. 2 Satz 1 SGG anzusehen ist und ob insoweit die Revisionsschrift der in dieser Vorschrift geforderten Form entspricht, kann dahingestellt bleiben, da das Begehren der Klägerin auf Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das Landessozialgericht aus der Revisionsbegründungsschrift vom 6. Juli 1955 genügend bestimmt hervorgeht. Bei deren Eingang war die Revisionsfrist noch nicht abgelaufen. Die Rechtsmittelbelehrung im angefochtenen Urteil enthielt nicht den Hinweis, daß die Revisionsbegründung, soweit Verfahrensmängel gerügt werden, die Tatsachen und Beweismittel bezeichnen muß, die den Verfahrensmangel ergeben ( § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG). Die Rechtsmittelbelehrung war daher unrichtig, weil sie die Beteiligten nicht über die für sie wesentlichen Einzelheiten des Rechtsmittels unterrichtete und sie nicht ohne weiteres in die Lage versetzte, die für die Wahrnehmung ihrer Rechte erforderlichen Schritte zu unternehmen (BSG. 1 S. 194 (195) und S. 227 (228/229)). Wegen der mangelhaften Rechtsmittelbelehrung war daher unabhängig davon, ob gerade wegen dieser Unrichtigkeit die Revision fehlerhaft eingelegt wurde (BSG. 1 S. 254), die bei Eingang der Revisionsbegründungsschrift nunmehr maßgebende Jahresfrist des § 66 Abs. 2 SGG noch nicht abgelaufen, so daß auf jeden Fall noch in der Revisionsbegründungsschrift vom 6. Juli 1955 rechtzeitig der Antrag in genügend bestimmter Form gestellt werden konnte.

Die Revision ist daher form- und fristgerecht eingelegt und rechtzeitig begründet worden. Sie ist auch statthaft.

Da das Landessozialgericht die Revision nicht zugelassen hat, ist sie nur unter den Voraussetzungen des § 162 Abs. 1 Nr. 2 oder Nr. 3 SGG statthaft.

Soweit sich die Klägerin auf § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG beruft und ausführt, das Landessozialgericht habe bei der Beurteilung des Kausalzusammenhangs zwischen dem Tod ihres Ehemanns und dessen militärischem Dienst oder einer unrechtmäßigen Strafmaßnahme das Gesetz verletzt, konnte ihrer Ansicht nicht gefolgt werden. Dieser Angriff richtet sich gegen den Teil des Urteils, in welchem das Landessozialgericht die Versorgungsansprüche der Klägerin sachlich erörtert. Nachdem das Landessozialgericht aber in dem vorhergehenden Teil der Urteilsbegründung seine Entscheidung - Bestätigung der Abweisung der Klage wegen Mangels einer Prozeßvoraussetzung - begründet hatte, durfte es die Versorgungsansprüche der Klägerin nicht mehr sachlich prüfen. Soweit das Landessozialgericht die Versorgungsansprüche der Klägerin sachlich, wenn auch hilfsweise, für unbegründet hielt, ist seine Entscheidung unbeachtlich (RGZ. 75 S. 265; 123 S. 364; 153 S. 219; 154 S. 184; BGHZ. 11 S. 222; 14 S. 11; Baumbach, ZPO, 24. Aufl., § 322 Anm. 4; Rosenberg, Lehrbuch, 7. Aufl., § 89 IV 1). Ob deswegen allerdings auch dieser Teil der Entscheidung vom Rechtsmittelkläger mitherangezogen werden kann, um durch Rüge von Verfahrensmängeln dieses Teiles der Entscheidung die Revision gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG statthaft zu machen, kann im vorliegenden Falle dahingestellt bleiben. Selbst wenn sich nämlich gegen diesen Teil der Entscheidung Angriffe im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG erfolgreich richten könnten, so hat das Landessozialgericht bei der Beurteilung des Kausalzusammenhangs das Gesetz nicht verletzt. Es hat nicht den Zusammenhang des Todes des Ehemanns der Klägerin mit einer Schädigung im Sinne des BVG beurteilt, sondern das Vorhandensein einer Schädigung im Sinne des § 1 Abs. 1 oder § 1 Abs. 2 Buchst. d BVG verneint und sich deshalb mit der Ursächlichkeit der Schädigung für den Tod des Ehemanns der Klägerin überhaupt nicht befaßt.

Wenngleich die Statthaftigkeit der Revision sich nicht aus § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG ergibt, so ist die Revision doch statthaft durch die Rüge der Klägerin, das Landessozialgericht habe seine Sachaufklärungspflicht ( § 103 SGG ) dadurch verletzt, daß es den zur Entschuldigung für die verspätete Klageerhebung vorgebrachten Tatsachen, für die sie Beweismittel bezeichnet hatte, nicht nachging.

