Therapie in Gefahr: Suchtkranke finden keine Ärzte

Opioidabhängige Patienten erhalten ein Ersatzmittel, das die Entzugserscheinungen reduziert und so eine Entgiftung des Körpers ermöglicht. Immer weniger Ärzte wollen eine solche Behandlung übernehmen. Experten sehen eine wesentliche Ursache in Fehlanreizen in der Gebührenordnung.

Die Zahl der in der Substitutionstherapie tätigen Ärzte ist von 2.781 im Jahr 2012 auf 2.496 im Jahr 2021 gesunken.  In den nächsten fünf Jahren scheidet rund ein Drittel altersbedingt aus. Wie aus dem Bericht zum Substitutionsregister des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte von Januar 2022 hervorgeht, gibt es in über 50 Landkreisen gar keine Versorgung mehr und ist in vielen weiteren, vor allem ländlichen, Regionen die Versorgung akut gefährdet. 

Zugleich steigt die Zahl der Patienten. Von 2012 bis 2021 wurde ein Plus von acht Prozent auf 81.300 verzeichnet.  Damit befindet sich hierzulande aber nur die Hälfte der geschätzt rund 161.000 Abhängigen in medizinischer Betreuung. Zum Vergleich: In Frankreich, Spanien und Norwegen sind es rund 80 Prozent, in Rumänien acht Prozent.  Hilfe, Behandlung und Beratung müssten schneller und direkter bei den Betroffenen ankommen, forderte der Drogenbeauftragte der Bundesregierung Burkhard Blienert (SPD) bei der Vorstellung des Drogenberichts im Januar 2022. Er verwies auf die zum vierten Mal in Folge gestiegene Zahl der Drogentoten auf 1.826 im Jahr 2021, was einem Plus von 14 Prozent gegenüber 2021 und einem Plus von 31 Prozent gegenüber 2017 entspricht. Dr. Markus Backmund, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin (DGS), warnt: „Wenn es uns nicht gelingt, das Problem zu lösen, werden sich wieder offene Drogenszenen bilden.“ 

Es drohen offene Drogenszenen

Für die distanzierte Haltung gegenüber der Substitution gibt es unter anderem Image- Gründe. Eine nicht geringe Anzahl von Ärzten befürchtet, in ein schlechtes Licht zu geraten, wenn Leute aus der Drogenszene bei ihnen Schlange stehen. Normale Patienten würden womöglich abgeschreckt. Auch dass es sich um sehr schwierige Patienten mit äußerst komplexen Störungs- und Krankheitsbildern handeln könne, spiele häufig eine Rolle, weiß Dr. Heino Stöver, Professor für sozialwissenschaftliche Suchtforschung an der Frankfurt University of Applied Sciences, Vorstand des akzept Bundesverbands für akzeptierende Drogenarbeit und humane Drogenpolitik e. V.  Für Dirk Schäffer, Teamleitung, Referent für Drogen und Strafvollzug/JES, Deutsche Aidshilfe e. V., wirken auch negative Erfahrungen nach, die Ärzte in früheren Zeiten bis hin zu Strafverfolgungen gemacht haben. Diese spielten zwar durch die heutige Gesetzgebung faktisch keine Rolle, würden aber oft in den Blickpunkt gerückt. Gleichzeitig spiele das gesamte Thema Sucht in der Ausbildung junger Mediziner „eine völlig nachrangige und untergeordnete Rolle, so Schäffer.

Der eigentliche Knackpunkt ist laut Medizinern, Fachverbänden und Gesundheitspolitikern aber das Vergütungssystem. Die Gebührenordnung setze Fehlanreize zulasten einer patientengerechten, zielführenden Behandlung. Diese honoriere – pointiert ausgedrückt – eine fließbandähnliche Abgabe der Ersatzmittel besonders gut und die patientenbezogene Therapie besonders schlecht (siehe Kasten). Das am besten honorierte Behandlungsschema ist die tägliche Vergabe des Ersatzmedikaments in der Praxis. Dafür erhält der Arzt außerbudgetär pro Quartal 704 Euro. Davon entfallen 635 Euro auf die bloße Verabreichung des Mittels und nur 69 Euro auf vier therapeutische Gespräche pro Quartal von jeweils mindestens zehnminütiger Dauer. Diese vom IGES Institut für Infrastruktur- und Gesundheitsfragen im Rahmen einer Studie vorgenommene Berechnung fußt auf dem Schätzwert, dass bei der „täglichen Vergabe“ ein Patient an 80 Prozent der Tage in der Praxis erscheint.  „Bei langjährigen Patientinnen und Patienten ist die tägliche Vergabe gar nicht mehr nötig“, so Experte Stöver.

