Leitsatz

Bei der Entscheidung über Vollstreckungsschutz dürfen die Instanzgerichte die dem Schutz des Schuldners dienenden Maßnahmen nicht dem Gerichtsvollzieher überlassen. Vielmehr müssen sie selbst entscheiden, welche konkreten Maßnahmen zum Schutz des Schuldners erforderlich sind.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Normenkette

ZPO § 765a

 

Kommentar

Der 72-jährige ehemalige Eigentümer eines Wohnhauses ist aufgrund eines vollstreckbaren Titels verpflichtet, das Haus zu räumen und an den Vollstreckungsgläubiger herauszugeben. Der Gerichtsvollzieher hat Räumungstermin auf den 3.2.2012 bestimmt. Hiergegen hat der Räumungsschuldner Vollstreckungsschutz gem. § 765a ZPO beantragt, wobei er zur Begründung geltend macht, dass er bei Vollzug der Zwangsräumung suizidgefährdet sei. Nach einem vom Gericht eingeholten ärztlichen Sachverständigengutachten ist die "ernstliche Befürchtung der Selbsttötung ... krankeitsbedingt nicht auszuschließen". Gleichwohl hat das Gericht keinen Vollstreckungsschutz gewährt: Zum Zeitpunkt der ärztlichen Untersuchung habe jedenfalls keine Suizidgefahr bestanden. Ob sie im Falle des Vollzugs der Zwangsräumung bestehe, müsse der Gerichtsvollzieher und das dann zuständige Vollstreckungsgericht entscheiden.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat den Beschluss aufgehoben. Nach seiner Rechtsprechung müssen die Instanzgerichte bei der Entscheidung über den Vollstreckungsschutz nach § 765a ZPO auch die Wertentscheidungen des Grundgesetzes und die dem Schuldner in der Zwangsvollstreckung gewährleisteten Grundrechte berücksichtigen. Hierzu hat das BVerfG in dem grundlegenden Beschluss vom 3.10.1979 (1 BvR 614/79, NJW 1979 S. 2607) Folgendes ausgeführt:

"Eine entsprechend diesen Grundsätzen vorgenommene Würdigung aller Umstände kann in besonders gelagerten Einzelfällen dazu führen, dass zur Vermeidung unzulässiger Grundrechtsbeeinträchtigungen eines Schuldners die Vollstreckung aus einem rechtskräftigen Titel für einen längeren Zeitraum einzustellen ist. Dies gilt jedenfalls dann, wenn ein schwerwiegender Eingriff in das Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu besorgen ist. Führt eine Abwägung zwischen den widerstreitenden Interessen von Schuldner und Gläubiger zu dem Ergebnis, dass die der Zwangsvollstreckung entgegenstehenden, unmittelbar der Erhaltung von Leben und Gesundheit dienenden Interessen des Schuldners im konkreten Fall ersichtlich wesentlich schwerer wiegen als diejenigen Belange, deren Wahrung die staatliche Vollstreckungsmaßnahme dienen soll, so kann ein gleichwohl erfolgender staatlicher Eingriff das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und das Grundrecht des Schuldners aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verletzen ... Vor allem haben die Vollstreckungsgerichte in ihrer Verfahrensgestaltung die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, damit Verfassungsverletzungen durch Zwangsvollstreckungsmaßnahmen tunlichst ausgeschlossen werden."

Hier führt das BVerfG aus, dass die Instanzgerichte die dem Schutz des Schuldners dienenden Maßnahmen "nicht dem Gerichtsvollzieher überlassen" dürfen. Vielmehr müssen sie selbst entscheiden, welche konkreten Maßnahmen zum Schutz des Schuldners erforderlich sind.

 

Link zur Entscheidung

BVerfG, Beschluss v. 21.11.2012, 2 BvR 1858/12, NJW 2013 S. 290

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