Vom Landessozialgericht war im Berufungsverfahren zu entscheiden, ob das Sozialgericht den Antrag der Klägerin auf Wiedereinsetzung zu Unrecht abgelehnt hatte. Es ist richtig davon ausgegangen, daß die am 16. Mai 1953 mittels eingeschriebenen Briefes zur Post aufgegebene Einspruchsentscheidung des Landesversorgungsamts Berlin gemäß § 4 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG), das gemäß Art. 1, 2 des Berliner Gesetzes zur Übernahme des VwZG vom 5. August 1952 (GVBl. Berlin S. 648) für das Zustellungsverfahren anzuwenden war, mit dem 19. Mai 1953 als zugestellt gilt. Die Frist zur Erhebung der Klage hatte daher gemäß § 41 Abs. 2 des Gesetzes über die Versorgung von Kriegs- und Militärdienstbeschädigten sowie ihren Hinterbliebenen (Berliner KVG) vom 24. Juli 1950 (VOBl. für Groß-Berlin, Teil I S. 318) mit dem Ablauf des 19. Juni 1953 geendet. Dies hat auch das Landessozialgericht angenommen und demgemäß die am 30. Juni 1953 erhobene Klage als verspätet angesehen.

Von der Annahme des Landessozialgerichts, daß die Klage am 30. Juni 1953 erhoben worden ist, muß auch das Bundessozialgericht ausgehen, obwohl die Klage am 30. Juni beim Landesversorgungsamt und erst am 2. Juli 1953 beim Versorgungsgericht Berlin eingegangen ist. Das Landessozialgericht hat zwar nicht ausgeführt, ob es für die Bestimmung des Zeitpunktes der Erhebung der Klage den § 41 Abs. 2 Berliner KVG oder den § 129 RVO i. Verb. m § 49 Berliner KVG angewendet hat. Das kann aber auch dahingestellt bleiben. Hat nämlich das Landessozialgericht den § 41 Abs. 2 Berliner KVG, der von der Erhebung der Klage beim Versorgungsgericht spricht, als Sondervorschrift angewendet, so ist das Bundessozialgericht an die Auslegung gebunden, daß die Klage am 30. Juni 1953 erhoben worden ist. Der Geltungsbereich des § 41 Berliner KVG erstreckt sich ebenso wie der Geltungsbereich der materiell-rechtlichen Vorschriften des Berliner KVG nur auf den Bezirk des Landessozialgerichts Berlin. Der § 41 Berliner KVG ist daher irrevisibel (vergl. BSG. 2 S. 106). Hat das Landessozialgericht aber über § 49 Berliner KVG und die dort angezogenen Vorschriften über Fristen den § 129 RVO angewendet, also revisibles Recht (vergl. SozR. SGG § 162 Bl. Da 8 Nr. 43), so hat es mit Recht die Klage mit deren Eingang beim Landesversorgungsamt als erhoben angesehen.

Das Landessozialgericht durfte jedoch nicht für die am 30. Juni 1953 erhobene Klage die Wiedereinsetzung ohne weitere Sachaufklärung verweigern. Das unzulänglich begründete Urteil des Landessozialgerichts läßt ebenfalls nicht erkennen, nach welcher Rechtsnorm das Landessozialgericht den Wiedereinsetzungsantrag beurteilt hat, etwa nach § 49 Berliner KVG in Verbindung mit § 131 der Reichsversicherungsordnung (RVO) oder nach § 67 SGG . Letzteres liegt zwar nach der Art der Begründung nahe, wenngleich § 67 SGG in diesem Falle nicht anzuwenden war, weil die Beseitigung des Hindernisses schon vor dem Inkrafttreten des SGG eingetreten war ( BSG. 1 S. 44 und Urt. des erkennenden Senats vom 11.12.1956 - 10 RV 425/54 - in Breith. 1957 S. 282). Unabhängig aber davon, ob das Landessozialgericht den Wiedereinsetzungsantrag wegen Nichtvorliegens eines unabwendbaren Ereignisses ( § 131 RVO ) oder wegen Nichtvorliegens genügender Entschuldigungsgründe ( § 67 SGG ) abgelehnt hat, bestand für das Landessozialgericht die Pflicht, den Sachverhalt insoweit aufzuklären, als er für die Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag nach der Rechtsauffassung des Landessozialgerichts erheblich war. Da gegen die Zulässigkeit und Rechtzeitigkeit des Wiedereinsetzungsantrages weder aus den Vorschriften der RVO (§§ 133 ff.) noch des SGG ( § 67 SGG ) Bedenken bestanden, kam es allein darauf an, ob die Klägerin durch einen unabwendbaren Zufall bzw. ohne Verschulden an der rechtzeitigen Klageerhebung verhindert war. Zur Entscheidung über diese Frage, die unter dem zeitlichen Geltungsbereich des SGG zu treffen war, mußte das Landessozialgericht gemäß § 103 SGG von Amts wegen alle Ermittlungen treffen, um die nach seiner Auffassung maßgebende Rechtsnorm auf den vorliegenden Sachverhalt anwenden oder ihre Anwendbarkeit verneinen zu können. Dabei ist wiederum unerheblich, ob das Landessozialgericht den § 67 SGG oder über § 49 Berliner KVG den § 131 RVO angewendet hat. Für das Vorliegen von Verfahrensmängeln i. S. des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG kommt es nicht darauf an, welches Recht das Landessozialgericht angewendet hat, sondern lediglich darauf, ob es bei seiner Rechtsanwendung gegen die bundesrechtlichen Verfahrensvorschriften des SGG verstoßen hat (SozR. SGG § 162 Bl. Da 3 Nr. 20).

