Die abgedruckte Entscheidung befasst sich mit einem Alltagsproblem: Der VN erleidet einen Kaskoschaden. Er zeigt ihn dem VR an. Der VR beauftragt einen SV mit der Bewertung. Nach einer gewissen Zeit veräußert der VN, der die Begutachtung des SV nicht kennt, das beschädigte Kfz zu einem Restwert, der unterhalb des von dem SV geschätzten Wertes liegt. Daraufhin wendet der VR vollständige oder teilweise Leistungsfreiheit ein. Versicherungsvertraglich sind mehrere Fragen zu unterscheiden:

1. Zunächst muss der VR eine Obliegenheitsverletzung des VN beweisen. Sie kann objektiv darin bestehen, dass der VN es versäumt hat, vor einer Verwertung Weisungen des VR einzuholen und zu befolgen (AKB 2008 E 3.2.). Rspr. und Rechtslehre vertreten allerdings zu Recht die Auffassung, dass der "Einholungsobliegenheit" schon mit der Schadensanzeige Genüge getan ist. Der VR darf sich nach Eingang der Schadensanzeige mit der Erteilung einer Weisung keine Zeit lassen. Zwar mag mit der "Einholungsobliegenheit" eine "Abwarteobliegenheit" verbunden sein. Die angefochtene Entscheidung nennt als zumutbare Zeit des Zuwartens "wenige Tage". Das ist richtig. Im Streitfall war zwischen der Schadensanzeige (13.9.) und der Begutachtung (16.9.) einerseits und der Veräußerung andererseits (31.10.) indessen ein Zeitraum von mehr als einem Monat vergangen.

2. Die Verletzung der Obliegenheit muss vertraglich sanktioniert sein. Daran fehlte es offenbar im Streitfall. In den AKB 2008 findet sich eine Sanktion indessen in E 6.1. Da die jeweils verwendeten AVB offenbar unterschiedliche Sanktionsregeln kennen, muss die anwaltliche Beratung darauf Bedacht nehmen.

3. Die Entscheidung wirft nicht die Frage auf, ob sich die Leistungsfreiheit oder ein Leistungskürzungsrecht aus der – von der Verletzung der in AKB 2008 E 3.2. enthaltenen Obliegenheit zu trennenden – Verletzung der gesetzlichen Schadenminderungsobliegenheit des § 82 Abs. 1, 3 VVG ergeben können. Dann müsste von einem kaskoversicherten VN zu erwarten sein, ein möglichst günstiges Restwertangebot selbst (!) zu beschaffen. Eine solche Obliegenheit kann nur im Ausnahmefall angenommen werden. Dabei gilt es nämlich zunächst zu bedenken, dass mit der dem VN bekannten Begutachtung durch einen Sachverständigen des VR dieser gewissermaßen die Verantwortung für die Wertermittlung übernommen hat. Das erlaubt dem VN gewiss keine Willkür – die Veräußerung des beschädigten Kfz zu einem unrealistischen Spottpreis zu Lasten des VR – wenn Weisungen des VR ausbleiben. Aber: Von einem VN kann zweifellos auch nicht erwartet werden, umfangreiche Recherchen anzustellen, auf eigene Kosten einen SV zu beauftragen (§ 85 Abs. 2 VVG) oder Anzeigen zu schalten. Daher dürfte die Grenze, deren Überschreitung eine Obliegenheitsverletzung indiziert, dort liegen, wo der erzielte Preis bei einem durchschnittlich verständigen VN Argwohn erweckt haben muss. Von einem VN, der von der sachverständigen Begutachtung weiß, kann auch nicht ohne Weiteres verlangt werden nachzufragen, ob dem SV des VR "bessere" Restwertangebote vorliegen. Das wird er nicht erwarten; es würde auch konterkarieren, dass der VN mit der Schadensanzeige zunächst alles getan hat, was der VR von ihm verlangen darf.

4. Ist eine Obliegenheitsverletzung anzunehmen, ist nicht nur von Bedeutung, ob der VR Vorsatz nachweisen oder der VN sich von grober Fahrlässigkeit entlasten kann (§ 28 Abs. 2 VVG), sondern vor allem, ob der VN den Kausalitätsgegenbeweis führen kann. Dabei gilt es zu beachten, dass der Kausalitätsgegenbeweis sich in solchen Fällen von vornherein auf die Differenz zwischen dem erzielten Restwerterlös und dem (obliegenheitsgemäß also zumutbar) erzielbaren bezieht, eine Leistungskürzung also nur "insoweit" erfolgen darf. Im Streitfall wären dies daher (allenfalls) 5.240 EUR (geschätzter Restwert 25.740 EUR, erzielter Restwert 20.500 EUR) gewesen, wahrscheinlich aber deutlich weniger, weil dem VN von vornherein nicht angesonnen werden konnte, das sachverständig ermittelte Restwertangebot zu beachten.

Prof. Dr. Rixecker

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