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Hoheitsträgern und bestimmten Hilfsorganisationen billigt die Straßenverkehrsordnung gewisse Sonderrechte zur Wahrung öffentlicher, hoheitlicher Aufgaben zu. Geregelt wird dies in § 35 StVO. Die nachfolgende Darstellung setzt sich insbesondere mit den Absätzen 1, 5a und 8 auseinander und zeigt auf, was die Gewährung von Sonderrechten zivil- und ordnungswidrigkeitenrechtlich nach sich zieht. Da der Fahrer eines Sonderrechtsfahrzeugs grundsätzlich als privilegiert gilt, wirkt sich dies insbesondere haftungsrechtlich auf die Quote aus, oftmals auch zum Nachteil des Unfallbeteiligten.

A. Zivilrecht

I. Allgemeines

§ 35 Abs. 1 StVO befreit die dort explizit genannten Hoheitsträger und Hilfsorganisationen von den Vorschriften der StVO. Die Befreiung gilt indes nicht uneingeschränkt, sondern nur, soweit das zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben geboten ist.

Zu unterscheiden ist das Sonderrecht vom Wegerecht, § 38 StVO. Die Befreiung von Verkehrsvorschriften steht den Wegerechtsfahrzeugen auch beim Einschalten von Blaulicht und Einsatzhorn nur zu, wenn sie einem der in § 35 Abs. 1 StVO aufgeführten Hoheitsträger gehören.[1] Wichtig für das Verständnis der Vorschrift ist auch zu wissen, dass Fahrzeuge der Rettungsdienste (Krankenwagen), die auch unter § 38 StVO subsumiert werden können, nicht per se von den Verkehrsvorschriften befreit sind, sondern nur unter den Voraussetzungen des § 35 Abs. 5a StVO, also wenn höchste Eile geboten ist, um Menschenleben zu retten.[2] Dann fallen hierunter allerdings auch Fahrzeuge von Rettungsdiensten, deren Träger private Unternehmen sind.[3] Zu den Fahrzeugen von Rettungsdiensten gehören alle Fahrzeuge, die ihrer Bestimmung nach der Lebensrettung dienen.[4]

[1] Heß in: Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 23. Aufl. 2014, § 38 StVO, Rn 2.
[3] BGH, NJW 1991, 2954.
[4] Heß, a.a.O., § 35 StVO, Rn 9.

II. Begriffsbestimmungen

1. Befreiung und Einschränkung

Häufig problematisch ist in der Praxis insbesondere die Auslegung der Reichweite der Befreiung von den Verkehrsvorschriften, was sich z.B. auch auf eine Haftungsquote nach einem Verkehrsunfall auswirkt.

Der von den Verkehrsvorschriften Befreite hat grundsätzlich keine Vorrechte gegenüber den übrigen Verkehrsteilnehmern. § 35 StVO befreit nur von StVO-Pflichten, ändert die Verkehrsregeln und -gebote jedoch nicht.[5] Dies folgt unmittelbar aus § 35 Abs. 8 StVO, wonach die Sonderrechte nur unter gebührender Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgeübt werden. Der Umfang der Befreiung ist daher an § 35 Abs. 8 StVO zu messen, woraus schon gefolgert werden kann, dass die Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung bei Sonderrechtsfahrten nicht obsolet wird.[6] Vielmehr ist § 35 Abs. 1 StVO im Hinblick auf die mit der Wahrnehmung von Sonderrechten verbundenen erheblichen Gefährdungen (anderer Verkehrsteilnehmer) eng auszulegen und als Ausnahmevorschrift zu bezeichnen.[7] Vom Gericht wird deshalb auch die Feststellung der konkreten Umstände, die die Dringlichkeit der Dienstaufgabe im Verhältnis zu den Gefahren, die durch die Verletzung von Verkehrsvorschriften entstehen können, belegen, gefordert.[8] Konsequenz hieraus ist, dass der Berechtigte die Verkehrsregeln allenfalls mit größter Sorgfalt "missachten" darf.[9] Die dem Sonderrechtsfahrer obliegende Sorgfaltspflicht ist dabei umso größer, je mehr seine gegen die StVO verstoßende Fahrweise, die zu der zu erfüllenden hoheitlichen Aufgabe nicht außer Verhältnis stehen darf, die Unfallgefahr erhöht.[10] Es gelten der allgemeine Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und das Übermaßverbot. Hieraus folgt, dass stets derjenige Eingriff in die Verkehrsordnung zu wählen ist, der die Rechte anderer Verkehrsteilnehmer am geringsten beeinträchtigt.[11] Für den bevorrechtigten Verkehrsteilnehmer wird somit der Maßstab verkehrsgerechten Verhaltens sogar verschärft: Er muss der erhöhten Unfallgefahr, die durch das Abweichen von Vorschriften herbeigeführt wird, zusätzlich begegnen.[12]

Der Berechtigte darf also sein Sonderrecht erst wahrnehmen, wenn er sich sicher sein kann, dass ihm von anderen Verkehrsteilnehmern Vorrang eingeräumt wird und diese ihn wahrgenommen haben.[13] Ausreichend kann es beispielsweise sein, wenn der nach § 35 Abs. 5a StVO berechtigte Fahrer eines Sonderrechtsfahrzeugs erkennt, dass Fahrzeuge vor ihm Martinshorn und Blaulicht wahrgenommen haben, indem sie an den Straßenrand fahren, um ein schnelleres Vorbeikommen zu ermöglichen.

Der Fahrer eines Sonderrechtsfahrzeugs muss den sonst bevorrechtigten Verkehrsteilnehmern auch von sich aus zu erkennen geben, dass er Sonderrechte in Anspruch nimmt.[14] Dies ist konsequent, aber sicherlich dort schwierig, wo die Sonderrechtsfahrzeuge nicht als solche sofort zu erkennen sind. Deshalb ist es wichtig, dass das Sonderrechtsfahrzeug, wenn möglich, seine Sonderrechte nur nach Einschaltung von Blaulicht und Signalhorn wahrnimmt,[15] wobei anerkannt ist, dass die Sonderrechte auch dann greifen, wenn das Fahrzeug weder Blaulicht, noch Signalhorn eingeschaltet hat[1...

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