Im vorliegenden Fall hatte die Klägerin zur Begründung ihres Wiedereinsetzungsantrags sich auf ihre Nervenerkrankung und die damit verbundene Unfähigkeit berufen, fristgemäß die Klage zu erheben. Sie hatte sich zum Beweise dafür auf ein noch einzuholendes Attest des behandelnden Arztes Dr. W. und die eidesstattliche Versicherung der Frau M. berufen. Das Landessozialgericht hätte diese Personen in jedem Fall hören müssen, um beurteilen zu können, ob die verspätete Klageerhebung auf unabwendbare Zufälle oder auf sonstige entschuldigende Umstände zurückgeführt werden kann. Die Auffassung des Landessozialgerichts, daß die Klägerin ebenso wie am 30. Juni 1953 die Klage auch schon am 19. Juni 1953 hätte erheben können, entbehrt der überzeugenden Begründung. Das Landessozialgericht durfte sich seiner Pflicht zur Sachaufklärung nicht entziehen. Die Klägerin kann sehr wohl, obgleich sie nach dem Zusammenbruch auf dem Arbeitsamt allein nach Hause zurückgekehrt war, noch psychisch so schwer krank gewesen sein, daß sie die zur ordentlichen Verfolgung ihrer Versorgungsansprüche erforderlichen Schritte weder allein tun konnte noch imstande war, dritte Personen damit zu betrauen. Darauf deutet sowohl die eidesstattliche Versicherung der Frau M. hin als auch die Darstellung der Klägerin, nach der sie erst von Dr. W. veranlaßt worden ist, nach Rücksprache bei der Liga für Menschenrechte die Klage zu erheben. Auch die Folgerung des Landessozialgerichts daß sich der Zustand der Klägerin in den nächsten sechs Wochen nach dem Nervenzusammenbruch nicht geändert haben könne, weil sie erst Mitte Juli das Krankenhaus aufgesucht habe, ist nicht zwingend. Das Landessozialgericht übersieht dabei, daß sich die Klägerin inzwischen in ärztliche Behandlung begeben hatte, auf welche möglicherweise eine Besserung zurückgeführt werden kann. Möglich ist aber auch, daß sich der Zustand der Klägerin trotz der ärztlichen Behandlung wieder verschlimmerte, so daß sie aus diesem Grunde Mitte Juli stationär behandelt werden mußte. Das Landessozialgericht konnte jedenfalls seine Entscheidung, daß die Klägerin nicht durch unabwendbare Zufälle oder ohne eigenes Verschulden an der rechtzeitigen Klageerhebung gehindert worden sei, nicht auf die von ihm angestellten Erwägungen stützen. Es mußte vielmehr unter den gegebenen Umständen die von der Klägerin angebotenen oder den Umständen nach naheliegenden Beweise über die Schwere und Dauer der Erkrankung der Klägerin erheben. Die Verletzung der dem Landessozialgericht nach § 103 SGG obliegenden Sachaufklärungspflicht stellt einen wesentlichen Mangel dar, den die Klägerin fristgerecht gerügt hat und der die Revision statthaft macht ( § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG ).

Mit dem Vorliegen dieses Verfahrensmangels ist die Revision aber auch begründet, denn auf ihm beruht das angefochtene Urteil. Bei der Verletzung verfahrensrechtlicher Vorschriften "beruht" die Entscheidung schon dann auf dieser Verletzung i. S. § 162 Abs. 2 SGG , wenn nur die Möglichkeit besteht, daß das Landessozialgericht bei richtiger Anwendung der Verfahrensvorschrift anders entschieden hätte (BSG. 2 S. 197). Im vorliegenden Fall besteht die Möglichkeit, daß das Landessozialgericht bei einer Vernehmung des Arztes Dr. W. der Frau M. oder sonstiger als Zeugen in Frage kommender Personen zu einer anderen Beurteilung des Wiedereinsetzungsantrags der Klägerin gekommen wäre. Das angefochtene Urteil mußte daher aufgehoben werden. Ohne die Frage zu entscheiden, ob das Bundessozialgericht in diesem Falle die weitere Aufklärung zur Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag selbst vornehmen kann, erschien es dem erkennenden Senat auf jeden Fall tunlich, die weitere Aufklärung dem ortsnahen Landessozialgericht Berlin zu überlassen ( § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG ). Die Klage war daher zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

RegNr, 14128

Die Kriegsopferversorgung, 1957 RsprNr 638 (red. Leitsatz 1)

Sozialrechtliche Entscheidungssammlung, BSG 1/4 § 67 Nr 4 (red. Leitsatz 2 und Gründe)

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