Hinweis

Kommt es im unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Ein- und Anfahren zu einer Kollision mit dem fließenden Verkehr, so spricht der Beweis des ersten Anscheins für ein Verschulden des Ein- bzw. Anfahrenden (KG, NZV 2008, 622; OLG München, NZV 1990, 394; OLG Köln, DAR 2006, 27; Quaisser, NJW-Spezial 2008, 745; Quaisser, NJW-Spezial 2012, 09). Hierbei kommt es nicht darauf an, ob das einfahrende Fahrzeug im Zeitpunkt der Kollision in Bewegung war oder stand (OLG Celle, NZV 2006, 309). Da von dem Ein- bzw. Anfahrenden ein Höchstmaß an Sorgfalt verlangt wird, tritt die Betriebsgefahr des sich im fließenden Verkehr befindlichen Fahrzeugs regelmäßig zurück (OLG München, NJW-RR 1994, 1442; KG, NJW-RR 2011, 26; OLG Hamm, NJW 2010, 3790).

 

Erläuterung:

Da der Anscheinsbeweis nur in Betracht kommen kann, wenn ein Sachverhalt feststeht, bei dem der behauptete ursächliche Zusammenhang und/oder das behauptete Verschulden typischerweise gegeben sind, d.h. ein typischer Geschehensablauf feststeht (vgl. zum Anscheinsbeweis, von Pentz, Schriftenreihe der ARGE Verkehrsrecht, Homburger Tage 2011, S. 7 ff.), ist vorliegend von Relevanz, wann von einem unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang auszugehen ist. Einige Gerichte beantworten die Fragen nach dem Zusammenhang durch Angabe einer konkreten Fahrstrecke, die der Ein- bzw. Anfahrende mindestens zurückgelegt haben muss. Das LG Berlin (zfs 2004, 448) hält eine Fahrstrecke von 10–20 m hierbei für noch nicht ausreichend, um von einer Integration des Ein- bzw. Anfahrenden in den fließenden Verkehr auszugehen. Das OLG Bremen (Urt. v. 31.8.1988 – 3 U 66/88, veröffentlich bei juris) und das OLG Köln (VersR 1986, 666) gehen davon aus, dass bei einer Fahrstrecke von 10–15 m ein räumlicher und zeitlicher Zusammenhang mit dem Verlassen eines Parkstreifens noch zu bejahen sei. Das OLG Celle (SP 1993, 3) geht davon aus, dass ein Zusammenhang noch besteht, wenn beim Anfahren vom Straßenrand bis zur Unfallstelle 39 m zurückgelegt wurden. Das OLG Saarbrücken (Urt. v. 27.8.1998 – 3 U 694/97, veröffentlicht bei juris) hält für einen Unfall auf der Autobahn, bei dem ein Verkehrsteilnehmer vom Standstreifen aus angefahren war und eine Strecke von 35–40 m zurückgelegt hatte, als es zur Kollision kam, den nötigen Zusammenhang ebenfalls noch für gegeben. Für andere Gerichte sind konkrete Meterangaben und Fahrstrecken nicht entscheidend. Diese lassen es darauf ankommen, dass sich der Einfahrende "endgültig in den fließenden Verkehr eingeordnet" (KG, VRS 112, 332 und VRS 113, 33; OLG Köln, DAR 2006, 27) bzw. sich "ununterscheidbar in den fließenden Verkehr integriert" haben muss (LG Berlin, SP 2002, 197). Der Vorgang des Ausfahrens aus einem Grundstück dauere solange an, bis der Ausfahrende "in zügiger Fahrt selbst zum fließenden Verkehr gehört oder sein Fahrzeug verkehrsgerecht am Fahrbahnrand oder an anderer Stelle abgestellt hat" (OLG Düsseldorf, VersR 1981, 754).

Für den Ein- und Anfahrenden gelten gesteigerte Sorgfaltspflichten. Die Wendung "ausgeschlossen" bedeutet, dass dem Ein- und Anfahrenden das Äußerste an Sorgfalt, insbesondere gegenüber dem fließenden Verkehr, auferlegt wird. Der fließende Verkehr darf im Allgemeinen auf seinen Vorrang vertrauen. Dies führt grundsätzlich dazu, dass von einer Alleinhaftung des Ein- bzw. Anfahrenden auszugehen ist. Dieser muss auch mit Verkehrsverstößen des fließenden Verkehrs in gewissem Maße rechnen, wie etwa Geschwindigkeitsüberschreitungen, Benutzung der linken Fahrbahnseite oder Fahrstreifenwechsel. Hier ist jedoch regelmäßig eine Mithaftung des sich im fließenden Verkehr befindlichen Fahrzeugs anzunehmen (siehe zu verschiedenen Einzelfällen Quaisser, NJW-Spezial 2012, 9).

Autor: Andy Ziegenhardt

Andy Ziegenhardt, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verkehrsrecht, Erfurt

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