BGH präzisiert Schutzpflicht von Pflegeheimen bei Demenzkranken

(Alten)pflegeheime haben besondere Schutzpflichten gegenüber an Demenz erkrankten Bewohnern bei erkennbarer Gefahr einer Selbstschädigung. Die Unterbringung im Obergeschoss mit leicht zugänglicher Fensteröffnung kann deshalb pflichtwidrig sein und eine Haftung begründen.

In einer Grundsatzentscheidung hat der BGH die Schutzpflichten einer Altenpflegeeinrichtung im Rahmen der Unterbringung eines an Demenz erkrankten Pflegeheimbewohners mit erkennbarer Selbstschädigungsgefahr näher definiert.

Demenzerkrankung mit Desorientiertheit

Der im Jahr 1950 geborene Ehemann der Klägerin lebte seit Februar 2014 in einem Pflegeheim.

  • Er war hochgradig dement,
  • litt unter Gedächtnisstörungen sowie
  •  unter starker psychisch motorischer Unruhe.
  • Zumindest temporär war er räumlich, zeitlich und situativ desorientiert.
  • Wegen nächtlicher Unruhe, damit einhergehender Sinnestäuschungen sowie plötzlich auftretender Lauftendenz und der damit verbundenen Selbstgefährdung stand er unter Sonderbetreuung.

Nicht gefährdungsgerechte Unterbringung des Bewohners

Die Leitung des Altenpflegeheims hatte den Betroffenen im dritten Obergeschoss in einem Zimmer untergebracht, das über zwei große, gegen unbeaufsichtigtes Öffnen nicht gesicherte Dachfenster verfügte. Die Unterkante der Fenster hatte eine Höhe von ca. 120 cm zum Fußboden. Davor befand sich eine Fensterbank in Höhe von ca. 70 cm sowie ein 40 cm hoher Heizkörper. Diese stufenförmige Anordnung machte es möglich, dass eine Person relativ problemlos wie über eine Treppe in die Fensteröffnung gelangen konnte.

Fenstersturz führte zum Tod

Am Nachmittag des 27. Juli 2014 stürzte der demenzkranke Ehemann der Klägerin aus einem der beiden Fenster. Er erlitt schwerste Verletzungen, an denen er nach mehreren Operationen im Oktober 2014 verstarb.

Witwe klagte auf auf Schmerzensgeld

Die Witwe des Verstorbenen verklagte die Betreiberin des Altenpflegeheims gem. §§ 253 Abs. 2 , 280 Abs. 1 und 823 Abs. 1 BGB auf Schmerzensgeld aus übergegangenem Recht. In den ersten beiden Instanzen hatte sie hiermit keinen Erfolg. Nach Auffassung von LG und OLG war die Betreiberin für den Sturz nicht verantwortlich. Dieser habe sich

  • in einem normalen, alltäglichen Gefahrenbereich ereignet,
  • der der eigenverantwortlichen Risikosphäre des Verstorbenen zuzurechnen sei.
  • Nach Auffassung der Gerichte war der Fenstersturz für die Pflegeleitung nicht vorhersehbar.

Heimbetreiber müssen ihre Bewohner vor Selbstgefährdung schützen

Dies sah der BGH völlig anders. Der Senat stellte klar, dass die Betreiber von Alten- und Pflegeheimen grundsätzlich die Pflicht trifft,

  • die ihnen anvertrauten Bewohner unter Wahrung ihrer Würde und ihres Selbstbestimmungsrechts
  • vor Gefahren für Leib und Leben so gut wie möglich zu schützen.

Besondere Sicherungspflichten bei temporär verwirrten Personen

Der Senat konzedierte, dass die Entscheidung über die Art und den Inhalt der zu treffenden Maßnahmen im Einzelfall nicht immer einfach sei. Die Achtung der Menschenwürde und des Freiheitsrechts eines körperlich und geistig beeinträchtigten Heimbewohners stehe häufig in einem Spannungsverhältnis zu einem möglichst hohen Schutz der körperlichen Unversehrtheit des Bewohners.

Wenn allerdings aus der „ex ante Sicht“ ernsthaft damit gerechnet werden müsse, dass der Bewohner sich ohne das Ergreifen entsprechender Sicherungsmaßnahmen selbst schweren Schaden zufügen könne, entstünden im Hinblick auf die bei temporär verwirrten Personen möglichen schweren Folgen besondere Sicherungspflichten der Heimverwaltung.

War die Selbstschädigung vorhersehbar?

Für den konkreten Fall folgerte der BGH hieraus, dass das Krankheitsbild des Betroffenen eine mögliche Selbstschädigung nicht als völlig unwahrscheinlich erschienen ließ. Die Unterbringung im Obergeschoss mit leicht erreichbaren und einfach zu öffnenden Fenstern, könne in einem solchen Fall ein Verstoß gegen die besonderen Sicherungspflichten der Heimbetreiberin darstellen.

Rechtsstreit an die Vorinstanz zurückverwiesen

Die Feststellungen der Vorinstanzen zum Krankheitsbild des Verstorbenen erschienen dem BGH allerdings als zu lückenhaft, um selbst zu einer Entscheidung zu gelangen. Der Senat verwies den Rechtsstreit daher an das OLG zurück mit der Auflage, die fehlenden Feststellungen zum Krankheitsbild - gegebenenfalls unter sachverständiger Beratung - nachholen und im Rahmen der Entscheidungsfindung die psychisch motorische Unruhe des Betroffenen, die zeitweise Desorientierung mit Sinnestäuschungen, seine noch vorhandene hohe Mobilität mit diffusen unkontrollierten Lauftendenzen zu berücksichtigen.

(BGH, Urteil v. 14.1.2021, III ZR 168/19).

Hintergrund: Sicherungsmaßnahmen der Pflegeheime

In den letzten Jahren ist eine starke Häufung der Klagen von Krankenkassen auf Regress wegen der durch Selbstverletzung und Stürze entstehenden Behandlungskosten gegen die Betreiber von Alten- und Pflegeheimen zu beobachten. Die Krankenkassen fordern umfassende Sicherungsmaßnahmen der Pflegeheime für Demenzkranke gegen Selbstgefährdung bis hin zu Fixierungen Betroffener im Bett. Bisher hat der BGH in seinen Entscheidungen das Recht der Pflegebedürftigen auf Wahrung ihrer Menschenwürde und ihres Selbstbestimmungsrechts betont und Sicherungsmaßnahmen wie die Anbringung von Bettgittern oder gar die Fixierung der Heimbewohner nur in extremen Ausnahmefällen für zulässig erachtet.

Der BGH sieht in der Regel in einer gesteigerten Beobachtung und Beaufsichtigung an Demenz erkrankter und verwirrter Personen sowie in der Unterbringung in geeigneten, eine Selbstgefährdung weitgehend ausschließenden Räumlichkeiten, das geeignete Mittel zum Schutz der Pflegebedürftigen, wobei der in der jeweiligen Heimsituation für die Heimleitung vertretbare personelle und finanzielle Aufwand zu berücksichtigen sei (BGH, Urteil v. 28.4.2005, III ZR 399/04).

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