Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 20 21 Abs. 1 26; Richtlinie 2006/126/EG in der Fassung der Richtlinie 2009/113/EG Anhang III Nr. 6.4; FeV § 12 Abs. 6 § 20 Abs. 1 S. 1 § 74 Abs. 1 § 76 Nr. 9, Nr. 11a; FeV Anlage 6 Nr. 2

Leitsatz

Nach einer Entziehung der Fahrerlaubnis der Klasse 3 alten Rechts hat der Betreffende, dessen Sehschärfe auf dem schlechteren Auge unter 0,1 liegt, auch dann keinen Anspruch auf Erteilung der Fahrerlaubnis der Klassen C1 und C1E, wenn er auf beiden Augen über ein normales Gesichtsfeld verfügt und das fehlende räumliche Sehvermögen kompensieren kann.

BayVGH, Urt. v. 14.1.2015 – 11 BV 14.1345

Sachverhalt

Gegenstand des Rechtsstreits ist die Frage, ob der Kl. trotz seines reduzierten Sehvermögens die Erteilung der Fahrerlaubnis der Klassen C1 und C1E verlangen kann.

Wegen einer Trunkenheitsfahrt entzog das AG S. dem Kl. mit Strafbefehl v. 30.3.2010 die Fahrerlaubnis der Klassen 1 und 3 alten Rechts. Mit Bescheid v. 2.11.2010 erteilte das Landratsamt S. (im Folgenden: Landratsamt) dem Kl. nach Ablauf der Sperrfrist die Fahrerlaubnis der Klassen A, A1, BE, M, L und S. Die vom Kl. außerdem beantragte Erteilung der Fahrerlaubnis für die Klassen C1 und C1E lehnte das Landratsamt ab, da beim Kl. nach dem Ergebnis einer augenärztlichen Untersuchung v. 16.6.2010 Einäugigkeit vorliege und er somit die für diese Klassen erforderlichen Mindestanforderungen an das Sehvermögen nicht erfülle.

Nach Zurückweisung des hiergegen erhobenen Widerspruchs durch Widerspruchsbescheid der Regierung der Oberpfalz v. 16.3.2011 ließ der Kl. beim VG Regensburg Klage erheben und beantragen, den Bekl. zur Erteilung der Fahrerlaubnis der Klassen C1 und C1E zu verpflichten. Mit Urt. v. 20.6.2011 hat das VG die Klage abgewiesen. Für die Fahreignung und somit auch für die Anforderungen an das Sehvermögen seien die im Zeitpunkt der Neuerteilung geltenden Vorschriften maßgeblich. Der Kl. verfüge auf seinem schlechteren rechten Auge nicht über die erforderliche Mindestsehschärfe. Auf die Regelung für Inhaber einer bis zum 31.12.1998 erteilten Fahrerlaubnis, die sich mit geringeren Anforderungen an das Sehvermögen begnüge, könne er sich nicht berufen. Ein etwaiger Bestandsschutz sei mit der rechtmäßigen Entziehung der Fahrerlaubnis entfallen.

Mit der vom VG zugelassenen Berufung verfolgt der Kl. sein Begehren weiter. Zur Begründung lässt er vortragen, seine Eignung zum Führen von Fahrzeugen der Klassen C1 und C1E sei nach Nr. 2.2.3 der Anlage 6 zur FeV in der bis 30.6.2011 geltenden Fassung zu beurteilen. Inhaber einer Fahrerlaubnis im Sinne dieser Regelung sei auch derjenige, der sich – wie der Kl. – nach vorangegangener Entziehung innerhalb von zwei Jahren um erneute Erteilung bewerbe. Der Verordnungsgeber habe Bestandsschutz für eine nur kurzfristige Entziehung der Fahrerlaubnis gewähren wollen. Eine Ungleichbehandlung des Kl. gegenüber anderen Altfällen mit vergleichbarer Beeinträchtigung des Sehvermögens sei nicht gerechtfertigt. Auch europarechtlich sei es geboten, für die Erteilung der Fahrerlaubnis auf die für Altfälle geltenden Voraussetzungen abzustellen.

Der BayVGH hat durch Einholung zweier Sachverständigengutachten Beweis hinsichtlich des Sehvermögens des Kl. und etwaiger Kompensationsmöglichkeiten erhoben.

Des Weiteren hat der BayVGH dem EuGH mit Beschl. v. 5.7.2012 die Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt, ob Nr. 6.4 des Anhangs III der Richtlinie 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.12.2006 über den Führerschein (ABl L 403 S. 18) in der Fassung der Richtlinie 2009/113/EG der Kommission v. 25.8.2009 (ABl L 223 S. 31) insoweit mit Art. 20, 21 Abs. 1 und 26 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vereinbar ist, als diese Vorschrift – ohne die Möglichkeit einer Ausnahme vorzusehen – von Bewerbern um eine Fahrerlaubnis der Klassen C1 und C1E auch dann eine Mindestsehschärfe von 0,1 auf dem schlechteren Auge verlangt, wenn diese Personen beidäugig sehen und auf beiden Augen über ein normales Gesichtsfeld verfügen. Auf die hierzu ergangene Entscheidung des EuGH v. 22.5.2014 (C-356/12, Ls. vorstehend) wird verwiesen.

2 Aus den Gründen:

" … Die zulässige Berufung, über die der Senat im Einverständnis der Verfahrensbeteiligten ohne weitere mündliche Verhandlung entscheiden konnte (§ 101 Abs. 2, § 125 Abs. 1 S. 1 VwGO), hat in der Sache keinen Erfolg. Der Kl. erfüllt nicht die Anforderungen der FeV v. 18.12.2010 (BGBl I S. 1980), zuletzt geändert durch Verordnung v. 16.12.2014 (BGBl I S. 2213), an das Sehvermögen für die begehrte Erteilung der Fahrerlaubnis der Klassen C1 und C1E."

1. Bei einer Verpflichtungsklage, mit der ein Anspruch auf (Wieder-)Erteilung einer Fahrerlaubnis verfolgt wird, ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung maßgeblich (st. Rspr., vgl. nur BVerwG, Urt. v. 12.7.2001 – 3 C 14.01 – [zfs 2002, 46 =] BayVBl 2002, 24; BayVGH, Urt. v. 7.5.2001 – 11 B 99.2527 – BayVBl 2002, 116). Die Frage, ob dem Kl. ein Rechtsanspruc...

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