Qualität statt Quantität

Nach den Richtlinien der Bundesärztekammer (BÄK) besteht die Möglichkeit, einem ausreichend stabilisierten Patienten mehr Eigenverantwortung zu übertragen, indem ihm ein „Depot“ oder ein „Take-home“ verordnet wird. Beim Depot wird ihm das Ersatzmittel unter die Haut gespritzt, wo es seinen Wirkstoff kontinuierlich freisetzt. Beim Take-home erhält er ein Rezept für die Apotheke. Ein Zusatzeffekt wäre, dass weniger „Drogen-Patienten“ die Arztpraxen frequentierten. Allerdings sinkt bei diesen Varianten die Vergütung gegenüber der täglichen Vergabe um mehr als die Hälfte. „Medizinerinnen und Mediziner werden finanziell bestraft, wenn sie Patientinnen und Patienten in die Eigenverantwortlichkeit entlassen, was ja das eigentliche Ziel der Behandlung ist“, kritisiert Dirk Schäffer, Referent für Drogen und Strafvollzug bei der Deutschen Aidshilfe e. V. 

Die Gebührenordnung für die Substitution decke die Versorgungsrealität und -notwendigkeiten nicht ab, so die Deutsche Gesellschaft für Suchtmedizin e. V. in einem Thesenpapier.  Sie sei nicht sachgerecht und hindere Kollegen am Neueinstieg in die Substitutionstherapie. Deshalb fordern die Experten eine stärkere Ausrichtung an medizinischen Aspekten, bei der das therapeutische Gespräch mit Betroffenen besser honoriert wird. Laut der IGES-Studie (s. o.) ließen sich durch die Einführung neuer Gebührenziffern die Aufwendungen so verlagern, dass weder den bereits substituierenden Ärzten Erlöseinbußen entstünden noch sich die Behandlung insgesamt verteuere. Für junge Mediziner werde die Substitutionstherapie dadurch deutlich attraktiver. 

Ärztinnen und Ärzte sollten verantwortungsvoll jeden Einzelfall begutachten und ohne wirtschaftliche Hintergedanken die jeweils passende Therapieform wählen können, fordert auch Linda Heitmann MdB (Bündnis90/Die Grünen), Ordentliches Mitglied im Gesundheitsausschuss . Bessere Möglichkeiten für Konsiliarregelungen gehörten dazu. Der Sucht- und Drogenbeauftragte des Bundes formuliert gesundheitspolitische Ziel seiner noch jungen Amtszeit: „Es darf nicht sein, dass Menschen, die schwer suchtkrank sind, gar nicht erreicht und mit ihrer Erkrankung sowie deren sozialen Folgen allein gelassen werden.“ Blienert will dazu Gespräche mit den Ländern führen.

Bewegung in das System bringen Initiativen wie der „Pakt für Substitution“ in Baden-Württemberg. Dieser wurde vom Land und 13 Institutionen des Sozial- und Gesundheitswesens ein einschließlich der Ärzteorganisationen und führenden Gesundheitskassen ins Leben gerufen. Die Teilnehmer wollen sich unter anderem dafür einsetzen, dass alle ärztlich indizierten Behandlungsleistungen im Rahmen und im Zusammenhang mit der Substitution erbracht und abgerechnet werden können. Das Land will sich darüber hinaus für eine Verbesserung der Vergütung und dafür gegebenenfalls erforderliche Gesetzesänderungen starkmachen.
 

Die Versorgung ist gefährdet und diese Tatsache schon seit vielen Jahren bekannt. Ziel einer Substitutionsbehandlung ist es ja, den Erkrankten einen normalen Alltag zu ermöglichen. Das funktioniert nur, wenn sie keine zu langen Anfahrtswege zur Substitutionspraxis haben, sodass die Substitutionsbehandlung gut in den Alltag integriert werden kann. Besonders in ländlichen Regionen ist das schon heute vielerorts ein Problem.
Linda Heitmann MdB (Bündnis90/Die Grünen), Ordentliches Mitglied im Gesundheitsausschuss 

Es erhalten schlicht keine neuen Heroinabhängigen mehr die Möglichkeit einer Behandlung. Wir haben nach aktuellen Schätzungen 165.000 Heroinkonsument*innen. Aktuell sind also etwa 50 % in Behandlung. Wenn alles so bleibt wie jetzt mit weiter geringer Abnahme der behandelnden Ärzte, werden höchstens noch die Altpatient*innen weiterbehandelt, aber es gibt keine Neuaufnahmen mehr.
Dirk Schäffer, Teamleitung, Referent für Drogen und Strafvollzug/JES, Deutsche Aidshilfe e. V. 

„Die Lage wird dramatisch. Patient*innen, die auf dem Land leben, müssen schon jetzt zum Teil weite Wege in die nächste Stadt zurücklegen, um an ihr Substitut zu kommen. Und in den großen Städten finden Substitutionspraxen oft keinen Nachfolger. Die, die es machen, müssen immer mehr Patienten versorgen, sie sind an ihrer Belastungsgrenze. Wenn es uns nicht gelingt, das zu lösen, werden sich wieder offene Drogenszenen bilden.“  
Dr. Markus Backmund, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin (DGS)


 

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