Staatshaftung für Gesundheitsschäden durch Luftverschmutzung?

Die Haftung des Staates gegenüber dem einzelnen Bürger für durch übermäßige Luftverschmutzung verursachte Gesundheitsschäden rückt näher. Die Generalanwältin beim EuGH sprach sich in ihrem Schlussplädoyer jetzt für eine solche Staatshaftung aus.

Die Generalanwältin beim EuGH hat in einem aktuellen Verfahren die grundsätzliche Haftung des Staates für Gesundheitsschäden einzelner Bürger infolge einer Überschreitung der EU-weit zulässigen Schadstoffwerte in der Luft befürwortet. Gleichzeitig hat die Generalanwältin mögliche individuelle Schadensersatzansprüche aber an strenge Voraussetzungen geknüpft.

Pariser Bürger klagt auf 21 Millionen Euro Schadensersatz

Dem beim EuGH anhängigen Verfahren liegt die Klage eines Einwohners von Paris gegen den französischen Staat zu Grunde. Der Kläger fordert 21 Millionen Euro Schadensersatz, weil die übermäßige Luftverschmutzung im Ballungsraum Paris zu erheblichen Beeinträchtigungen seiner Gesundheit geführt habe. Das Verwaltungsberufungsgericht in Frankreich hat dem EuGH die Frage vorgelegt, unter welchen Voraussetzungen und nach welchen Kriterien der einzelne Bürger Schadensersatz wegen Gesundheitsschäden vom Staat fordern kann, die auf eine Verletzung der von der EU vorgegebenen Grenzwerte für Schadstoffe in der Luft zurückgehen.

Individuelles Bürgerrecht auf Luftreinhaltung

In ihren Schlussanträgen vertritt die Generalanwältin am EuGH die Auffassung, dass eine Verletzung der unionsrechtlich gesetzten Grenzwerte zum Schutz der Luftqualität für den einzelnen Bürger eine individuelle Rechtsposition begründet. Dies folge daraus, dass die durch diverse EU-Richtlinien aufgestellten Grenzwerte für Schadstoffe in der Umgebungsluft den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung bezwecken. Dieser Schutz sei nur effektiv zu erreichen, wenn der einzelne hieraus eigene Rechte ableiten könne mit der Möglichkeit, diese gegebenenfalls gerichtlich durchzusetzen und den Staat für Verletzungen dieser Grenzwerte in die Haftung zu nehmen.

Generalanwältin definiert diverse Bedingungen für Haftungsansprüche

Nach dem Plädoyer der Generalanwältin hängt die Haftung des Staates bei Überschreitung der Luftgrenzwerte gegenüber dem einzelnen von drei grundsätzlichen Voraussetzungen ab:

1. Überschreitung der Grenzwerte

Als erstes muss nach Auffassung der Generalanwältin geklärt sein, dass die durch die EU-Richtlinien aufgestellten Grenzwerte für Schadstoffe in der Luft in der Wohn- bzw. Arbeitsumgebung des Betroffenen tatsächlich überschritten wurden. Diese Voraussetzung sei im konkreten Fall erfüllt. Bereits im Jahr 2019 habe der EuGH festgestellt, dass die Grenzwerte für Stickstoffdioxid im Ballungsraum Paris deutlich zu hoch seien. Der französische Staatsrat für Paris habe darüber hinaus eine fortdauernde Überschreitung der Grenzwerte bis ins Jahr 2020 festgestellt. Daneben sei für die Jahre 2018 und 2019 die Überschreitung der Grenzwerte für Feinstaub für den Großraum Paris nachgewiesen.

2. Luftreinhaltepläne können den Staat entlasten

Die Verletzung der Regeln über den Schutz der Luftqualität muss nach dem Plädoyer der Generalanwältin qualifiziert und vorwerfbar sein. Diese Voraussetzung sei dann gegeben, wenn trotz der erheblichen, das EU-Recht verletzenden Grenzwertüberschreitungen von Seiten des Staates keine effektiven Luftreinhaltepläne erarbeitet bzw. umgesetzt wurden, um eine nachhaltige Verbesserung der Luftqualität zu erreichen. Die Prüfung, ob der Staat solche Luftreinhaltepläne entsprechend dem EU-Recht ohne größere qualitative Mängel aufgestellt habe, obliege den nationalen Gerichten.

