Gerichte müssen wesentliches Parteivorbringen berücksichtigen

Berücksichtigt eine zivilgerichtliche Urteilsbegründung wesentliches Parteivorbringen nicht, liegt darin eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör und führt zur Aufhebung des Urteils. Es ging um eine außergerichtliche anwaltliche Tätigkeit in einer von einem Polizeifahrzeug verschuldete Verkehrsunfallsache.

Der VerfGH des Landes NRW hatte über die Verfassungsbeschwerde einer Rechtsanwältin zu entscheiden, die ein zivilgerichtliches Urteil wegen Mängeln in der Urteilsbegründung angriff. Die Anwältin sah ihr Recht auf rechtliches Gehör verletzt, weil das Urteil in seiner Begründung auf den wesentlichen Kern der von ihr in ihrer Klagebegründung vorgebrachten Argumente nicht einging.

Geklagt hatte der Geschädigte eines Verkehrsunfalls

Die Fachanwältin für Verkehrsrecht forderte vom Land NRW eine Gebührenzahlung in Höhe von etwas über 400 EUR für ihre außergerichtliche anwaltliche Tätigkeit in einer Verkehrsunfallsache. Im Auftrag ihrer Mandantin hatte sie Schadenersatz vom Land NRW gefordert. Der Verkehrsunfall war von einem Polizeifahrzeug des Landes schuldhaft verursacht worden. Die Verschuldensfrage war unstreitig.

Land NRW lehnt Erstattung der Anwaltsgebühren ab

Das Land NRW lehnte den Ersatz der entstandenen außergerichtlichen Anwaltskosten ab. Begründung: Die Sach- und Rechtslage sei dermaßen einfach und klar gewesen, dass die Einschaltung eines Rechtsbeistandes überflüssig gewesen sei. Das Land habe seine grundsätzliche Eintrittspflicht zu keinem Zeitpunkt bestritten.

Amtsgericht hielt Rechtsbeistand für überflüssig

Das Amtsgericht wies die daraufhin von der Anwältin (aus abgetretenem Recht) eingereichte Klage auf Erstattung der außergerichtlichen Anwaltsgebühren im schriftlichen Verfahren gemäß § 395 a ZPO ab. Das AG begründete die Entscheidung damit, dass in besonders einfach gelagerten Fällen, die weder rechtliche noch tatsächliche Schwierigkeiten aufwiesen, der Geschädigte grundsätzlich seine Rechte selbst geltend machen könne, ohne hierfür eines Rechtsbeistandes zu bedürfen. Mit der von der Anwältin zitierten Rechtsprechung des BGH setzte sich das AG nicht auseinander.

Anwältin erhob Anhörungsrüge

Hierauf erhob die Rechtsanwältin eine Anhörungsrüge gemäß § 321 a ZPO. Sie beanstandete, dass das AG ihre ausführlichen Ausführungen zur Rechtsprechung des BGH nicht berücksichtigt habe. So habe sie dezidiert dargelegt, dass der BGH den einfachen Schadensfall, bei dem keine rechtliche Begleitung erforderlich sei, als absolute Ausnahme betrachte. Sie habe das Grundsatzurteil des BGH hierzu auch ausdrücklich zitiert (BGH, Urteil v. 29.10.2019, VI ZR 45/19).

In diesem Urteil habe der BGH darauf hingewiesen,

  • dass Geschädigte nach einem Verkehrsunfall in der Regel hochspezialisierten Rechtsabteilungen der Haftpflichtversicherer gegenüberstünden
  • und auch bei geklärter Verschuldensfrage häufig nicht in der Lage sind, abzuschätzen, ob mit einer angemessenen Schadensregulierung unter Ersatz sämtlicher Schadenspositionen durch die Versicherung zu rechnen sei.

AG weist Anhörungsrüge zurück

Das AG wies die Anhörungsrüge als unbegründet zurück. Auf die Rechtsprechung des BGH ging das AG hierbei wie schon in dem zuvor ergangenen Urteil wiederum nicht ein. Hierauf reichte die Anwältin Verfassungsbeschwerde beim VerfGH NRW ein.

Recht auf rechtliches Gehör verletzt

Der VerfGH gab der Beschwerde statt und stellte fest, dass das Urteil des AG die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf rechtliches Gehör aus Art. 4 Abs. 1 der Landesverfassung NRW in Verbindung mit Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. Begründung: Das Urteil des AG habe sich in den Entscheidungsgründen mit dem Kernvorbringen der Beschwerdeführerin nicht auseinandergesetzt.

Gerichte müssen wesentliches Parteivorbringen berücksichtigen

Der VerfGH stellte klar, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß Art. 4 Abs. 1 der Landesverfassung NRW in Verbindung mit Art. 103 Abs. 1 GG ein Recht der Verfahrensbeteiligten statuiert, dass die Gerichte ihr Vorbringen zur Kenntnis nehmen und sich damit auseinandersetzen (VerfGH NRW, Beschluss v. 13.4.2021, VerfGH 24/21.VB-3).

Die Urteilsbegründung muss die maßgeblichen Entscheidungsgründe wiedergeben

Daraus folgt nach der Rechtsauslegung des VerfGH, dass die Urteilsgründe eine Auseinandersetzung mit den wesentlichen Darlegungen der Verfahrensbeteiligten erkennen lassen müssen, wobei aufgrund der grundsätzlich bestehenden richterlichen Freiheit das Urteil nicht zwingend eine Auseinandersetzung mit jedem unbedeutenden Nebenargument enthalten muss.

Zwingend sei allerdings die Auseinandersetzung mit dem erkennbaren Kern des jeweiligen Parteivorbringens (VerfGH NRW, Beschluss v. 12.5.2020, VerfGH 24/20.VB-2). Die Pflicht zur Berücksichtigung der Argumente der Beteiligten umfasse dabei sowohl das tatsächliche Vorbringen als auch Rechtsausführungen (BVerfG, Beschluss v. 27.2.2018, 2 BvR 2821/14).

Vereinfachtes schriftliches Verfahren entbindet nicht von der Begründungspflicht

Diese Grundsätze gelten nach Auffassung des VerfGH grundsätzlich auch für eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren gemäß § 495a ZPO. Bei einem Urteil im schriftlichen Verfahren dürfe der Richter sich zwar grundsätzlich kürzer als im Normalfall fassen, die Vorschrift befreie ihn aber nicht von der Begründungspflicht als solcher. Auch hier müsse das Urteil zumindest eine kurze Zusammenfassung der Erwägungen enthalten, auf denen die Entscheidung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht beruht.

Beschwerdeführerin in ihrem Recht auf rechtliches Gehör verletzt

Nach diesen Grundsätzen verletzte das von der Beschwerdeführerin angegriffene Urteil des AG die Beschwerdeführerin in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör. Maßgebliches Kernvorbringen der Beschwerdeführerin finde sich in dem Urteil des AG nicht wieder. In dem Urteil des AG finde sich kein einziger Satz, der auf eine Auseinandersetzung mit der von der Beschwerdeführerin in das Zentrum ihrer Klagebegründung gestellten Rechtsprechung des BGH hindeute.

Das AG muss erneut entscheiden

Der Gehörsverstoß ist nach der Entscheidung des VerfGH auch nicht im Anhörungsrügeverfahren geheilt worden. Auch die dort getroffene Entscheidung setzte sich trotz des ausdrücklichen Hinweises der Beschwerdeführerin auf den Gehörsverstoß wiederum nicht mit der Rechtsprechung des BGH auseinander. Da die angegriffene Entscheidung auf den Gehörsverstoß beruht, hat das der VerfGH das Urteil des AG aufgehoben und die Sache zur neuerlichen Entscheidung an das AG zurückverwiesen.

(VerfGH NRW, Beschluss v. 14.9.2021, VerfGH 137/21.VB-2)

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Schlagworte zum Thema:  Urteil, Rechtliches Gehör