3. Staatliches Fehlverhalten muss kausal für die Gesundheitsbeschädigung sein

Die entscheidende Schwierigkeit für die Durchsetzung eines Schadensersatzanspruchs sieht die Generalanwältin in der dritten Voraussetzung für eine Haftung des Staates, nämlich dem Nachweis eines unmittelbaren Kausalzusammenhangs zwischen einer qualifizierten Verletzung der Regeln über die Luftqualität und dem eingetretenen konkreten Gesundheitsschaden. Für einen solchen Nachweis könne es allerdings ausreichen, dass der Geschädigte sich über einen ausreichend langen Zeitraum in einer Umgebung aufgehalten hat, in der die unionsrechtlichen Grenzwerte für die Qualität der Umgebungsluft in qualifizierter Weise überschritten wurden. Die Beurteilung dieses Zusammenhangs erfordere in der Regel die Erstellung eines medizinischen Sachverständigengutachtens.

Entlastung durch hypothetischen Kausalverlauf

Auch wenn diese Voraussetzungen für eine Staatshaftung gegeben sind, bleibt dem Staat nach Auffassung der Generalanwältin allerdings noch ein Ausweg aus der Haftung. Die Mitgliedstaaten hätten die Möglichkeit eines Entlastungsbeweises. Die Haftung entfalle, wenn der Mitgliedstaat nachweisen kann, dass die Überschreitung der zulässigen Luftgrenzwerte auch dann eingetreten wäre, wenn rechtzeitig Luftqualitätspläne erlassen worden wären, die den EU-rechtlichen Anforderungen genügen.

EuGH-Urteil noch nicht in Sicht

Das Votum der Generalanwältin ist für die Richter des EuGH nicht bindend. In der Praxis folgt das Gericht allerdings häufig den Schlussanträgen der Generalanwaltschaft. Das Urteil des EuGH wird erst in einigen Wochen oder Monaten erwartet.

(EuGH, Schlussanträge v. 5.5.2022, C-61/21)

Hintergrund:

Ob der EuGH in diesem Fall den Schlussanträgen der Generalanwältin – wie sonst häufig üblich – folgen wird, bleibt abzuwarten.

Klimaziele nicht als Individualrechte bewertet

Im Jahr 2021 hat der EuGH die europäischen Ziele zum Klimaschutz nicht als Individualrechte bewertet, aus denen einzelne EU-Bürger eine Klagebefugnis ableiten können. Der EuGH hatte eine Klage von zehn Familien aus der EU, Kenia und Fidschi auf Verpflichtung der EU zu strengeren Maßnahmen zum Klimaschutz mangels Klagebefugnis als unzulässig abgewiesen (EuGH, Urteil v. 25.3.2021, C-565/19).

EuGH hat Deutschland wegen Luftverschmutzung verurteilt

In einem weiteren Urteil hat der EuGH sich aber auch als Verfechter der EU-weiten Einhaltung der zulässigen Schadstoffwerte in der Luft erwiesen. Im Jahr 2021 hat der EuGH die Bundesrepublik Deutschland auf eine Klage der EU-Kommission hin wegen langjähriger Überschreitung der Stickstoffdioxidwerte in einer Reihe von deutschen Städten verurteilt und eine erhebliche Rechtsverletzung des Umweltrechts durch die Bundesrepublik festgestellt (EuGH, Urteil v. 3.6.2021, C-635/18).

Klima- und Luftreinhalteklagen weltweit auf dem Vormarsch

Weltweit sind Klagen gegen die Luftverschmutzung und gegen die negativen Folgen der Klimaveränderung auf dem Vormarsch. In einem viel beachteten Beschluss hat der EGMR die Klage von sechs portugiesischen Kindern gegen 33 Staaten wegen der Folgen klimaschädlicher Immissionen für zulässig erklärt und zur Entscheidung angenommen. Gleichzeitig hat der EGMR entschieden, dass dieser Klage wegen der Wichtigkeit und Dringlichkeit Priorität eingeräumt wird. Die Klage ist noch beim EGMR anhängig.

Schlagworte zum Thema:  EU-Recht, Schadensersatz, Gesundheit